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27. Kapitel.

Letzte Schriften (1886-88). Moral der Vornehmheit.


»Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« So zu seinem Herzen sprechend, zieht sich Zarathustra wieder in seine Einsamkeit zurück.

Aber zu einem Werke, zu seinem Werke, reicht Nietzsche die Kraft nicht mehr. Für ein Werk ist die Konzentration des Geistes wichtiger als die Fruchtbarkeit an Einfällen, Stimmungen, Vorsätzen; wichtiger auch als Fleiß und Geschick in der Arbeit. Und Nietzsche vermag sich nicht mehr, vermag sich weniger als je zu konzentrieren. Krampfhafte Anstrengungen zur Konzentration und Anfälle von Konzentration lassen seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, die Konzentration zu behaupten, nur um so greller hervortreten. »Jenseits von Gut und Böse« (1886) ist in der Tat nur ein »Vorspiel zu einer neuen Philosophie« und auch als Ouverture viel zu lose komponiert. »Zur Genealogie der Moral« ist eine Wiederholung schon öfters wiederholter Gedanken, die für sein Werk auch dadurch nicht notwendig wird, daß er darin vielleicht am besten zum Ausdruck bringt, was er nicht will. Als »Streitschrift« ist sie so wie so überflüssig. »Der Fall Wagner« (1888) erregt einen Verdacht, den Nietzsche um seines Werkes willen unbedingt hätte vermeiden sollen: daß er auch durch Ressentiment bestimmt sei. »Nietzsche kontra Wagner« ist eine für sein Werk gänzlich überflüssige Wiederholung oft wiederholter Gedanken. In der »Götzendämmerung« (1888) zeigt Nietzsche, »wie man mit dem Hammer nicht philosophiert«: denn da schlägt er mit dem Hammer mehr um sich, als daß er ihn mit einem gewaltigen Streich auf das Haupt des Erzfeindes hätte niedersausen lassen. Auch »der Antichrist« (1888) gefällt sich zu sehr in geistreichen Manövern, als daß er dem Christus die eine, große, entscheidende Schlacht liefern könnte. In » Ecce homo« gelingt es Nietzsche nicht, zu zeigen, »wie man wird, was man ist«, und noch weniger, zu zeigen, was er eigentlich will. Auch aus der hinterlassenen verworrenen und verwirrenden Fülle von Vorarbeiten zu seinem Hauptwerk »Der Wille zur Macht« ist vor allem das zu erkennen, daß er selbst nicht weiß, was er eigentlich, letztlich, wirklich will.

In diesen letzten Schriften überwiegt die Polemik so sehr, daß der Anschein entsteht, in Nietzsche sei die Liebe nur die Kehrseite des Hasses. Er gibt sich da so ganz und gar als der »Antichrist«, daß er nicht bloß automatisch jedem Ja des Christentums sein Nein entgegensetzt, sondern auch je und je an den klassischen Ausspruch jenes oppositionellen Abgeordneten erinnert: »Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie«. Oder: Christentum muß sein, was Nietzsche mißbilligt. Ich gehe doch, gegen den Schein, aber doch damit vielleicht den wirklichen Tatbestand treffend, von der Annahme aus, daß Nietzsches Haß die Kehrseite einer Liebe war; und suche also zuerst zu verstehen, was er eigentlich wollte, um von da aus zu verstehen, was er (insbesondere als Christentum) ablehnte.

Nietzsche will das Problem stellen: »welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren« (VIII, 218). Damit stellt er sich das weitere Problem, wie der von ihm gewollte höhere Typus Mensch gezüchtet werden könne. Und uns drängt sich endlich die Frage auf, was er selbst zur Züchtung des höheren Typus Mensch tun wollte.

Der höhere Mensch ist für Nietzsche jetzt der vornehme Mensch. Was ist nun »vornehm«? Diese Frage hat sich Nietzsche ausdrücklich gestellt und auch ausführlich, aber leider nicht in zusammenhängender Entwicklung seiner Gedanken beantwortet (VII, 233-274). Ich bringe was er sagt in eine solche Ordnung, daß möglichst kräftig hervortritt, was vornehm ist, und nicht (wie bei Nietzsche selbst) das Vornehme sich überwiegend als Gegensatz des Nicht-Vornehmen darstellt.

» Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich« (VII, 267). Also ist »Vornehmheit« ursprünglich und wesentlich ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst; im Verhältnis zu andern Menschen ist vornehm doch nur, wer für sich selbst vornehm ist. Für ein Verhältnis zu sich selbst ist »Vornehmheit« freilich nicht eben eine günstige Bezeichnung, da man nun einmal vornehm ist vor andern. Darum ist nur um so stärker zu betonen, daß die vornehme Seele zuerst und zuletzt vornehm ist für sich selbst, ohne Beziehung zu, ohne Vergleich mit andern Menschen.

Indem die vornehme Seele sich selbst achtet, liebt sie zugleich sich selbst; und zwar ist ihre Liebe Achtung und auch ihre Achtung Liebe. Das hat Nietzsche nicht gerade so gesagt, dürfte aber doch seinen Sinn genau ausdrücken. Daß aber die vornehme Seele sich selbst liebt, ist wieder ein reines Verhältnis zu sich selbst. Sie liebt sich selbst nicht im Gegensatz zu andern, die sie nicht liebt, und nicht vor andern, die sie weniger liebt; sie liebt einfach und schlicht sich selbst, ohne sich mit anderen zu vergleichen, ohne sich an andern zu messen.

Was achtet und liebt die vornehme Seele an sich selbst? was an ihr selbst flößt ihr Achtung und Liebe ein? Diese Frage ist in Nietzsches Sinn wohl als sinnlos abzulehnen. Die vornehme Seele flößt sich eben Achtung und Liebe ein: das ist letzte Tatsache, ein Urphänomen. Was sie an sich achtet und liebt, ist nicht die Ursache, sondern die Folge ihrer Achtung vor sich selbst, ihrer Liebe zu sich selbst. Aus ihrer Achtung und Liebe folgt aber im allgemeinen, daß sie sich erhalten will – und natürlich so erhalten will, daß sie sich achten und lieben kann. Darin liegt im besondern: daß sie sich selbst ein Mysterium ist, das man nicht durch zudringliche Neugier profanieren darf; daß sie andrerseits redlich ist gegen sich selbst, reinlich in ihrem Verhältnis zu sich selbst; daß sie in ihrer Selbstbehauptung keinem drohenden Schmerz ausweicht, sich durch keinen Schmerz irre machen läßt. Die vornehme Seele verzichtet also in ihrer Freude an sich selbst auf Bequemlichkeit; sie ist in jedem Sinne tapfer.

Natürlich ist nun aber die vornehme Seele vornehm auch in ihrem Verhältnis zu andern Menschen und in ihrem Verhalten gegen andere Menschen. Worin besteht, worin äußert sich diese Vornehmheit gegen andere?

Die vornehme Seele hat Sinn für Distanz: sie läßt sich nicht zu nahe kommen und tritt niemand zu nahe. Damit erweitert sie nur ihr Verhältnis zu sich selbst auf andere. Sie tritt ja sich selbst nicht zu nahe, hält Distanz von sich selbst.

Die vornehme Seele hat Sinn für Rang. Sie sieht hinab und hinauf – wie es dem wirklichen Verhältnis zu andern entspricht; sieht hinab ohne Selbstüberhebung, sieht hinauf ohne Selbstverachtung: in dem Selbstwert, den sie für sich hat, kann sie ihren relativen Wert unbefangen abschätzen, kann dabei ebenso selbstverständlich ihren Mehrwert behaupten wie ihren Minderwert zugestehen. In diesem Sinne ist sie auf allen Gebieten des Lebens vornehm, insbesondere aber in Beziehung auf die Vornehmheit selbst. Denn auch diese hat ihre relative Höhe.

Die vornehme Seele richtet ihr Verhalten gegen andere dem tatsächlichen Rangverhältnis entsprechend ein. Sie verkehrt also mit Menschen gleichen Rangs wie mit sich selbst. Von Wesen niedrigern Ranges nimmt sie als selbstverständlich an, daß sie ihr untertan sein müssen und sich ihr zu opfern haben. Dieser »Egoismus« gehört zum Wesen der vornehmen Seele. Andrerseits nimmt sie natürlich ebenso selbstverständlich an, daß sie einem Wesen höhern Rangs untertan sein muß und sich zu opfern hat. Dieser »Altruismus« gehört ebenso gut zum Wesen der vornehmen Seele.

Nietzsche stellt seine These: »Der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele«, auf die Gefahr hin auf, »unschuldige Ohren mißvergnügt zu machen«. Das ist für ihn kein Grund, ihren Sinn möglichst sorgfältig zu bestimmen; das reizt ihn eher, nicht so gar selten eine Gesinnung als vornehm gelten zu lassen oder gar zu preisen, die mit der Ehrfurcht vor sich selbst sich nicht verträgt.

Gesetzt nämlich, in der Ehrfurcht der vornehmen Seele vor sich selbst liege der »unverrückbare Glaube«, »daß einem Wesen, wie ›wir sind‹, andre Wesen von Natur untertan sein müssen und sich ihm zu opfern haben«: so kann dieser »unverrückbare Glaube« doch auch einer ganz andern Quelle entspringen als der Ehrfurcht vor sich selbst. Er kann sich nämlich auch auf ein ererbtes »Recht« stützen und sogar, ohne diesen Hilfsgedanken, auf die bloße brutale Übermacht. In der Tat neigt der Mensch, je roher er ist, desto mehr dem Glauben zu, daß andere ihm untertan sein und sich opfern müssen – oder daß er andere unterdrücken und sich opfern dürfe. Für das Tier versteht sich das ganz von selbst. Für Nietzsche aber gibt es ein auf Vererbung beruhendes »heiliges« Recht nicht: das ist ihm bloßer Aberglaube; und das Selbstgefühl, das aus dem Bewußtsein überlegener Körperkraft oder Schlauheit oder aus dem Besitz größerer Machtmittel fließt, ist doch nicht Ehrfurcht vor sich selbst, sollte ihm also nicht imponieren.

Aber Nietzsche ist der Meinung (ob mit Recht oder mit Unrecht, kann dahingestellt bleiben), daß Vornehmheit nur ererbt sein könne. Ein vornehmer parvenu dürfte für ihn eine contradictio in adjecto sein. Und nun vererbt sich die Gewohnheit, andre selbstverständlich, unbedenklich, ja gedankenlos als Mittel zum Zweck zu betrachten und zu behandeln, mindestens leichter als die Ehrfurcht vor sich selbst, und auch ohne diese. Verzichtet sie dann noch darauf, sich vor andern und sich selbst durch die Berufung auf ein Recht zu rechtfertigen, so ist Nietzsche nicht ungeneigt, sie auch ohne Ehrfurcht vor sich selbst als »vornehm« gelten zu lassen. Dann macht ihn sogar das nicht irre, daß sie mit offener Brutalität auftritt: denn »Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung« (VII, 238). Damit ist freilich die Vornehmheit als Typus höheren Lebens aufgegeben: das Leben im allgemeinen ist doch nicht höheres Leben. Dagegen wird die Berufung auf das allgemeine Wesen des Lebens wieder aufgegeben und die Vornehmheit wieder zur Geltung gebracht, wenn der Schwächere sich mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln der Unterdrückung, Ausbeutung usf. zu erwehren sucht. Er kann ja allerdings nicht des unverrückten Glaubens leben, daß andre Wesen ihm von Natur untertan sein und sich opfern müssen. Daß er sich trotzdem zu behaupten sucht, wird ihm von Nietzsche sehr übel genommen.

So etwa verhält es sich mit dem Typus des höheren Menschen, den Nietzsche im Sinne hat. Wie aber kann dieser Typus gewollt werden?

Er muß »gezüchtet« werden, sagt Nietzsche. Also müßten Menschen mit Ehrfurcht vor sich selbst gezüchtet werden. Wie das zugehen soll, ist nicht leicht einzusehen, von Nietzsche auch nicht untersucht worden. Dagegen kann das Verhalten gegen Menschen gleichen, niedrigeren und höheren Rangs (zugleich mit einer gewissen Unterscheidung der Menschen nach ihrem Rang) innerhalb einer gewissen Gesellschaft von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzen: und somit wäre von einer vornehmen Gesellschaft dafür zu sorgen, daß das vornehme Verhalten durch Vorbild, Belehrung und Erziehung fortgepflanzt und fortgebildet wird. Sofern es durch »Einverleibung« zum Instinkt werden muß, käme hierfür auch die Züchtung in Betracht: also doch wohl die Inzucht in dem vorauszusetzenden Verband höherer, vornehmer Menschen. Aber die Fortpflanzung der Vornehmheit ist durch die Fortpflanzung der vornehmen Menschen bedingt: der »höherwertigere« Mensch muß also auch der »zukunftsgewissere« sein. Also ist bei der Züchtung des höheren Menschen überhaupt darauf zu achten, daß das Schwache, Krankhafte, Dekadente, Degenerierte nicht bloß nicht erhalten, sondern zum Absterben gebracht werde – ohne Rücksicht darauf, daß solche Elemente auch, und sogar besonders stark, am Leben hängen. Dem gesunden, kräftigen, einer höhern Entwicklung fähigen Menschen fällt diese Aufgabe zu, der er sich nicht in einem weichlichen Mitleid entziehen darf. Daß er dem Schwachen und Mißratenen hilft zu Grunde zu gehen: das gerade ist die Menschenliebe des vornehmen Menschen.

Nietzsche selbst glaubt zur Ausscheidung alles Entarteten aus der Menschheit das radikale Mittel entdeckt zu haben: in der Verkündigung der »ewigen Wiederkunft«, in der er darum seine besondere Aufgabe sieht. Denn den Gedanken der ewigen Wiederkunft erträgt nur der gesunde, starke Mensch. Doch sind Nietzsche selbst Zweifel an der Wirkungskraft seines größten Gedankens gekommen. Tatsächlich tritt in Nietzsches Agitation die Verkündigung der ewigen Wiederkunft zurück hinter der Kritik des Christentums.


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