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30. Kapitel.

Das wirkliche Verhältnis von Nietzsche und Jesus.


Ecce homo schließt Nietzsche mit den Worten: »Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten.« Diese Charakteristik seines Verhältnisses zu Jesus ist doch mehr geistreich als richtig. So einfach steht die Sache wirklich nicht. Oder vielmehr: sie steht ganz anders.

Zunächst nämlich ist zu beachten, daß Jesus nicht »der Gekreuzigte« schlechtweg ist, sondern der aus einem bestimmten Grund Gekreuzigte. Also etwa mit den Worten Zarathustras: der von den Guten und Gerechten als der, der sie durchschaute, ans Kreuz Geschlagene. Und zu dem steht Zarathustra-Nietzsche doch nicht bloß im Gegensatz. Sodann aber ist Nietzsche weder eine Inkarnation des Dionysos, noch liegt ihm überhaupt das wirklich dionysische Leben im Sinn. Denn er hat und will dionysisches, unmittelbar auf- und überquellendes Leben mit einer Bewußtheit, in der das Dionysische des Lebens sich unvermeidlich auflöst. Deshalb ist Nietzsche auch, beiläufig bemerkt, weder ein Grieche aus dem tragischen Zeitalter des Griechentums noch ein Mensch der Renaissance. Sieht man genauer zu, so bemerkt man, daß er diese seine Ideale nicht aus sich heraus, sondern im Gegensatz zu sich selbst dichtet. Wie auch die Gräkomanen und Renaissance-Enthusiasten, die er gezüchtet hat, weder Griechen noch Renaissancemenschen sind. Das alles ist ja bestenfalls »echte Imitation«. Vielleicht war auch die Renaissance bereits nur »echte Imitation«. – Ich bestimme also das wirkliche Verhältnis von Nietzsche zu Jesus, ohne von seiner Formel »Dionysos gegen den Gekreuzigten« Gebrauch zu machen. –

Nun sind Jesus und Nietzsche darin wesensverwandt, daß sie beide kein privates Interesse an sich selbst haben. Das fällt bei Jesus so stark auf, daß seine historische Existenz überhaupt in Zweifel gezogen werden kann: der Privatmensch kann ja nicht begreifen, daß man auch als Nicht-Privatmensch existieren kann und dann erst wirklich existiert. Bei Nietzsche widerspricht das Urteil, daß er kein privates Interesse an sich selbst gehabt habe, dem Augenschein; ich meine aber doch, daß hier, wie so oft, der Augenschein trügt. In den raffiniertesten und wildesten Ausschweifungen der Eitelkeit hat Nietzsche eigentlich doch kein privates Interesse an sich selbst. Er ist wirklich nicht Friedrich Wilhelm Nietzsche, sondern Zarathustra; wie Jesus wirklich nicht der Sohn des Joseph und der Maria war, sondern »der Sohn des Menschen«. Immerhin ist in jenem Zarathustra in beständigem Kampf mit Friedrich Wilhelm Nietzsche, während in diesem ein solcher Kampf kaum eine Spur hinterlassen hat.

Untergegangen ist die Privatpersönlichkeit beider in dem Bewußtsein einer Mission. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, daß Jesus sich wirklich »gesandt« glaubt: von einem Sender; während Nietzsche von einem Sender nichts wissen will, also eigentlich auch den Gedanken einer Sendung nicht haben konnte. Aber Nietzsches »Atheismus« ist eine offenkundige Selbsttäuschung: ersetzt er Gott durch den Zufall, so denkt er sich den Zufall als Gott. Oder: betet er zu seinem Willen als dem Wender aller Not, so denkt er sich seinen Willen (einen Willen über ihm) als Gott. Man würde ihm doch Unrecht tun, wenn man solche verschleierten Äußerungen eines sogar sehr energischen Gottesglaubens als bloße Phrase nehmen wollte. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Jesus und Nietzsche liegt dagegen in der Art der Mission.

Jesus sieht seine Mission darin, dem Menschen zu helfen; und zwar dem Einzelnen, und natürlich gerade dem, der seiner Hilfe bedarf. Deshalb wird seine Wirksamkeit in symbolischer Erzählung dargestellt als eine Reihe von Heilungen einzelner Kranker. Dabei ist die Regel, daß der Kranke Jesus um Hilfe anfleht; und Jesus gewährt ihm die erbetene Hilfe. Doch kann Jesus auch die Hilfsbedürftigen auffordern, sich von ihm helfen zu lassen. Nietzsche sieht in dem Mitleid mit dem hilfsbedürftigen Menschen eine Versuchung. Sofern ihn überhaupt der einzelne Mensch interessiert, ist es nicht der gefährdete Mensch, sondern der Mensch, der mehr und viel zu werden verspricht. Seine eigentliche Aufgabe aber ist die Erhöhung des Typus Mensch und (als Kehrseite dazu) der Kampf gegen die Entartung der Menschheit. Dabei ist ihm der einzelne Mensch nur entweder Material oder Hindernis für die Züchtung des höheren Menschen; und kommt letztlich, als einzelner Mensch, für ihn überhaupt nicht in Betracht. Seine Liebe gehört nicht den Menschen, sondern dem Typus.

Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied. Die Erhöhung des Typus Mensch läßt sich von einer in der Zeit fortschreitenden Entwicklung der Menschheit erwarten. Daß unterwegs die einzelnen Menschen sich im allgemeinen mit einem Leben begnügen müssen, das eigentlich nicht lebenswert ist, kommt dabei, da an dem Typus alles, an dem Einzelnen nichts liegt, nicht in Betracht. In der Zeit ist dem Einzelnen nun einmal im allgemeinen nicht zu helfen. Will Jesus doch gerade dem Einzelnen helfen, so kann er ihm doch nicht zu »diesem« Leben verhelfen, sondern nur zu einem andern, dem »ewigen« Leben. Damit wird sich aber doch nur der geholfen glauben, der für die Zeit schon nichts mehr zu hoffen hat. Deshalb ist Jesus nicht nur bloß ein Arzt für die Kranken, sondern sogar bloß ein Arzt für die unheilbar Kranken, die an der »Krankheit zum Tode« leiden (um Kierkegaards guten Ausdruck zu benutzen). Nietzsche dagegen kann für die Erhöhung des Typus Mensch natürlich nur die sich relativ gesund Fühlenden begeistern, die sich selbst als brauchbares Material für die Züchtung des höheren Menschen einschätzen. Dem, der sich selbst schon unheilbar krank fühlt, kann Nietzsche nur einen mitleidigen Stoß geben, daß er rascher dahinfahre. Während Jesus andrerseits nur abwarten kann, daß der Gesunde so krank werde, daß er sich von ihm ewig heilen lassen will.

So etwa verhält sich der Typus »Nietzsche« zu dem Typus »Jesus«. Der Typus »Christenheit« aber ist dadurch charakterisiert, daß der Glaube an das ewige Leben als zeitliches Glück geschätzt wird. Dadurch kommt der Typus »Nietzsche« in Konkurrenz mit dem Typus »Christenheit«; während »Jesus« und »Nietzsche« nicht in Konkurrenz kommen können, da dieser sich nur an Menschen wendet, die ein ewiges Leben nicht brauchen (und deshalb für Wahn halten), jener sich nur an Menschen wendet, die für die Zeit nichts mehr zu hoffen haben, also auch nichts mehr wollen. Schneiden sich die Wege »Christenheit« und »Nietzsche« in der Ebene der Zeit, so verhalten sich die Wege »Nietzsche« und »Jesus« wie zwei windschiefe Gerade im Raum: sie gehen an einander vorbei, ohne sich zu treffen.

Von diesem Sachverhalt hat Nietzsche (wie sein »Antichrist« verrät) eine Ahnung gehabt: durchschaut hat er ihn nicht.


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