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18. Kapitel.

Der Kampf gegen die moralischen Vorurteile in »Menschliches, Allzumenschliches«, »Morgenröte«, »Fröhliche Wissenschaft« (1877-82). Nietzsche hat ein Vorurteil gegen das Vorurteil.


Nietzsche hat nun als eine Hauptaufgabe, die ihm obliegt, erkannt den Kampf gegen die moralischen Vorurteile. Dieser beschäftigt ihn zunächst so überwiegend, daß er einer der Schriften, die er auf »Menschliches, Allzumenschliches« in rascher Folge erscheinen läßt, den Titel gibt: »Morgenröte – Gedanken über die moralischen Vorurteile«. Es ist weder möglich noch für unsere Absicht notwendig, daß wir seine Jagd auf moralische Vorurteile im Einzelnen verfolgen. Aber die Art, wie er das moralische Vorurteil behandelt, verrät, daß er im Eifer des Kampfes sich nicht deutlich gemacht hat, was er eigentlich will, wollen muß und wollen kann. Darüber müssen wir uns klar werden, wenn wir Nietzsches weitere Entwicklung verstehen wollen.

Was ist eigentlich ein Vorurteil? Die Antwort liegt auf der Hand: ein Urteil, das gefällt wird, bevor der Urteilende sich eine Kenntnis der in Frage stehenden Sache erworben hat, die ihn erst befähigte in der Sache ein Urteil zu fällen. Das Vorurteil kann überkommen und übernommen sein; und zwar entweder in völliger Gedankenlosigkeit, oder mit dem Gedanken, daß man das übernommene Urteil nicht erst nachzuprüfen brauche, oder gar mit dem Gedanken, daß man es gar nicht nachprüfen dürfe. Und dann kann auch dieses Urteil nur Vorurteil sein. Das ist in »Moral« und »Religion« häufig genug der Fall. Aber auch das eigene Urteil kann Vorurteil sein: wenn es voreilig gefällt wird. Aller Irrtum ist Vor-Urteil. Sogar daß man ein als Vorurteil erkanntes Urteil des Irrtums bezichtigt, kann wieder Vorurteil sein. Nun denkt Nietzsche bei »Vorurteil« ganz überwiegend an das überkommene und übernommene Vorurteil. Er selbst aber hat es mit dem Urteilen so eilig, daß er zu einer gründlichen Untersuchung der Sache, um die sichs handelt, sich nicht die Zeit nehmen kann. Obgleich das Fragen seine Stärke ist, hält er es in dem Zustand der Frage nicht aus. Deshalb springt er, fällt er auf der Jagd nach dem Vorurteil oder auf der Flucht vor dem Vorurteil (beides kommt in der Sache auf dasselbe hinaus) von Vorurteil in Vorurteil. Dadurch verführt er zu voreiligem Urteilen – also zum Vorurteil; und dadurch kann er dessen auch entwöhnen. Als Verführer zum Vorurteil hat er freilich beträchtlich größere Erfolge gehabt denn als Kämpfer gegen das Vorurteil.

Wie verhält es sich mit dem Wert des Vorurteils? Auch darüber hat sich Nietzsche keinen klaren Gedanken gemacht. Urteilswert hat nur das Nach-Urteil, nicht das Vor-Urteil. Aber auch das Vorurteil kann richtig sein. Das Urteil, das als Vorurteil übernommen wurde, kann von seinen Urhebern als Nachurteil gebildet worden sein: es ist nur durch voreilige Übernahme zum Vorurteil geworden. Auch das eigene voreilige Urteil kann zufällig doch das Richtige treffen. Die Zweideutigkeit des Vorurteils ist Nietzsche natürlich nicht entgangen. Er betont nachdrücklich (IV, 98):

Ich leugne nicht, wie sich von selbst versteht – vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin – daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, daß viele, die sittlich heißen, zu tun sind – aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen als bisher.

Ich meine: aus sachlichen Gründen, nicht aus bloßem Vorurteil. Denn die Gründe für die Fortsetzung des bisherigen modus vivendi könnten wohl auch dieselben sein, die zu dessen Entstehung geführt haben. Aber Nietzsche neigt doch stark, und je länger je mehr dazu, das Vorurteil als solches für unrichtig zu halten. Er hat ein Vorurteil gegen das Vorurteil.

Wie wird das Vorurteil bekämpft? – Es braucht gar nicht bekämpft zu werden. Ist es als Vor-Urteil erkannt (das heißt: hat man bemerkt, daß man die Sache, in der man ein Urteil zu haben glaubte, noch gar nicht kennt): so hebt man sein Urteil als Vor-Urteil auf, nimmt die Sache vor und untersucht sie so lange, bis man sich ein Urteil zutrauen darf. Ob dieses mit dem früheren Urteil doch übereinstimmt oder von ihm abweicht, stellt sich dann von selbst heraus. Im letzteren Fall wird das frühere Urteil durch das jetzt gewonnene Urteil, ohne daß das besonders gesagt zu werden braucht, vernichtet. Dadurch ist es zum bloßen irrigen Vorurteil geworden. Eines besonderen Kampfes gegen das Vorurteil bedarf es nicht. – Nietzsche glaubt natürlich auch das Vorurteil durch sein Urteil zu vernichten. Aber er glaubt dem Vorurteil doch erst dadurch den tötlichen Stoß versetzt zu haben, daß er seine Entstehung erklärt. Das gibt ihm die Gelegenheit, viel zweifelhaftes »Wissen« und oft ebenso zweifelhaften »Geist« zu zeigen, ist aber durchaus nicht im Interesse der Sache. Erstens ist es überflüssig den Ursprung des Vorurteils zu wissen, wenn es dadurch als Vor-Urteil erwiesen ist, daß es auf den beurteilten Sachverhalt nicht stimmt. Ich lehne Alchimie und Astrologie als Wahn ab, ohne mich um ihre Entstehung zu bekümmern. Zweitens wird eine Meinung nicht durch die Geschichte ihrer Entstehung widerlegt: mit gewissen sympathetischen Kuren könnte es seine Richtigkeit haben, obwohl sie ihren Ursprung in einem Wahne haben. Drittens verführt die »historische Methode« dazu, daß man sich mehr mit den Meinungen über die Dinge als mit den Dingen selbst beschäftigt. Nietzsche selbst redet von der Welt nicht gar selten so, wie wenn sie eben das wäre, wofür man sie nimmt, und es nicht eine Wirklichkeit gäbe, die die Meinung der Menschen von der Wirklichkeit Lügen strafen kann. Was dann »Vorurteil« noch zu bedeuten habe, wenn es »Urteil« eigentlich gar nicht gibt, hat Nietzsche zu erklären vergessen.

Endlich: ist das Vorurteil als solches entlarvt, so ist damit noch nicht die Sache erkannt, um die sichs handelt. Bis dies geschehen ist, bleibt das Urteil in der Schwebe. Aber indessen muß man doch leben, handeln, zu der Wirklichkeit Stellung nehmen. Wie kann ich das, wenn ich mir über mein Verhältnis zur Wirklichkeit nicht klar bin? Auch diese Schwierigkeit hat Nietzsche nicht scharf erfaßt, nicht gründlich durchgearbeitet. Da er seiner jeweiligen Meinung immer gewiß ist, kennt er die Schwierigkeit kaum, wie man im Zustand der Frage, des Zweifels leben soll. Er sieht das Vorurteil nur außer sich, bei andern, oder hinter sich, als einen Irrtum, den er für sich überwunden hat. Die Frage ist für ihn nur, wie er sich mit dem von ihm überwundenen, andre noch beherrschenden Vorurteil abfinden soll. Natürlich ist auch sein erster Gedanke, daß er der eigenen, besseren Einsicht folgt. Aber das ohne Rücksicht auf die Umgebung für sich zu tun, findet er doch nicht praktikabel. Kleine abweichende Handlungen tun allerdings not (IV, 155). Aber »der Weg vom Freidenken geht nicht zum Freihandeln (individuell), sondern zum regierungsweisen Umgestalten der Institutionen« (XI, 65). »Die Wahrheit hat die Macht nötig … Sie muß die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zugrunde gehen« (IV, 343). Darauf ist also zuerst zu denken, daß die Wahrheit zur herrschenden Meinung werde; darnach ist die Praxis des eigenen Lebens zu bestimmen. Darum kann der freie Geist seinen gröberen Bruder, den freien Menschen der Tat, nur mit wohlwollendem Kopfnicken betrachten (II, 53. 265), und kommt seinerseits zu dem Schluß (IV, 342):

Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist, und daß die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt ab gewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben.

Ob die neue Wertschätzung zur überwiegenden Gewalt werden kann, während man der alten Wertschätzung erlaubt, sich als Gewohnheit weiter zu befestigen, hat Nietzsche zu fragen vergessen. Merkwürdig ist auch, wie er sich mit einem andern Bedenken abfindet (II, 343):

Es empört, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam jeder seine paar Privat-Tugenden den Andern, die sie zufällig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem »Sinn für Redlichkeit« menschlich treiben, so gewiß man an ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen großartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis aufs Blut wehe zu tun: – wir haben sie an uns selber erprobt.

Von den überkommenen moralischen Vorurteilen bejaht Nietzsche das der »Redlichkeit« als ein für ihn auch fernerhin maßgebendes Urteil. Daß er damit die Andern nicht zwicken und plagen will, ist recht lieb von ihm. Ich würde ihm aber doch zur Erwägung empfehlen, ob es sich mit der Redlichkeit verträgt, daß er in einem Zustande der Moral, den er verurteilt, noch lange, lange fortzuleben gedenkt. Da macht er sichs doch mit dieser seiner derzeitigen Privat-Tugend recht bequem.

Nietzsche hat sich wirklich nicht genau überlegt, wie sichs mit dem Vorurteil eigentlich verhält. Deshalb hat er auch keine sichere Taktik im Kampf gegen das Vorurteil. Er selbst lernt durch keine Übereilung die Angst, sich im Urteil zu übereilen. Er ist seiner jeweiligen Meinung immer gewiß. Und indem er andere gerne zur bescheidenen Zurückhaltung mahnt, erschwert er es ihnen bis zur Unmöglichkeit, im Urteil Zurückhaltung zu üben. Man muß recht starke eigene Vorurteile haben, um nicht von Nietzsche zu seinen Vorurteilen überredet zu werden. Hat man das bemerkt, so gibt er freilich durch sein eigenes schlechtes Beispiel der Mahnung zur Behutsamkeit den stärksten Nachdruck. So treibt er allerdings zugleich mit Willen und wider Willen in den Kampf gegen das Vorurteil hinein. Nimmt man sich die Zeit und gibt man sich die Mühe, zu tun was er selbst nicht getan hat, nämlich seine Gedanken über die moralischen und religiösen Vorurteile langsam und gründlich durchzudenken; und erwirbt man sich dabei die nötige Gleichgültigkeit gegen seinen »Geist«: so wird man seine Schriften nie ohne Nutzen lesen. Den eilfertigen Leser verführt er, sich entweder gegen seine Überredungskunst im eigenen Vorurteil zu versteifen, oder sich sein Urteil als Vorurteil zuzueignen.


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