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IX.

Friedrich Hild stürzte draußen über den Balcon und stieg so rasch, wie ihm die Dunkelheit erlaubte, die steinernen Stufen hinab. Als er ungefähr auf der Mitte derselben angekommen war, sah er plötzlich eine dunkle Gestalt am Fuße derselben auftauchen. Einen Augenblick stutzte er bei diesem Anblick – aber nur einen Augenblick – in seiner jetzigen Stimmung waren ihm dunkle Erscheinungen sehr gleichgültig, auch wenn sie, wie diese da, anscheinend drohend herantraten, den einen Fuß auf die unterste Stufe der schmalen Treppe setzten und mit untergeschlagenen Armen ihn erwarteten.

Er dachte im ersten Moment an den Menschen, welchen er vorhin im verdächtigen Zwiegespräch mit dem jungen Mädchen getroffen. Deshalb faßte er nach dem Griff des Stilets, das er in seiner Brusttasche trug.

Die Gestalt blieb in ihrer Stellung, als er, unten angekommen, dicht vor ihr war.

Er konnte jetzt wahrnehmen, daß er einen schlankgebauten Mann in modischer Tracht, an dem nichts Räuberhaftes war, vor sich hatte.

»Macht Platz!« sagte er.

»Nicht eher, als bis Sie mir Rede gestanden«, antwortete heftig eine helle, etwas heisere Stimme.

»Ich? Ihnen Rede gestanden? Wer sind Sie?«

Der Mann erhob seine Stimme, als er statt der Antwort zornig die Fragen hervorsprudelte:

»Woher kommen Sie so spät … was thaten Sie in meinem Hause? … Geben Sie mir Rechenschaft … es ist die Stunde der Diebe und der … Verführer!«

»Graf Brechtal?« sagte Friedrich Hild, ohne sich durch diese Begegnung und diese drohende Anrede aus der Fassung bringen zu lassen.

»Reden Sie!« versetzte die Gestalt herrisch.

»Ich hatte ein Recht, so spät in Ihrem Hause zu sein, Herr Graf«, versetzte Friedrich trocken, »und ich that nichts Unrechtes darin – ich bitte, mir den Weg offen zu lassen.«

»Und wer gab Ihnen das Recht?« fuhr der Graf im Tone steigenden Zorns auf … »wer gab es Ihnen?«

»Die Gräfin gab es mir!« versetzte Friedrich, auf den den Abend hindurch zu viel eingestürmt war, als daß er sich in die Bedeutung der ganzen Scene finden konnte.

»Die Gräfin – – meine Frau?« rief der Graf in einem Tone verbissenen Hohnes. »Sie sind wenigstens sehr aufrichtig.«

»Aufrichtig? Haben Sie erwartet, ich werde Ihnen eine Lüge sagen?«

»Frecher Mensch!« rief der Graf – »das ist eine Unverschämtheit, wie sie mir noch nicht vorgekommen. Ich werde Sie dafür zu züchtigen wissen.«

»Wahrhaftig, ich begreife diese Sprache nicht!« fiel Friedrich ein – »aber ich bin darum nicht geneigt, sie mir gefallen zu lassen. Sie werden mir Genugthuung dafür geben. Und jetzt werden Sie mir den Weg frei lassen oder ich werde mir ihn frei machen!«

Friedrich machte eine drohende Bewegung mit dem Arme.

»Selim, Selim!« rief der Graf heftig … aber er trat unwillkürlich zur Seite und ließ den Maler vorüber. Selim trat aus dem Schatten der Mauer, einige Schritte hinter dem Grafen, wo er sich verborgen gehalten, hervor.

»Sie werden von mir hören!« knirschte der Graf hinter dem Abgehenden drein.

»Antworten Sie nicht mehr, reizen Sie ihn nicht mehr«, flüsterte Selim, dicht an Friedrich herantretend, ihm zu. »Kommen Sie, ich will Sie hinausbegleiten, kommen Sie rasch!«

Friedrich ging ohnehin hastig genug. Sie waren sehr bald um die Ecke des Gebäudes gekommen.

»Was zum Teufel bedeutete das?« rief Friedrich aus. »Ist Euer Herr ein Narr?«

»Nun, wie man's nimmt«, versetzte Selim mit leisem Auflachen. »Es kommt vor, daß argwöhnische Männer die Schritte ihrer Frau belauschen und sich wie Narren betragen, wenn sie sie um Mitternacht in einem Tête-à-Tête mit einem angenehmen jungen Künstler oder dergleichen entdecken.«

»Der Elende!« rief hier Friedrich Hild entrüstet aus; er hatte, was Selim so sicher und einfach als den Grund der Scene angab, sich gar nicht einfallen lassen. – »Der Elende!« wiederholte er.

Selim schritt vor ihm her über den Hof; am Thore angekommen, zog er einen Schlüssel hervor und öffnete es, um Friedrich hinauszulassen.

»Man hat es also unterdeß geschlossen – wohl um mich einzufangen«, dachte dieser. Er ging mit einem trockenen: »Gute Nacht!« an Selim vorüber und davon, seiner Wohnung zu.

Als er hier angelangt war, warf er sich angekleidet auf sein Bett und machte seiner Stimmung dadurch Luft, daß er einen lauten Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung ausstieß. Er wäre erstickt, hätte er es nicht können. Er war in einem unbeschreiblichen Zustande. Er war völlig außer sich. Er fühlte sich aufs Aeußerste gedemüthigt. Er hatte das Entgegenkommen Charlottens wie ein eitler Thor ausgelegt. Welch anderen Sinn hatte es gehabt! Er war aufs Bitterste gekränkt in seiner Liebe; er fühlte sich zurückgestoßen – verachtet – verrathen – war es nicht abscheulich, daß Charlotte seinen Brief der Gräfin gegeben? Das wenigstens hätte sie nicht thun sollen – nicht ihn bloßstellen dieser Frau gegenüber, die er deshalb haßte, die schon deshalb bei Allem, was sie ihm gesagt, vom ersten Worte an auf seine Voreingenommenheit gestoßen war.

»Diese Vornehmen! Diese kraß egoistische Rasse!« sagte er sich. »Eine nervenschwache, verwöhnte große Dame darf nicht erleben, was nur gewöhnlichen Menschen zustoßen darf. Wenn ihr ein Kind stirbt, so ist das ein Mißgriff unseres lieben Herrgotts, den man zu vertuschen sucht. Und deshalb muß meine Mutter das ihrige hergeben! Meine arme, arme Mutter! Arme geopferte Frau! Und mir, mir hat man nicht einmal vergönnt, ein Bild von ihr in der Seele zu tragen! Nicht ein Schimmer von ihrem armen, lieben, bleichen Gesichte ist mir als Mitgift ins Leben mitgegeben worden! Wie mag dieser gewissenlose Graf seine Gewalt über seinen unglücklichen Pächter mißbraucht haben, um dessen Verlangen nach einem Kinde niederzuhalten! Und mich, mich hat man als unmündigen Knaben zu etwas wie einem Betrüger, zu einer lebendigen Lüge gemacht! Und dann wirft man mich, sobald man meiner nicht mehr bedarf, zur Thür, ins Leben hinaus, wie einen jungen Pudel ins Wasser: da, sieh, wie du durchkommst, schwimm! Ruchlose Menschen! Wie besorgt der hochselige Herr Graf war, daß ich mich an ihn drängen würde! Wie besorgt, sich keinen lästigen Bettler zu schaffen! Darum wird mir nicht einmal meines armen Vaters ehrlicher Name gelassen! Beim lebendigen Gott, ist je etwas Empörenderes geschehen! Und nun, nun erfaßt diese Frau Gräfin die Neugier. Sie ist zwar auch vorsichtig und besonnen, wie der Herr Papa. Sie will erst wissen, ob es nicht gefährlich ist, sich mit einem Menschen wie mir einzulassen. Aber sie möchte doch sehen, was aus dem Knaben geworden ist, der einmal wie ihr Bruder im Hause ihres Vaters lebte … sie möchte ein wenig Nahrung für ihr Selbstgefühl, ein wenig Befriedigung für ihren Hochmuth, ein wenig Selbstbewunderung haben, indem sie sich zu dem Künstler herabläßt und so edelherzig Wohlthaten über ihn ausschüttet, während sie doch eigentlich nicht die mindeste Verpflichtung gegen ihn hat; sie will …«

Friedrich sprang, sich unterbrechend, wieder von seinem Lager auf, stampfte heftig mit dem Fuße auf den Boden und lief dann in dem Dunkel der dämmerigen Nacht wie ein Rasender auf und ab.

»Aber was sie will, das will ich nicht!« fuhr er dabei fort. »Sie hat sich den unrechten Mann ausgesucht. Ich denke, für meine armen Eltern und für mich ist Elend und Schmerz genug entstanden aus der Berührung mit diesen Gräflichkeiten. Ich will nichts mehr mit ihnen zu schaffen haben. Es ist vollkommen genug. Ich bedarf ihrer nicht. Verachten würde ich mich, wenn ich einen Heller von ihnen nähme. Ich will nichts von ihnen, gar nichts als Genugthuung von diesem elenden Grafen, von dieser niedrig denkenden Jammerseele. Und dann will ich nichts mehr hören noch sehen von der ganzen unseligen Geschichte. Ich gehe, ich schnüre mein Bündel und ziehe nach Olevano oder nach Nemi. Aber ich werde an Watler schreiben müssen, daß er herüberkommt und mir bei dem Duell mit dem Grafen secundiert. Das will ich gleich thun.«

In der That, er zündete sein Licht an und schrieb sofort einige Zeilen an den Freund in Rom, den er bat, Waffen mitzubringen; sein Stilet war die einzige, die er besaß. Dann warf er sich wieder nieder und fiel endlich gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer, aus dem er spät erwachte. Die aufgeregte, zornige, bittere Stimmung, die Empörung der Nacht war vorüber und hatte einer großen Niedergeschlagenheit Platz gemacht.

Er sann noch einmal über Alles nach, was geschehen. Er rief sich jedes Wort, das Charlotte zu ihm gesprochen, zurück; ihr ganzes Wesen stand vor ihm; er schaute in ihr stilles, tiefes, eigenthümliches Auge, und der Gedanke, daß er sich in Allem und Jedem getäuscht haben, daß er für ewig auf seinen Glückstraum verzichten, daß er so einsam und heimatlos weiter leben, daß er ohne sie leben solle, war ihm furchtbar, unerträglich. Er erfüllte ihn mit einem ganz unbeschreiblichen Schmerze. Sich still darein fügen, war ihm unmöglich.

Und weshalb sollte er das auch? Weshalb sollte er annehmen, daß er nie und nimmer Charlottens Neigung gewinnen könne, wenn er sich auch in der Annahme getäuscht hatte, er habe sie bereits gewonnen? Konnte er sie nicht durch längeres Werben erobern? Konnte er nicht suchen, nach und nach ihr Herz zu rühren? Verdiente dieses Herz nicht, durch langes, treues Mühen erworben zu werden?

Aber freilich, das war unmöglich, er hätte dann die Verbindung mit dieser Familie, die er haßte, die er fliehen wollte, fortsetzen müssen … und das, schien ihm, wäre eine Schmach für ihn gewesen, das wollte er nicht, das ging ja auch schon des tollen Grafen wegen nicht an!

Konnte er sich Hoffnungen machen, daß er Charlotte von Zeit zu Zeit allein sehen werde? Es war keine Aussicht, keine Gelegenheit dazu da … höchstens am Morgen ein oder ein anderes Mal, wenn sie, wie zuweilen geschah, zur Kirche ging. Er war ihr früher schon auf einem solchen Gange begegnet, ohne damals des verschleierten jungen Mädchens achten. Vielleicht war es heute noch möglich – er durfte dann freilich keine Zeit verlieren, denn die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel.

Friedrich sprang auf und warf sich in die Kleider – dann eilte er, ohne Donna Teresa's aufgetragenes Frühstück zu beachten, zu seiner Wohnung und zur Villa hinaus. Draußen schlug er den Weg links nach unten, in die Stadt hinab ein. Als er auf den schräg abfallenden Platz vor der Campana gekommen, sah er Charlotte langsam wandelnd vom Marktplatze her sich entgegenkommen, einen blauen Schleier vor dem Gesicht, ein Gebetbuch in der Hand.

Friedrich stockte der Athem, als er sie erblickte, und als er sich ihr näherte und sie anredete, wußte er kaum, was er sagte, er wußte nur, daß es sehr verwirrt war und sehr stockend heraus kam.

»Es freut mich, daß ich Sie sehe, daß ich Ihnen begegne«, sagte er … »ich wünschte es so! Ich wollte Sie um einen Augenblick Gehör bitten … damit ich Ihnen ein paar Worte, ein paar Worte und weiter nichts, sagen könne, weiter will ich nichts, Sie brauchen nicht zu erschrecken …«

Es war in der That so, als sei Fräulein Charlotte über Friedrichs rasches Herantreten und seine Worte ein wenig erschrocken.

»Ich habe Ihnen einen Brief zu schreiben gewagt – eine Bitte … wenn eine Dame eine solche Bitte nicht erfüllt, dann, glaub' ich, kann man annehmen, sie ist erzürnt oder wenigstens verletzt – und das, Fräulein Charlotte, würde mir in der Seele leid thun … Sie haben meinen Brief Ihrer Gräfin gegeben –«

»Durfte ich das nicht?« fragte Fräulein Charlotte, die aus Friedrichs seltsamer Weise, seiner brüsken Art, die Worte hervorzustoßen, abnahm, daß er ihr Vorwürfe machen wolle. »Die Gräfin hat mit Ihnen geredet, Sie wissen also am Besten jetzt selbst, wie sehr sie mir ihr Vertrauen schenkt; und wie verpflichtet ich dadurch war, ihr wieder zu vertrauen und keine Geheimnisse in dieser Angelegenheit zu haben.«

»Gewiß, gewiß«, fiel Friedrich schwer aufathmend ein – »die Gräfin hat mit mir gesprochen – ich weiß Alles, Alles …«

»Und ich sehe Sie nicht strahlend vor Glück?«

»Ich … strahlend vor Glück?« rief Friedrich stürmisch aus – »nein, im Gegentheil, ich bin sehr unglücklich – die ganze Angelegenheit berührt mich nicht im Mindesten; aber ich bin unglücklich, daß sie an mich herangetreten ist; ich habe dadurch Sie kennen lernen, Fräulein Charlotte, und es sind in mir Hoffnungen, Wünsche, Voraussetzungen geweckt worden, die zu hegen wohl sehr thöricht war, die ich aber … was wollen Sie … nun einmal gehegt habe!«

Friedrich sagte das sehr offen heraus. Es war sehr thöricht von ihm, es so offen und rund heraus zu gestehen. Das junge Mädchen hörte wieder einen Vorwurf aus dieser Sprache, der in hohem Grade ihren jungfräulichen Stolz empörte.

»Wenn Sie damit sagen wollen, ich habe Ihnen Veranlassung gegeben, mein Betragen zu mißdeuten, so würde mich das sehr erschrecken und mich tief bereuen lassen, so schnell und unbefangen auf den Wunsch der Gräfin eingegangen zu sein«, erwiederte sie.

»O, nicht das wollte ich sagen!« rief er aus. »Aber der Irrthum, in den ich verfiel, war doch sehr verzeihlich –«

»Ich weiß nicht ganz«, unterbrach ihn Charlotte. »Je mehr Sie behaupten, er sei natürlich, verzeihlich gewesen, desto beleidigender ist es für mich … desto mehr sehe ich, daß Sie eine Meinung von mir, von meinem Charakter hatten, die mich verletzen muß.«

»Das wollte ich ja nicht sagen!« rief Friedrich aus, in Verzweiflung darüber, daß das Gespräch eine so ganz andere Richtung nahm, wie er ihm geben wollte und nicht zu geben verstand – »das wollte ich ja nicht sagen –«

»Aber Sie haben es gesagt und ich habe Sie vollkommen verstanden. Ich kann Ihnen nur antworten, daß ich mich dadurch gekränkt fühle, kann aber nicht einräumen, daß ich diese Kränkung verdient habe. Es ist wohl nicht nöthig, daß wir weiter darüber viele Worte verlieren. Hier sind wir am Eingang Ihrer Villa. Was Sie vorhin sagten, die Geschichte der Gräfin berühre Sie nicht – sagten Sie nicht so?«

»Ja – es ist Alles, Alles ein Unsinn … eine Sache, die ich von mir abweisen muß.«

»Das kann nicht möglich, das kann nicht Ihr Ernst sein!« fiel Charlotte offenbar mit wärmstem Eifer ein.

»Sie werden sehen, daß es mein Ernst ist!« rief Friedrich aus. »Aber reden wir nicht mehr davon, sondern lieber von uns, geben Sie mir nur noch wenige Minuten, um Ihnen zu sagen, daß ich mein ganzes, ganzes Glück, meine ganze Zukunft auf den Gedanken gebaut habe …«

Er hatte plötzlich nicht mehr den Muth, fortzufahren. Sie sah ihn plötzlich so groß, so kühl an. Er fühlte, daß, je leidenschaftlicher er sie versicherte, er habe all sein Lebensglück und alle seine Hoffnungen auf die Auslegung gebaut, die er ihrer Zuvorkommenheit gegeben, desto beleidigter sie sich fühlen werde.

Und während er so rathlos verstummte, verbeugte sie sich zum Abschied und wandte sich von ihm ab.

»Fräulein« – stieß er nun in Verzweiflung hervor – »Sie müssen mich noch einmal anhören … Sie müssen mir gestatten, Sie noch einmal zu sehen …«

Friedrich rief diese Worte in einem so erschütternden Tone der Leidenschaft aus, daß Charlottens Gestalt zusammenzuzucken schien; aber sie hatte sich bereits halb fortgewandt, sie riß jetzt wie in ängstlicher Hast den blauen Schleier, den sie vorhin zurückgeschlagen, vors Gesicht und schritt so eilig davon, als ob sie flüchten wolle – nach wenig Augenblicken war sie um die Windung der Mauer verschwunden.

Sie athmete tief auf, als sie durch das Thor der Villa Falconieri trat und eilte, in ihr kleines Wohnzimmer zu kommen. Hier setzte sie sich still auf das Sopha, ohne ihren Ueberwurf abzulegen, senkte die Hände, die noch das Gebetbuch hielten, in den Schooß und die Blicke zu Boden und blieb eine Weile in tiefstes Sinnen verloren.

War sie wirklich so tief verletzt und gekränkt von Friedrich Hild und seiner Kühnheit, ihr … als wenn sie ihn dazu berechtigt hätte … seine Neigung zu gestehen? Dann konnte sie ja jetzt beruhigt und zufrieden sein … sie hatte ihn durch die kühlste Zurückweisung gestraft! Weshalb fühlte sie sich so unglücklich in diesem Augenblicke, so unzufrieden mit sich, so ganz aus der ruhigen Fassung? Weshalb hatte sie ein Gefühl, als sei ein großes Unrecht begangen und als müsse sie aufstehen und zu Friedrich hinübergehen und ihm sagen, sie bereue, daß sie so strenge gewesen, sie verzeihe ihm aus Herzensgrund, auch sie wünsche ihn noch einmal und dann vielleicht noch öfter zu sehen, zu sprechen; ihre Theilnahme für ihn mache ihr das Herz schwer, wenn sie denken müsse, er habe wirklich für immer die Gräfin und ihre guten Absichten zurückgestoßen! –

Aber weshalb auch war er so heftig, so leidenschaftlich gewesen … weshalb hatte er sie so erschreckt und geängstigt, daß sie in der Bestürzung nicht Klügeres zu thun gewußt, als die Flucht zu ergreifen; weshalb hatte er so das rechte Wort gar nicht zu finden gewußt, das die Brücke zur Verständigung gebaut, das ihrem Stolze möglich gemacht, ihm milder, wärmer und mehr, wie es ihr ums Herz war, zu antworten?

Wie es ihr ums Herz war! Denn war ihm nicht wirklich dies Herz gewonnen – schon in der Zeit ein wenig, wo sie ihn nur erst gesehen, aber noch nicht gesprochen, ihn, den Gegenstand, mit dem sich ihre und der Gräfin Gedanken seit Langem so anhaltend beschäftigt, und dann, nachdem sie ihn kennen gelernt; und ganz dann in den langen Unterredungen, als sie ihm gegenübersaß und seinen Erzählungen lauschte?

Ach, weshalb war dies Herz so scheu, so stolz, so trotzig! –

Nach einer Weile kam das Kammermädchen der Gräfin und bat sie, sogleich zu dieser herüber zu kommen. Die Gräfin Brechtal lag noch zu Bette; sie sah außerordentlich angegriffen aus; sie stärkte sich die gereizten Kopfnerven, indem sie Stirn und Schläfen eben mit kölnischem Wasser wusch, als Charlotte in ihr Schlafzimmer trat und sich vor ihr Bett setzte.

»Mein Kind, ich habe Ihnen viel zu erzählen«, sagte die Gräfin. »Welche Scenen waren das diese Nacht! Wollen Sie glauben, daß ich einen heftigen Auftritt mit dem Grafen hatte? Denken Sie sich, er hat eine ganz wahnsinnige Eifersucht gefaßt … Rudolph ist eifersüchtig auf den Maler! Er hat unser Tête-à-Tête entdeckt und den Maler angehalten, als dieser von mir ging.«

»Arme Gräfin« sagte Charlotte ein wenig erschrocken, ein wenig theilnahmsvoll und doch mit einem Tone, als ob sie das Aergste des Uebels nicht gerade da liegen sehe.

»Es ist«, fuhr die Gräfin erregt fort, »ganz gewiß eine Tücke von Selim, der Rudolph etwas ins Ohr geraunt haben wird … ich weiß nur zu gut, daß dieser Mohr ein Spion ist, daß Rudolph ihn uns zur Beaufsichtigung gegeben hat … wie wäre mein Mann sonst dazu gekommen, nachdem er mir gegen elf Uhr gestern Abend ermüdet und schläfrig gute Nacht gesagt, sich um zwölf Uhr noch auf den Füßen zu befinden? … Mein Gott, welche Geschichten sind dies! Rudolph ist doch ein ganz schrecklicher Mensch … wann wird er endlich ruhig und vernünftig werden … wie kann man so ein Spielzeug seiner Leidenschaften sein und dann jedes besonnenen Gedankens, jeder Mäßigung unfähig!«

»Der Graf wird sich aber jetzt doch bald beruhigen lassen, gnädigste Gräfin«, sagte Charlotte. »Sie können ihm ja ganz offen mittheilen, weshalb, wozu sie den Maler zu sich kommen ließen.«

»O, das ist ja eben das Schreckliche«, rief die Gräfin aus, »daß ich das nicht kann! Denn denken Sie, dieser Hild behauptet, wir irrten uns, er will gar nicht der sein, den wir suchen, er weist Alles zurück – ich bin ganz niedergeschmettert dadurch … o mein Gott, in welche Lage bin ich dadurch gekommen … was kann ich denn nun Rudolph sagen? Sage ich ihm die Wahrheit, so sagt er, es sei ein Märchen, eine Geschichte, erfunden, um ihn zu täuschen, eine schwache und erbärmliche Ausrede, weil sonst der Maler ganz sicherlich da sein und meine Erklärung bestätigen und sich die Entschädigungen, die ich für ihn beabsichtige, ausbitten würde. Sie kennen ja Rudolph, Sie wissen, wie mißtrauisch er ist … wird er glauben, ein junger Mann in Hild's Lage schlüge eine große Summe aus, die man ihm bietet, er weise ein großmüthiges Entgegenkommen von Leuten unserer Stellung zurück, falls an der Geschichte etwas Wahres wäre? Wird er das glauben? Und soll ich den Maler, der mir, was ich für ihn gethan, mit Undank gelohnt hat und sehr brüsk davongegangen ist, anflehen, daß er komme und für mich zeuge? Unmöglich! Soll ich einen Fremden herbeirufen, damit er für mich bei meinem Gatten rede? Es wäre eine Schmach, eine Entwürdigung, an die nicht zu denken ist! O, mein Gott, Charlotte, was ist da zu thun? Ich bin ganz außer mir … wohin hat mich meine Gutmüthigkeit geführt!«

»Der Verdacht des Grafen ist ja aber so ungegründet«, entgegnete Charlotte mit einem Achselzucken, welches kein Uebermaß von Hochachtung für den in Rede stehenden Hausherrn und kein Uebermaß der Sorge um die geängstete Frau vom Hause ausdrückte – »so ungegründet und ungerecht, daß Sie sich ihn viel zu sehr zu Herzen nehmen. Ich würde dem Herrn Grafen die volle Wahrheit über das, was Sie thaten, sagen, und er wird sicherlich einsehen …«

»Ach, Sie kennen Rudolph nicht, wie ich ihn kenne – ich fürchte, er erdrosselt mich in einem seiner Zornanfälle.«

»Hat denn Herr Hild wirklich versichert, er sei nicht der, für den wir ihn halten, hat er wirklich die Summe abgelehnt, die …«

»Er hat Alles abgelehnt, der räthselhafte Mensch«, sagte die Gräfin; »er behauptet, er habe Ihnen ein Märchen erzählt, als er von seiner Jugend gesprochen …«

»Das ist nicht wahr«, versetzte Charlotte sehr bestimmt, »er hat mir die volle Wahrheit gesagt – nichts als die Wahrheit, darüber ist gar keine Täuschung möglich.«

»Aber wozu läugnet er sie denn jetzt? Es ist ja wie unsinnig von ihm.«

»Nennen Sie es nicht so, verdammen Sie es nicht so, ohne seine Beweggründe zu kennen«, sagte Charlotte. »Sie boten ihm Alles, ein Asyl, einen festen Lebensgrund, ein Vermögen – und er schlägt es aus – das ist groß, dazu gehört ein starker, edler Charakter!« fuhr sie fort, sinnend zu Boden blickend.

»Nun, das fehlte mir noch, daß Sie mich verlassen und ihn bewundern!« rief die Gräfin empört aus.

»Beruhigen Sie sich, gnädigste Gräfin«, versetzte Charlotte, »meine Ergebenheit für Sie kann nicht darunter leiden, daß ich Herrn Hild Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte! Sie dürfen ihn nicht verurtheilen, bevor Sie seine Beweggründe kennen, und ich glaube gewiß, seine Beweggründe sind ein edler Stolz …«

»Ein edler Stolz? Wie Sie so sprechen können! Seine Beweggründe sind die eines ›Genies‹, eines ›Künstlers‹, Caprice, Laune, wegwerfender Hochmuth … ja, das und nichts weiter; er war von vornherein in die übelste Laune versetzt, als er nicht Sie fand, die er erwartet hatte, sondern nur mich … und in dieser üblen Laune warf er Alles von sich, der Wahnsinnige!«

Es blitzte etwas in Charlottens Augen auf, als die Gräfin so sprach. Sie dachte an die letzten, von Leidenschaft zitternden Worte, welche sie von Friedrich Hild gehört … es war in seiner Stimme etwas gewesen, das ihr sagte, daß die Gräfin recht haben könne; sie erschrak dabei und rief nur um so heftiger aus:

»O nein, nein, nein, er wird vernünftigere Beweggründe haben!«

»Lassen wir seine Beweggründe«, fiel die Gräfin ein, »es kommt darauf an, was zu thun ist, es kommt darauf an, daß er seine Beweggründe fahren läßt, daß er nachgiebt, daß er Rudolph aufklärt und ihm die beleidigenden Worte abbittet, welche er gestern Abend bei seinem Zusammentreffen mit ihm gesprochen haben mag … denn sonst, wenn dies Alles nicht geschieht, bleibt in Rudolph's Herzen ewig der Verdacht gegen mich und die Sache nimmt ein unheilvolles Ende.«

»Welches Ende glauben Sie?«

»Der Graf wird ihn fordern und ihn erschießen!«

»O mein Gott!« rief Charlotte erblassend aus, »das ist ja entsetzlich!«

»Gewiß ist es das – es ist gut, daß Sie endlich einsehen, wie schlimm dies Alles ist. Sie wissen, welch geübter Pistolenschütze Rudolph ist … er schießt diesen Maler ganz sicherlich beim ersten Schusse durch den Kopf. Christine sagt, er sei zum Clubb der französischen Officiere gegangen, er wird sich dort einen Secundanten suchen.«

Charlotte schien in der That einzusehen, wie bedenklich diese Wendung der Dinge sei … sie war todtenblaß geworden.

»Ein Duell zwischen dem Grafen und Herrn Hild muß jedenfalls verhindert werden«, sagte sie nach einer Pause, in welcher ihr Athen gestockt hatte.

»Es würde mich grenzenlos compromittieren!« fuhr die Gräfin fort.

»Sie wären furchtbar zu beklagen!« sagte Charlotte zerstreut und mit einem seltsamen Mangel an Mitgefühl für die Noth der Gräfin.

»Dies Duell muß unter allen Umständen verhindert werden«, rief sie dann mit großer Entschlossenheit aus, indem sie von ihrem Sitze aufstand und ein paar Schritte ins Zimmer hinein machte. »Lassen Sie mich nachdenken, wie? Frau Gräfin; lassen Sie mich mit mir allein sein; ich will überlegen, was wir thun können.«

»Thun Sie das, Charlotte; Sie sehen, ich bin ganz hülflos … ich habe Niemanden als Sie, mein Mann ist ein Rasender … ach, ich bin eine recht unglückliche Frau! Und wären Sie nicht gewesen, Charlotte, so wäre es vielleicht nie so weit gekommen. Wenn Sie nicht ein so großes Interesse für die Sache gezeigt hätten, wenn Sie nicht meine nachlassende Lust, weiter zu forschen und zu suchen, so oft neu ermuthigt und angespornt hätten, ich würde nie so weit gegangen sein!«

»Gewiß, gewiß, Frau Gräfin«, sagte Charlotte hastig, verbeugte sich und verließ rasch das Zimmer.

Draußen setzte sie mit einem leichten Kräuseln ihrer Oberlippe für sich hinzu:

»Gewiß, da die Sache eine unglückliche Wendung nimmt, muß sie ein Anderer, muß ich sie verschuldet haben.«



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