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6. Kapitel.

Nietzsche kommt unter den Bann R. Wagners. » Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Das Dionysische Erlebnis (1869-72).


Nietzsche war nun, auf einer höheren Ebene der Entwicklung, ungefähr in die Richtung zurückgekehrt, die er vor seiner Bekehrung zu Schopenhauer gehabt hatte. Da griff der dämonische Zufall wieder ein und lenkte ihn abermals ab, und diesmal viel stärker und nachhaltiger als das erste Mal.

Im Frühjahr 1869 wurde Nietzsche nach Basel berufen, als außerordentlicher Professor der klassischen Philologie an der Universität und Lehrer an der obersten Klasse des Pädagogiums. Und von Basel aus kam er in häufigen und sehr intimen Verkehr mit Richard Wagner, der sich damals in Tribschen bei Luzern aufhielt. Nun mußte er von Berufs wegen sich lernend und lehrend in den Geist des Griechentums einarbeiten, für das er bis dahin, wie es scheint, nur mehr die offizielle verschwommene Begeisterung gehabt hatte. Sein Beruf nötigte ihn zugleich, das Ideal der Bildung, der Kultur, das ihm im Sinne lag, für das er wirken wollte, zu fixieren. Im Verkehr mit Richard Wagner aber belebte sich seine Verehrung für »ihren« Philosophen wieder. Dabei ward ihm Wagners Musik der Schlüssel für ein innerlicheres Verständnis von Schopenhauers Philosophie, und Schopenhauers Philosophie der Schlüssel für das richtige Verständnis des tragischen Zeitalters der griechischen Kultur. Endlich fand sein Eifer für die Kultur ein Gebiet der Betätigung in der Arbeit für Wagners Kunstideal, wodurch er zugleich dem neu gewonnenen Meister und Freund diente. Das alles zusammen brachte ihn in eine unglaublich hohe Spannung des Geistes und Gemüts. Die wichtigste Frucht derselben, durch die er allen Interessen, die ihn bewegten, zugleich genügen wollte, ist sein Erstlingswerk: » Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (1872).

Zum Glück können wir die schwierige Untersuchung umgehen, wie er in diesem Werk zugleich und durcheinander das Griechentum, die Philosophie Schopenhauers und die Kunst Wagners den Zeitgenossen zu erschließen versuchte. Auch können wir uns ein Urteil darüber ersparen, in wie weit ihm dieses Unternehmen gelang und ob es nicht von Hause aus verfehlt war. Uns interessiert hier weder das Griechentum, noch Schopenhauer, noch Wagner, noch Nietzsches Glaube an diese vermeinte oder wirkliche Dreieinigkeit, sondern nur die Verschiebung in Nietzsches Welt- und Lebensanschauung, die sich in diesem Werk mehr verrät als ausspricht.

Sie tritt uns am greifbarsten entgegen in folgender Expektoration (S. 117):

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergang bereit sein muß: wir werden gezwungen in die Schmerzen der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reißt uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie notwendig, bei dem Übermaß von unzähligen, sich ins Leben drängenden und stoßenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wütenden Stachel dieser Qualen im selben Augenblick durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermeßlichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.

Diesem Bekenntnis ist zu entnehmen:

Nietzsche ist von der gemeinen Wirklichkeit des Lebens durchaus nicht entzückt. Die Individualexistenz findet er schrecklich. Als Individuum ist er versucht, das Leben abzulehnen.

Aber er erlebt, wenigstens in kurzen Augenblicken, auch ein Erlebnis besonderer Art, das aus dem gemeinen Gang des Lebens vollständig heraustritt. Da fühlt er, durchbohrt von einem wütenden Stachel der Qual, zugleich unbändige Daseinsgier und Daseinslust. Indem sich dabei das Bewußtsein seiner Sonderexistenz verliert, fühlt er sich dann doch als den glücklich Lebendigen – offenbar mit dem verschwindenden Rest des entschwindenden Selbstbewußtseins.

Und gerade in diesem nur augenblicklichen Ausnahmezustand glaubt er erst das wirkliche Leben zu erleben – die wirkliche Wirklichkeit des Lebens, gegen die die gemeine Wirklichkeit des Lebens in persönlichen Erlebnissen mit relativer Lust und relativer Unlust zur bloßen »Erscheinung« sich verflüchtigt. Er deutet sich nämlich dieses Ausnahmeerlebnis dahin, daß er da das Urwesen selbst sei und dessen unendliche Daseinsgier mit ihrer unendlichen Zeugungslust durchlebe. Indem er eben als das Urwesen selbst dessen Urdrang, Urschmerz und Urlust durchlebt, ist er wenigstens für Augenblicke der glücklich Lebendige, der das Leben, so schmerzlich es ist, doch will.

Ein Erlebnis dieser Art (nennen wir es das dionysische Erlebnis) wird in diesem Bekenntnis angedeutet – wenn es als ernstes Bekenntnis wirklichen Erlebens zu nehmen ist

Damit sollte nun für Nietzsche das Leben unbedingt, in seiner Ganzheit, gerechtfertigt sein. Damit sollte sich selbstverständlich der unbedingte Wille einstellen, im Ganzen und Vollen resolut zu leben. Und so spricht sich denn auch Nietzsche öfter mit stärkstem Nachdruck in diesem Sinne aus. Hören wir aber scharf zu, so bemerken wir, daß seine Stimme doch zittert: er ist seiner Sache nicht sicher.

Auffällig ist schon, daß das dionysische Erlebnis, indem es von der ewigen Lust des Daseins überzeugt, metaphysischen »Trost« gewähren soll. Daß man in dionysischer Entzückung die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit der Lust zu leben auch nur ahnte, sollte doch in einen Gemütszustand versetzen, da man des Trostes nicht mehr bedarf, da man in dem bloßen Trost ein weichliches, lächerliches Mißverständnis sieht! Wer überhaupt noch von »Trost« reden kann: sollte der je die unermeßliche Urlust am Dasein durchlebt haben?!

Noch befremdlicher ist, daß Nietzsche mehrfach mit stärkstem Nachdruck behauptet, nur als ästhetisches Phänomen sei das Dasein ewig gerechtfertigt (I, 45, 168) – nicht als Wirklichkeit. Die unendliche Daseinsgier und Daseinslust des Urwesens: das sollte doch eben die Wirklichkeit des Daseins sein. Auch wird ja die ewige Lust des Daseins nicht in der Erscheinung, sondern hinter der Erscheinung gesucht und gefunden. Also sollte das Dasein gerade nicht als Erscheinung, nur als Wirklichkeit ewig gerechtfertigt sein! Ästhetisches Phänomen ist das Dasein doch eben als Erscheinung! nicht als Wirklichkeit!

Des Rätsels Lösung ist, daß Nietzsche das dionysische Erlebnis nur durch Vermittlung der dionysischen Kunst erlebt: also als ästhetisches Erlebnis. Und über die Wirklichkeit dieses Erlebnisses ist er sich offenbar nicht klar. Einerseits sagt er: »wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst«, »wir sind die glücklich-Lebendigen«; andrerseits sagt er: »der Kampf, die Qual … dünkt uns jetzt wie notwendig« … in demselben Augenblick, »wo wir gleichsam mit der unermeßlichen Urlust am Dasein eins geworden sind«. Was gilt nun: das »wirklich« oder das »gleichsam«? das »wir sind« oder das »es dünkt uns«? Damit ist Nietzsche überfragt; denn er selbst hat sich diese Frage nicht gestellt.

Und nun fällt uns auch auf, daß Nietzsche das dionysische Erlebnis gar nicht als wirkliches Erlebnis will, nur als ästhetisches Erlebnis. Als wirkliches Erlebnis wird es von der Mänade, wird es in andrer Weise von dem tragischen Helden erlebt. Aber der sinnliche Enthusiasmus der Mänade stößt ihn eher ab, als daß er ihm als ein erwünschter Höhepunkt des Lebens erschiene. Und dem tragischen Helden schreibt er die Bedeutung zu, daß er »einem mächtigen Titanen gleich die ganze dionysische Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet« (I, 146 f.). Also: der tragische Held erspart uns tragische Helden zu werden: das gibt ihm seinen unvergleichlichen Wert für uns! Sieht Nietzsche im Geist eine heranwachsende heroische Generation, die allen Schwächlichkeitsdoktrinen mit stolzer Verwegenheit den Rücken kehrt um im Vollen und Ganzen resolut zu leben, so begeistert ihn das zu der nicht eben heroischen Frage, ob diese Drachentöter nicht eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes begehren müssen! (I, 128 f.). Und so ist denn auch der einzige Kampf, den er ihnen als Aufgabe deutlich gestellt sieht, der Kampf um die neue Kunst des metaphysischen Trostes: der Kampf für Bayreuth. Seine erhabene Vision überkommt ihn im Theater und zeigt ihm die Notwendigkeit des Theaters. Daß Nietzsche vielmehr von einem hochwichtigen Kampf für eine neue (die tragische) Kultur spricht, ändert an der Sache nichts: der einzige greifbare Inhalt dieser tragischen Kultur ist eben die tragische Kunst.

Fragen wir also nach der Lebensanschauung, die sich in dem Erstlingswerk Nietzsches offenbart, so kann die Antwort nur lauten: eine Lebensanschauung hat Nietzsche noch gar nicht, da ihm die Wirklichkeit des Lebens noch gar nicht zu Gesicht gekommen ist. Er lebt im Theater und lebt für das Theater; das Erlebnis, aus dem er eine Lebensanschauung zu gewinnen sucht, ist ein Theatererlebnis.


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