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14. Kapitel.

»Menschliches, Allzumenschliches«: Verschiebung in der Auffassung der Moral. Konsequenter Determinismus. Alle Motive sind nur transformierter Egoismus. An Stelle des moralischen Urteils tritt das Urteil über die Höhe der Kultur.


»Menschliches, Allzumenschliches« ist nicht ein Wendepunkt in Nietzsches Entwicklung; vielmehr arbeitet sich darin nur viel klarer heraus, wagt sich darin nur viel offener heraus, wie Nietzsche immer dachte, wenn Er dachte. Er zieht jetzt die Konsequenz seines Denkens, und stößt deshalb allerdings manche Gedanken ab, die er sich nur unter dem Einfluß anderer angedacht hatte. Half dem, beiläufig bemerkt, sein neugewonnener Freund Paul Rée nach, so war das wirklich nur Nachhilfe. Dabei konnte allerdings Rée auch etwas auf Nietzsche abfärben.

Die wichtigste Konsequenz aber, die Nietzsche zu ziehen hatte, war, daß er mit seinem Determinismus Ernst machte. Dem war Schopenhauer, wie schon Kant, durch das Dogma der »intelligiblen Freiheit« ausgewichen. Darum leugnet jetzt Nietzsche die »intelligible Freiheit«, überflüssigerweise: denn die »intelligible Freiheit«, die keine Freiheit (das heißt kein freies Belieben) des Entschlusses und der Tat sein soll, steht einem praktischen Determinismus durchaus nicht im Wege.

Nietzsche erkennt jetzt, daß es keinen Sinn hat, den Menschen, der auch in der »freien« Selbstbestimmung doch nur tut, was er nicht lassen kann, für seine Tat zur Verantwortung zu ziehen, als ob er hätte lassen können, was er doch tun mußte. Also hat es auch keinen Sinn, sich über die Tat des Menschen zu entrüsten, dem Menschen seine Tat zu vergelten. Sinn hat nur, daß man den Menschen zu verstehen und zu bestimmen sucht. Das kann man nur in ruhiger, gelassener, gleichmütiger Stimmung; und das schafft eine ruhige, gelassene, gleichmütige Stimmung. Darum fühlt sich Nietzsche durch diese Gedanken in der angenehmsten, erfreulichsten Weise entspannt, erleichtert, gemildert, gekräftigt.

Nun hat aber Nietzsche diese einfachen Gedanken, die, wenn sie einmal verstanden sind, sich von selbst verstehen, dadurch verdunkelt, daß er den Wahn der Freiheit durch den Nachweis seiner Entstehung zu zerstören sucht. Dieser Nachweis ist nicht so zu erbringen, daß er jeden Zweifel ausschlösse. Nietzsche ermöglicht also dem Wahn, den er bekämpft, sich nicht widerlegt zu finden weil er sich nicht restlos erklärt finde. Und wer das nicht unmittelbar als Unsinn erkennt, daß er den Menschen, dem er das freie Belieben abspricht, für sein Tun verantwortlich macht als ob er es mit freiem Belieben vollbracht hätte, der ist überhaupt nicht zu belehren.

Indem Nietzsche ferner den Menschen zu verstehen sucht, geht er nicht den vorsichtigen Weg des Chemikers, der vorläufig als Element anerkennt, was er bis dato nicht mehr zerlegen kann, sich deshalb auch eine ärgerliche Vielheit der Elemente gefallen läßt. Vielmehr nimmt er das erwünschte und erstrebte Ergebnis einer Analyse des Menschen vorweg, indem er annimmt, letztlich werde das Leben des Menschen nur durch ein Motiv bestimmt: die Selbstsucht. Und die Chemie der Seele hat vor der Chemie der Materie den fatalen Vorzug, daß sich diese Voraussetzung anscheinend ohne Schwierigkeit durchführen läßt: indem man das Motiv der Selbstsucht jedem andern Motiv als zweites, eigentliches Motiv unterschiebt. Das läßt sich der wirkliche Mensch freilich nicht gefallen. Aber Nietzsche kann dem gegenwärtigen Menschen auch wohl zugestehen, daß er nicht aus Selbstsucht handelt, sondern aus Verlangen nach Erkenntnis, Wohlwollen gegen andere, Achtung vor dem Gesetz; nur seien alle diese Motive die zum Instinkt gewordene Gewohnheit eines ursprünglich durch Selbstsucht motivierten Handelns, und es sei nur die Erinnerung an den ursprünglichen Zweck dieser Gewohnheiten im Laufe der Jahrtausende verloren gegangen. In der Gewohnheit selbst geht ja die Erinnerung an den ursprünglichen Sinn der Gewohnheit unter; und nur die Gewöhnung vererbt sich, nicht was man sich ursprünglich bei dem zur Gewohnheit gewordenen Brauch dachte. Daß aber der Urmensch nur durch das Motiv der Selbstsucht bestimmt war: das versteht sich ja von selbst. – Das kann sich so verhalten; vielleicht verhält es sich nicht so: Beweis und Widerlegung ist gleich unmöglich. Denn die Analyse der Seele kann nicht mit der Wage arbeiten wie die Analyse der Materie. Auch läßt sie sich nicht wie diese durch Synthese verifizieren. Für die Praxis ist Nietzsches Theorie völlig gleichgültig. Ob Erkenntnisdrang, Wohlwollen, Achtung vor dem Gesetz transformierter Egoismus ist, braucht uns gar nicht zu kümmern: wenn es dem Denker nur wirklich um Erkenntnis zu tun ist, dem Menschenfreund nur wirklich um das Wohl des Nächsten, dem Pflichtmenschen nur wirklich um Erfüllung der Pflicht. Ob Mutterliebe nicht eigentlich doch Egoismus ist: was liegt daran? Wenn die Mutter nur im kritischen Fall nicht an sich denkt, sondern an das Kind.

Darum aber, weil die Menschen immer nur tun, was sie nicht lassen können, ist ihr Tun doch nicht von gleichem Wert. Wären die verschiedenen Motive der Menschen nur verschiedene Transformationen der Selbstliebe, so wären sie darum doch nicht von gleichem Wert. Auch die verschiedenen Stoffe sind darum nicht von gleichem Wert, weil sie sich etwa nur durch verschiedene Lagerung homogener Atome unterscheiden. Wie also können und müssen die Handlungen der Menschen, die Motive der Menschen, die Menschen gewertet werden? Diese Frage beschäftigt Nietzsche; aber er faßt sie nicht richtig an. Wertmaß ist ihm die Kultur: er achtet also auf die »Anzeichen höherer und niederer Kultur«. Nun ist aber das Leben keine eindimensionale Größe, so daß seine Bewegung nur durch den Gegensatz des Aufwärts und Abwärts bestimmt werden könnte; und auch der Gegensatz des Aufwärts und Abwärts ist uns im Leben nicht wie im Raum unzweideutig gegeben. Das ist Nietzsche nicht unbekannt: er leitet seine Beobachtungen über die Anzeichen höherer und niederer Kultur ein durch einen Aphorismus über »Veredlung durch Entartung«! Also wären erst die Dimensionen der Kultur festzustellen; und dann für jede Dimension, welche Richtung als die positive anzunehmen sei. Damit erst wäre die Möglichkeit gegeben, die Bewegung der Kultur zu differentiieren und zu integrieren und so exakt zu bestimmen. Nietzsche verschmäht, so hoch er jetzt die strenge Methode preist, ein so pedantisches Vorgehen. Und nicht bloß in der für das Publikum bestimmten Darstellung seiner Gedanken: er hat sich auch für sich selbst nicht sicher orientiert. Der sichere, feste Sinn seiner Urteile über die Kultur ist doch nur (damit ist schwerlich zu viel gesagt): »Ich, Friedrich Wilhelm Nietzsche, bewege mich vorwärts und aufwärts, obgleich Ihr Freunde versucht seid, das Gegenteil anzunehmen«. Damit mag er Recht haben (mir scheint: er hat Recht); aber seine eigene Bewegung ist durchaus nicht so sicher, daß wir daraus ein sicheres Urteil über Vorwärts und Aufwärts in der Kultur entnehmen könnten. So will er (das ist ihm jetzt die Hauptsache) ein »freier Geist« werden. Aber die Freiheit, jede fremde Meinung in Frage zu stellen, geht oft unter in der Freiheit, der fremden Meinung zu widersprechen – noch ehe man sie richtig gehört und verstanden hat. Und das ist denn doch eine Freiheit recht zweifelhafter Art.

Das zeigt sich insbesondere in seinem Verhältnis zum Christentum, zu dem – vielmehr: gegen das er jetzt offen Stellung nimmt.


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