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17. Kapitel

»Menschliches, Allzumenschliches«: Nietzsches derzeitiges wirkliches Verhältnis zu Jesus,


Nietzsche verkündet jetzt urbi et orbi, daß er sich nicht mehr für einen Christen halte: hat er damit auch aufgehört, Christ zu sein? Er blieb ja trotzdem nomineller Christ; er könnte auch trotzdem wirklicher Christ geblieben sein.

In der Tat glaubt er ja durch die Wissenschaft dasselbe Ziel zu erreichen, das Jesus durch eine Einbildung erreicht habe: das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit. Stimmte das, so wäre es nur ein Streit um Worte, ob man Nietzsche als einen Jesus redivivus oder Jesus als einen Vorläufer Nietzsches bezeichnen wollte. Aber es ist leicht zu erkennen, daß das nicht stimmt.

Einerseits nämlich ist der Gemütszustand Jesu als »Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit« nicht bloß unvollständig, sondern falsch beschrieben. Lassen wir dahingestellt, wie es sich mit Jesu Gefühl der Sündlosigkeit verhält, so ist für ihn doch auch wesentlich das Erbarmen mit dem irrenden, kranken Menschen und das Bewußtsein, daß er berufen sei, als Führer und Arzt dem irrenden, kranken Menschen zu helfen. Dem Beruf aber entspricht Verantwortlichkeit für die Ausübung des Berufs. Hat Jesus das nicht ausdrücklich gesagt, so verrät sich sein Verantwortlichkeitsgefühl in seinem ganzen Lebenswandel (– wenn wir den Nachrichten über ihn so viel Glauben schenken dürfen, wie auch Nietzsche tut). Und dies beweist mehr, als jenes beweisen würde. Jesus hat also trotz seines angeblichen oder wirklichen Gefühls der Sündlosigkeit ein Bewußtsein der Verantwortung, weil er sich berufen glaubt. Wie steht es nun mit Nietzsche? Lassen wir wieder dahingestellt, ob er sich wirklich des Gefühls völliger Sündlosigkeit erfreut (es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten), so verrät auch er, daß er sich zu einem gewissen Wirken berufen glaubt. Wie er sich seine Berufung vermittelt denkt; ob er zwar den Beruf annimmt, einen Berufer aber ablehnt; ob er also von einer Einbildung Jesu sich frei hält oder einer Einsicht Jesu ermangelt: das ist für die Sache nicht von wesentlicher Bedeutung. Aber dem Bewußtsein des Berufs entspricht in ihm kein, oder doch kein sehr starkes Gefühl der Verantwortung. Daß er in der Theorie alle Verantwortlichkeit ablehnt, hätte allerdings nicht viel zu besagen: deshalb könnte er doch in der Praxis sich für sein Wirken verantwortlich wissen. Und das tut er auch. Nur macht er mit seiner Verantwortung keinen rechten Ernst. Er nimmt es mit dem Untersuchen und Überzeugen, mit dem Urteilen und Verurteilen so leicht, denkt so wenig an die Ausführbarkeit, die Durchführbarkeit seiner Gedanken, daß wir kaum an einen seiner Verantwortung bewußten Lehrer, Richter, Diener oder Herrn erinnert werden. Was aber das Motiv seines Auftretens betrifft, so verrät er kaum eine Spur von Erbarmen mit dem irrenden, kranken Menschen, mit den Mühseligen und Beladenen. Die seligste Ahnung, daß das Größere des Geringeren wegen da sei, die größte Begabung zu Gunsten der kleinsten, die höchste Tugend und Heiligkeit um der Gebrechlichen willen, rechnet er nun wohl auch zu den blendenden Irrtümern, von denen er sich befreit hat. Nietzsche hat einen andern Geist als Jesus.

Gehen wir von Nietzsche aus, so kommen wir zu demselben Ergebnis. Mit seiner wissenschaftlichen Erkenntnis lebe man zuletzt unter den Menschen und mit sich selbst »wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte« (II, 52). In den schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternissen der Seele aber helfe kein Mittel besser, als »den feierlichen Leichtsinn Horazens heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen:

quid aeternis minorem
consiliis animum fatigas?
cur non sub alta vel platano vel hac
pinu jacentes
–«

» sic temere potamus?« schließt Horaz. Nietzsche läßt diesen wesentlichen Bestandteil horazischer Lebensweisheit doch unter den Tisch fallen. Aber mit oder ohne Weinseligkeit: der feierliche Leichtsinn Horazens ist nicht das Heilmittel, das Jesus für die schlimmsten Stunden der Seele empfiehlt. Auch besteht der Friede, den Jesus vermitteln will, gewiß nicht darin, daß man das sonst Gefürchtete wie ein Schauspiel genießt. Das alles steht Jesus so fern, daß es ihm gar nicht in den Sinn kommt, von ihm also allerdings auch nicht abgelehnt werden kann. –

Der Kuriosität wegen sei noch folgender Orakelspruch mitgeteilt (II, 222):

Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urteil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesamtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muß jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellekts gelegen ist … Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des größten Intellekts auf: und dies war konsequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise – dies darf man wohl vorhersagen – wird ebenso notwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein.

»Dies darf man wohl vorhersagen«: gewiß; ohne jede Angst, je widerlegt zu werden. Denn der Weise, der der Erzeugung eines Christus nicht hinderlich wäre, er wäre eben deshalb nicht der vollkommene Weise. So kann man auch ohne jede Gefahr widerlegt zu werden behaupten, daß die höchste Intelligenz und das wärmste Herz nicht in einer Person beisammen sein können: dem warmherzigen Menschen kann man immer die »höchste« Intelligenz, dem intelligenten Menschen immer das »wärmste« Herz absprechen. Und so gut man sich Christus einmal als das wärmste Herz denken wollen kann, so gut kann man ihm einmal auch nachsagen wollen, daß er die Dummheit gefördert habe: der auf seinen geistigen Reichtum eingebildete Bildungsphilister muß die »geistig Armen«, die Jesus selig gepriesen habe, für die »Dummen« nehmen. Man braucht aber den Bildungsphilister auch dann nicht ernst zu nehmen, wenn er gerade in der Laune ist, sich mit der »strengen Methode« seines »wissenschaftlichen« Denkens zu brüsten. Was kann man nicht alles »einmal« für strenge Methode und Wissenschaftlichkeit ausgeben wollen?!


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