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13. Kapitel.

»Menschliches, Allzumenschliches« bedeutet keine Revolution, nur eine Evolution in Nietzsches Entwicklung.


Hat er denn überhaupt seine Überzeugung geändert? Hat er sie so stark, so radikal geändert, wie er uns glauben macht? glauben machen will? wie er selbst glaubt? Eine sonderbare Frage: das muß doch Er am besten wissen! Aber wenn wir über seiner neuen Schrift nicht seine alten vergessen, wird uns dieser Wechsel der Überzeugung immer zweifelhafter.

Er entdeckt jetzt: »Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der menschlichen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen (II, 18). »Chemie der Vorstellungen und Empfindungen« hat Nietzsche schon bisher betrieben, und vor ihm Schopenhauer, Kant, Leibniz, Spinoza, Cartesius, Hume, Locke usf. usf. Man hatte das bisher nur nicht so genannt. Auch waren ihre Ergebnisse gar nicht so viel schlechter als die auf der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften erzielten. Wir treffen unter Nietzsches neuen Gedanken sehr viele alte Bekannte.

Aber »alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie von dem gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben ans Ziel zu kommen meinen« (II, 18). Das ist allerdings ein »Erbfehler der Philosophen«: denn sie können gar nicht anders. Sie müssen nämlich von sich ausgehen, um andre Menschen, um den Menschen zu verstehen. Also von dem gegenwärtigsten Menschen, den es für sie gibt. Das hat Nietzsche bisher getan – ohne sich dessen bewußt zu sein; das tut er auch fernerhin – ohne sich dessen bewußt zu werden.

Und Nietzsche hat auch schon bis jetzt die Geschichte des Menschen, die er von sich aus zu verstehen suchte, weil er sie allein von sich aus verstehen konnte, benutzt, um sich selbst besser zu verstehen. Er war ja Historiker von Fach. Doch beschränkte er sich bis jetzt auf die Geschichte, die wir wenigstens ungefähr kennen. Jetzt dehnt er das Gebiet der Geschichte auf die Urzeiten aus, die er eingestandenermaßen nicht kennt. Wie er nämlich jetzt entdeckt, »ist alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen viertausend Jahren, die wir ungefähr kennen«. Aus diesen Urzeiten, die wir nicht einmal ungefähr kennen, holt er nun harmlos heraus, was er von sich aus in sie hineindenkt; wie er aus der Geschichte der Griechen, die wir wenigstens ungefähr kennen, in seinem Erstlingswerk harmlos herauslas, was er von sich aus durch Wagner und Schopenhauer hindurch in sie hineindachte. Denn »von jetzt ab ist das historische Philosophieren nötig, und mit ihm die Tugend der Bescheidung« (II, 18 f.).

Daß Nietzsche von der »metaphysischen« Philosophie zur »historischen« Philosophie übergeht, ist nur eine nominelle Änderung in der Methode seines Denkens. An Wirklichkeit bleibt es so unmethodisch wie bisher.

Und nun die neuen Überzeugungen, die er mit seiner neuen Methode gewinnt!

Er verkündigt jetzt frei heraus: »Alles ist geworden« (II, 19). Aber schon früher hat er die Lehre von dem »souveränen Werden« für wahr gehalten und nur öffentlich erklären zu sollen geglaubt, daß sie im Interesse der Kultur geheim gehalten werden müßte (I, 366 f.). Übrigens findet er sich jetzt so wenig wie früher veranlaßt, genau zu bestimmen, was er unter »Werden« versteht. Und es ist zu vermuten, daß er jetzt so wenig wie früher an ein »Werden« glaubt. Die Naturwissenschaft, ohne die die historische Philosophie nicht zu denken sei, rechnet mit einem souveränen »Werden« nicht. Auch früher nahm Nietzsche als Historiker nicht an, daß z. B. die griechische Tragödie einfach »geworden« sei.

Es gibt »keine ewigen Tatsachen«, dekretiert jetzt Nietzsche (II, 19). Er erklärt sich auch darüber nicht, was er unter »Ewigkeit«, »Tatsache«, »Ewigkeit einer Tatsache« versteht. Welche »ewigen Tatsachen« es nicht gebe, läßt er uns erraten. Daß alle Arten und Typen flüssig seien, deshalb auch nicht »der Mensch« als ein Gleichbleibendes ein sicheres Maß der Dinge sei, hatte er übrigens schon früher erkannt. Andrerseits glaubt er an eine Schöpfung der Welt aus Nichts schon lange nicht mehr: die Welt selbst sollte ihm also eine ewige Tatsache sein. Auch nimmt er wohl nach wie vor an, daß sich alle Veränderung m der Welt nach ewigen, unveränderlichen Gesetzen vollziehe. Sind Gesetze keine Tatsachen? Nietzsche glaubt nach wie vor an ewige Tatsachen, an die er nach wie vor nicht glaubt.

… »so wie es keine absoluten Wahrheiten gibt«, fährt Nietzsche fort, und behauptet damit als absolute Wahrheit, daß es keine absolute Wahrheit gibt. Er glaubt also auch jetzt noch an absolute Wahrheit, wie er andrerseits schon früher glaubte, daß der gierige Wille seine Geschöpfe durch Illusion verschiedener Art im Leben festhalte. Er weiß nicht, was er sagt. Denn er fragt sich nicht lange: was ist denn das eigentlich: »Wahrheit«? welche besondere Art von Wahrheit ist die »absolute« Wahrheit? ist die nicht »absolute« Wahrheit überhaupt »Wahrheit«? In den Urzeiten herumschnüffelnd findet er nicht die Zeit, sich klar zu machen, wie sich Frage, Vermutung, Meinung, Überzeugung, Wahrheit zu einander verhalten. So redet er denn auch über Wahrheit im allgemeinen, wie wenn es so was gäbe: da doch A's Wahrheit für B nur A's Überzeugung ist, bis B sich selbst davon überzeugt hat, daß er sich A's Meinung als Wahrheit zueignen muß; da doch diese Meinung dann nur für A und B Wahrheit, für C aber wieder nur deren Überzeugung ist, bis auch er sich von der Wahrheit dieser Meinung überzeugt hat usf.; da doch sogar die gemeinsame Wahrheit aller nur die gemeinsame Überzeugung aller sein kann und gar nicht Wahrheit zu sein braucht. Von diesem Sachverhalt hat Nietzsche eine unklare Ahnung; aber er läßt sich dadurch nicht verhindern, seine Wahrheit als die Wahrheit auszusprechen, und behandelt deshalb die Wahrheit des Andern nicht als dessen bloße Überzeugung, sondern sofort als Irrtum. Dabei ist er bei allem Wandel seiner Meinungen verblieben.

Die Grundlage seiner Weltanschauung hat sich also nicht geändert. Auch im Einzelnen hat er nur scheinbar umgedacht.

Er leugnet jetzt die intelligible Freiheit, die er früher mit Schopenhauer hätte behaupten sollen. Aber er hatte auch früher für die intelligible Freiheit keine Verwendung gehabt. Brauchte er sie nicht, so glaubte er sie auch nicht.

Er leugnet jetzt, daß es ein völlig interesseloses Anschauen gebe; also (da jedes interesselose Anschauen völlig interesselos sein muß), daß es überhaupt ein interesseloses Anschauen gebe. Aber auch als Schopenhauerianer hat er die Kunst nicht aus einem interesselosen Anschauen abgeleitet. Die apollinische Kunst entspringt ihm da einer Stimmung gegen das Leben, worin der Mensch sich selbst zurufen möchte: »Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!« (I, 21). Die dionysische Kunst aber entspringt aus einer Stimmung gegen das Leben, die aus einem ungeheuren Grausen und einer wonnevollen Verzückung gemischt ist (I, 23). Interesseloses Anschauen spielt in der Kunstwelt des Traumes so wenig eine Rolle wie in der Kunstwelt des Rausches. Die Wissenschaft aber entspringt der Lust des Erkennens und dem Wahn, durch das Erkennen die ewige Wunde des Daseins heilen zu können (I, 127): besteht also nicht in interesselosem Anschauen. Ebensowenig natürlich die dionysische Weisheit, die dem dionysischen Erlebnis entspringt. Kurz: Nietzsche hat auch früher ein interesseloses Anschauen nicht gekannt und hat es nur nicht geleugnet.

Nietzsche leugnet jetzt, daß es, streng gefaßt, ein unegoistisches Handeln gebe; leugnet also, daß es überhaupt ein unegoistisches Handeln gebe. Das ist neu. Wenn aber das Leben in dem dionysischen Erlebnis sich erschließt und rechtfertigt; also darin, daß man in unbändiger Daseinsgier unendliche Daseinsqual und unendliche Daseinslust erlebt: so ist selbstloses Handeln nicht im reinsten, tiefsten, mächtigsten Erleben des Lebens gegründet, also, wenn es je so was gibt, kein wesentliches Element des Lebens. Daß in dem dionysischen Erlebnis der Mensch auf kurze Augenblicke nicht er selbst ist sondern das Urwesen, nicht sich selbst fühlt sondern Urschmerz und Urlust des Urwesens, macht ihn nicht selbstlos. Da endlich in diesem Erlebnis das Bewußtsein individueller Existenz, also auch der Gedanke an die individuelle Existenz eines anderen Wesens, erlischt, entspringt ihm auch kein Mitgefühl, weder Mitleid noch Mitfreude. Und wie dann auch Nietzsche die Kultur fassen mag: daß die Sorge für sich selbst sich der Fürsorge für andere ein- und unterordnen müßte, ist kein wesentliches Element der Kultur, die ihm im Sinne liegt. Leitmotiv seines Nachdenkens über die Kultur ist nicht das Leben für andre, sondern das Streben nach dem höheren Leben. Spricht Nietzsche die Ahnung aus, daß der höhere Mensch für den, der unter ihm steht, da sei, so meint er damit doch nicht, daß es die Absicht des Starken sein solle, für den Schwachen zu leben. Selbstloses Leben für andere wird aber verneint, wenn es nicht als das Leben anerkannt wird, das erst und allein lebenswert ist. Nietzsche hat es früher implicite geleugnet, jetzt leugnet er es explicite.

Gleich geblieben ist sich Nietzsche darin, daß ihm der Wert des Lebens in die Kultur fällt. Nur daß er jetzt nicht von einem festen Begriff der Kultur ausgeht, sondern einen solchen erst gewinnen will, indem er die Anzeichen niederer und höherer Kultur feststellt. Oder vielmehr: er urteilt jetzt über die Höhe der Kultur, ohne erst den Begriff der Kultur zu fixieren, aus dem er allein ein Urteil über die Höhe der Kultur gewinnen kann.

Geändert hat sich in Nietzsches Denkweise nur, daß er die höchste Höhe des Lebens nicht mehr in dem »Genius« sieht, sondern in dem »freien Geist«. Doch schätzte er den Genius früher auch als den freien, sehr freien Geist. Und ob er den »freien Geist« jetzt nicht auch als »Genius« schätzt? Jedenfalls ist er jetzt so wenig wie früher geneigt, in dem gewandten Techniker der Wissenschaft einen höheren Menschen zu sehen. Aber Nietzsche hat sich nicht die Mühe genommen, uns genau zu erklären, was er unter einem Genius und unter einem freien Geist sich denkt. Auch darin bleibt er sich gleich.

Verwunderten, entsetzten sich Nietzsches Freunde über seine Wandlung, so verrät das nur, daß sie seine Schriften nicht genau lasen. Fühlte sich Nietzsche selbst als »Verräter«, so beweist das nur, daß er sich selbst nicht verstand.


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