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3. Kapitel.

In Schul-Pforta bleibt Nietzsche zunächst loyal christlich. Nach der Konfirmation bricht er mit dem Gehorsam des Glaubens und dem mütterlichen Christentum. Schwärmerei für die große Leidenschaft; Ansatz zu einer Geniemoral (1858-63).


Daß Nietzsche im Herbst 1858, vierzehnjährig, eine Freistelle an der Schule Pforta bekam, brachte in sofern keine Veränderung in die Bedingungen seiner geistigen Entwicklung, als dort derselbe Geist christlicher Loyalität herrschte wie im Mutterhaus. Auch wurde der Einfluß der weiblichen Frömmigkeit, unter dem er bisher gelebt hatte, nicht durch einen ebenso starken Einfluß männlicher Frömmigkeit ersetzt. Eine bewußt christliche, scharf ausgeprägte und tatkräftige Persönlichkeit, die Nietzsche durch ihr Christentum einen starken Eindruck hätte machen können, trat ihm in Schulpforta offenbar nicht entgegen. Dieser Mangel wurde auch nicht durch eine religiöse Unterweisung ausgeglichen, die ihm den Sinn für das Heroische im Christentum erschlossen hätte.

Was Nietzsche pflichtmäßig zu lernen hatte, scheint seinen Geist nicht in stärkere Bewegung versetzt zu haben. Einen tieferen Eindruck als das klassische Altertum machte ihm die deutsche Heldensage, mit der er sich privatim eingehend beschäftigte. Was er in eigenem, freiem Bildungsstreben zusammen mit gleichgesinnten, ob auch nicht gleichbegabten Altersgenossen sich erarbeitete, wurde von größerer Bedeutung für ihn als der Unterricht und die Erziehung durch die Lehrer. Aber er hat in unersättlichem Lesehunger auch sehr vieles in sich aufgenommen, dem seine Fassungs- und Urteilskraft durchaus noch nicht gewachsen war: Don Quijote, Tristram Shandy, Byron, Shelley, Hölderlin, Emerson. Diesen Einflüssen ist es wohl auch hauptsächlich zuzuschreiben, mehr als der beginnenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit religiösen Fragen, daß sein Glaube schon stark erschüttert war, als er 1864 die Universität Bonn bezog, und im ersten Jahr seines Studiums vollends ganz zusammenbrach. Die Aufzeichnungen, die wir aus dieser Zeit noch vor ihm haben(L. I, 130 f., 309-329), ermöglichen uns einen genaueren Einblick in den Gang seiner Entwicklung.

Die entscheidende Tat der Befreiung von dem »Gehorsam des Glaubens« trat in dem Jahre nach seiner Konfirmation ein. Im Sommer 1861 konnte er noch schreiben (oder abschreiben):

So oft ein Mensch laut gegen Religion spricht, vermute man dreist, daß nicht seine Vernunft, sondern daß seine Leidenschaft Gewalt über seinen Lehrglauben gewann. Sündlicher Wandel und reiner Glauben sind unverträgliche, unruhige Nachbarn, und sondern sie sich von einander ab, so geschieht es gewiß nur, um nicht von einander belästigt zu werden« (L. I, 130).

Er scheint also noch anzunehmen, daß das Forschen nach Wahrheit, das er als endlos erkannt hat ( ib.), sich auf der Bahn des Glaubens erhalten müsse und könne. Aber im Frühjahr 1862 hat seine Stimmung gewechselt. Da sagt er in einem Vortrag für seine Kameraden (L. I,313):

Wenn wir mit freiem, unbefangenem Blick die christliche Lehre und Kirchengeschichte anschauen könnten, so würden wir manche den allgemeinen Lehren widersprechende Ansichten aussprechen müssen. Aber so, von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurteile, durch die Eindrücke unserer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als ein Vergehen betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urteil über Religion und Christentum fällen zu können.

Sein eigenes Urteil über Religion und Christentum ist sofort sehr frei. Er hat erkannt, »daß das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet«. Auf Annahmen von sehr zweifelhaftem Wert! Denn »die Existenz Gottes, Unsterblichkeit, Bibelautorität, Inspiration und anderes werden immer Probleme bleiben!« Es ist ihm der Zweifel aufgestiegen, ob nicht die Menschheit zweitausend Jahre durch ein Trugbild irre geleitet worden sei. Er hat sogar alles zu leugnen versucht. Aber schmerzliche Erfahrungen haben sein Herz doch wieder zum alten Kinderglauben zurückgeführt. Freilich, so ganz kindlich ist der neu errungene Glauben doch nicht. Denn er kann nun doch schreiben (L. I, 321; April 1862):

Die Hauptlehren des Christentums sprechen nur die Grundwahrheiten des menschlichen Herzens aus; sie sind Symbole, wie das Höchste immer ein Symbol des noch Höheren sein muß. Durch den Glauben selig werden heißt nichts als die alte Wahrheit, daß nur das Herz, nicht das Wissen glücklich machen kann. Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe. Der Wahn einer überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zur irdischen Welt gebracht: er war das Erzeugnis einer Kindheit der Völker. Die glühende Jünglingsseele der Menschheit nimmt diese Ideen mit Begeisterung hin und spricht ahnend das Geheimnis aus, … daß Gott Mensch geworden. Unter schweren Kämpfen und Zweifeln wird die Menschheit männlich; sie erkennt in sich den Anfang, die Mitte, das Ende der Religion.

Übrigens interessieren ihn theologische Fragen nur nebenbei. Was ihn im Innersten beschäftigt, sind Probleme wie: Fatum und Geschichte; Willensfreiheit und Fatum; das Recht des Individuums. Oft überschleicht ihn bei fruchtlosen Spekulationen die Sehnsucht zur Geschichte und Naturwissenschaft: da hofft er festes Land zu finden.

Und viel wichtiger als der Zweifel an den »Annahmen«, auf denen das Christentum beruht, ist die Auseinandersetzung mit der anerzogenen christlichen Frömmigkeit. Er sieht, daß der Glaube, Gott habe alles gut gemacht, die Menschen oft verführt, sich von den Umständen auf eine entwürdigende Art leiten zu lassen. »Überhaupt sind Ergebung in Gottes Willen und Demut oft nichts als feige Furchtsamkeit, dem Geschick mit Entschiedenheit entgegenzutreten.« Doch will er damit die Frömmigkeit der Mutter nicht einfach abgelehnt haben; vielmehr glaubt er dieselbe in einer höheren, männlichen Form noch festhalten zu können. Zwar fällte er 1862 in einem Aufsatz über das Christentum das Urteil, daß nur christliche Anschauungsweise einen Weltschmerz hervorbringe, der nichts sei als »ein Verzagen an eigener Kraft, ein Vorwand der Schwäche, sich mit Entschiedenheit selbst sein Los zu schaffen«; – einer fatalistischen Anschauungsweise liege solcher Weltschmerz sehr fern. Aber er fährt doch fort:

Wenn wir erst erkennen, daß wir uns selber verantwortlich sind, daß ein Vorwurf über verfehlte Lebensbestimmung nur uns, nicht irgend welchen höheren Mächten gelten kann, dann erst werden die Grundideen des Christentums ihr äußeres Gewand ablegen und in Mark und Blut übergehen.

Wie er sich das denkt, hat er nicht ausgesprochen. Wenn er aber urteilt (schon im Oktober 1861), daß in Hölderlins Empedokles eine göttliche Hoheit lebt; wenn ihn des Empedokles Tod im Tiefsten erschüttert als »ein Tod aus Götterstolz, aus Menschenverachtung, aus Erdensattheit und Pantheismus«: so sieht man schon, daß ihm eine Stellung zu den höheren Mächten im Sinne liegt, die mit der Gesinnung des Kindes gegen den Vater nichts mehr gemein hat.

Auch sonst stoßen wir auf Urteile, die eine wenn nicht bewußte, so doch entschiedene Abkehr von der überkommenen Lebensanschauung verraten.

Daß das Genie von anderen und höheren Gesetzen abhängig ist als der gewöhnliche Mensch, von Gesetzen, die oft den allgemeinen Gesetzen von Moral und Recht zu widersprechen scheinen, im Grunde aber doch dieselben sind … das ist eine Erscheinung, die das Endglied einer Kette bildet [nämlich der berechtigten, notwendigen Entwicklung des Geistes]. Nur volle, tiefe Naturen können sich einer furchtbaren Leidenschaft so völlig hingeben, daß sie fast aus dem Menschlichen herauszutreten scheinen; mir graut aber vor der Herzlosigkeit derjenigen, die den ersten Stein gegen solche Unglückliche aufheben können … Vielleicht ist in ähnlicher Weise, wie der Geist nur die unendlich kleinste Substanz, das Gute nur die subtilste Entwicklung des Bösen aus sich heraus sein kann, der freie Wille nichts als die höchste Potenz des Fatums. Weltgeschichte ist dann Geschichte der Materie, wenn man die Bedeutung dieses Wortes unendlich weit nimmt.

Im Nachklang einer anempfundenen Stimmung konnte Nietzsche 1862 den Sünderheiland noch mit folgenden Strophen anrufen:

Du hast gerufen.
Herr, ich eile
Und weile
An deines Trones Stufen.
Von Lieb entglommen
Strahlt mir so herzlich,
Schmerzlich
Dein Blick ins Herz ein:
Herr, ich komme.

Ich war verloren,
Taumeltrunken
Versunken
Zur Höll und Qual erkoren.
Du standst von ferne:
Dein Blick unsäglich
Beweglich
Traf mich so oft:
nun komm ich gerne.

Ich fühl ein Grauen
Vor der Sünde
Nachtgründe
Und mag nicht rückwärts schauen.
Kann dich nicht lassen,
In Nächten schaurig,
Traurig
Seh ich auf dich und muß
dich fassen.

Du bist so milde,
Treu und innig,
Herzinnig,
Lieb Sünderheilandsbilde!
Still mein Verlangen,
Mein Sinnen und Denken
Zu senken
In deine Lieb', an dir
zu hangen.

Zwei Jahre später weiht er sich »dem unbekannten Gott« mit tiefgefühltem, und doch nur poetischem Ernst:

Noch einmal, eh' ich weiter ziehe
Und meine Blicke vorwärts sende,
Heb' ich vereinsamt meine Hände
Zu dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
Daß allezeit
Mich deine Stimme wieder riefe.
Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: dem unbekannten Gotte;
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich – und ich fühl' die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.

Der unbekannte Gott war doch noch der Schatten des Gottes seiner Mutter. Daß er sich dem Gott weihte, den er erst erkennen wollte, war eine letzte Huldigung an den Gott, den er aus dem Gesicht verlor. Nietzsche hat es auch später geliebt, einem Abschied auf Nimmerwiedersehen die Form einer Huldigung zu geben. –

Mehr nur der Kuriosität wegen möge doch auch erwähnt werden, wie er sich als Schüler der Pforta offiziell zur Religion stellte. Es wurde ihm beim Abgang auf die Universität bezeugt:

Im Unterricht bewies er ein reges und lebendiges Interesse an den Heilslehren des Christentums, eignete sich dieselben leicht und sicher an, verband damit ein gutes Verständnis des neutestamentlichen Grundtextes und verstand es auch, mit Klarheit sich darüber auszusprechen. Es wird ihm deshalb das Prädikat Vorzüglich erteilt, wie er denn auch in der mündlichen Prüfung vorzüglich bestand.

Beim Abschied aber wandte er sich in den üblichen Danksagungen zuerst an Gott mit den Worten:

Ihm, dem ich das Meiste verdanke, bringe ich die Erstlinge meines Dankes; was kann ich ihm anderes opfern als die warme Empfindung meines Herzens, das lebhafter als je seine Liebe wahrnimmt, seine Liebe, die mich diese schönste Stunde meines Daseins erleben ließ? Behüte er mich auch fernerhin, der treue Gott!


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