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22. Kapitel.

Zarathustra (1883-85). Warum wohl Nietzsche sich in Zarathustra verkleidete? Zarathustras Geschichte.


Nietzsche will ein Ja-sagender werden; und er wird sofort auch der Lehrer des Ja-sagens. Doch tritt er als solcher zunächst nicht in eigener Person auf, vielmehr dichtet er einen Ja-sager großen Stils: Zarathustra. Er selbst will also, genau genommen, nur der Herausgeber der Reden Zarathustras sein. Das erinnert an Kierkegaard, der auch nur für den Herausgeber der Schriften des von ihm gedichteten Anticlimacus gelten wollte. Während aber Kierkegaard sich dadurch die Möglichkeit schaffen wollte, über das Christentum der Christenheit ein Urteil auszusprechen, zu dem er selbst nicht befugt wäre, unter das er sich vielmehr mit andern »Christen« zu beugen hätte, sind Nietzsche solche Bedenken und Absichten schwerlich zuzutrauen. Sind es nicht lediglich ästhetische Gründe, die ihn bewogen sich in Zarathustra zu verkleiden, so wollte er sich dadurch wohl nur eine größere Freiheit der Bewegung verschaffen. Ob er damit wohlgetan hat; ob er nicht durch ein offenes »Ich aber sage euch« sich selbst hätte nötigen sollen, sich genau zu überlegen, was er von sich aus, in eigener Macht, sagen könne und müsse: das möge hier bloß gefragt werden. Daß wir dann statt des glänzenden Werks »Also sprach Zarathustra – ein Buch für Alle und Keinen« vielleicht überhaupt nichts, oder doch nur einen vorsichtigen und darum unscheinbaren Versuch einer neuen Deutung des Lebens erhalten hätten, ist kein Grund, diese Frage an der Schwelle abzuweisen. Nietzsche selbst hat sie sich nicht gestellt.

Wir lassen also das Verhältnis Zarathustras zu Nietzsche auf sich beruhen, nehmen Zarathustra, wie wir sollen, als eine selbständige Persönlichkeit, und machen uns zunächst mit seiner Geschichte bekannt.

Zarathustra hat sich dreißigjährig in das Gebirge zurückgezogen, um dort seines Geistes und seiner Einsamkeit zu genießen. Nach zehn Jahren verwandelt sich sein Herz: er wird seiner Weisheit überdrüssig und sehnt sich nach Menschen, denen er sie mitteilen könnte. Er geht also wieder zu den Menschen zurück, hinab. Wie er aber auf dem offenen Markt zu ihnen redet, erntet er nur Spott. Nur ein abgestürzter Gaukler dankt es ihm, daß er ihn von der Angst vor Hölle und Teufel befreit. Da erkennt er, daß er nicht zum Volke reden soll, sondern zu Gefährten; daß er zum Volke nur reden soll, um sich Gefährten zu gewinnen, die ihm folgen, weil sie sich selber folgen wollen – dorthin, wohin er will. Und so redet er denn wieder: nicht mehr zu dem Volk, aber doch vor dem Volk; redet zu seinem Herzen und zu den Brüdern, die es doch erst werden sollen; redet, um die Menschen wegzulocken von der Herde, hinanzuziehen zu sich in seine Höhe. Dann kehrt er in das Gebirge zurück.

Monde und Jahre verbleibt er wieder dort, und seine Weisheit wächst und macht ihm Schmerzen durch ihre Fülle. Da warnt ihn ein Traum, seine Lehre sei in Gefahr, entstellt zu werden. Also steigt er wieder zu den Menschen hinab und redet und singt – bis ihn seine stillste Stunde in die Einsamkeit zurücktreibt. Es wird ihm schmerzlich klar, daß er selbst noch nicht den demütigen Mut hat, sein letztes Wort, das ihm auf der Zunge liegt, zu sagen. So muß er wieder in seine Einsamkeit zurück, um selbst erst mürbe und reif zu werden für seine Sendung.

Und nun bleibt Zarathustra in seiner Einsamkeit, auch wenn er wieder unter den Menschen wandelt. Er redet und singt wieder; aber fast nur noch zu sich selbst, von sich selbst. Indem er sich selbst offenbart (müssen wir annehmen), erfüllt er die Sendung, die ihm in seiner stillsten Stunde als seine Sendung offenbar wurde. Was er mit und zu den Menschen spricht, ist sichtlich nicht der Ausdruck seines tiefsten und höchsten Sinnes.

Dann kehrt Zarathustra wieder in seine einsame Höhle zurück, und es laufen Monde und Jahre über seine Seele. Da ruft ihn ein furchtbarer Notschrei auf, Menschen zu Hilfe zu kommen, die sich in seinem Gebiete verirrt haben müssen. In der Tat trifft er nun nach einander zwei Könige mit einem Esel, den Gewissenhaften des Geistes, den Büßer des Geistes, den letzten Papst, den Mörder Gottes, einen freiwilligen Bettler, seinen Schatten. Diese alle versammelt er nebst einem alten Wahrsager, der ihm ihr Kommen ankündigte, um sich in seiner Höhle. Da feiert er mit ihnen ein Mahl, da von nichts anderem geredet wird als von dem höheren Menschen. Aber so gut ihm diese höheren Menschen gefallen, er hält es doch nicht bei ihnen aus. Wohl ist ihm doch nur in der Gesellschaft seiner »Tiere«. Und als die höheren Menschen ihm den Morgengruß bieten wollen, wendet sich sein Löwe mit wildem Gebrüll gegen sie, so daß sie entsetzt zurückfliehen und im Nu verschwunden sind. Zarathustra aber erkennt, daß ihn der alte Wahrsager zu seiner letzten Sünde hatte verführen wollen, als er ihn auf die wachsende Not der höheren Menschen aufmerksam machte: zum Mitleiden mit dem höheren Menschen. Sein Antlitz verwandelt sich in Erz; er verläßt seine Höhle glühend und stark wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.

Damit bricht die Geschichte Zarathustras ab. Denn ein Abschluß ist ja das offenbar nicht.


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