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16. Kapitel.

»Menschliches, Allzumenschliches«: Urteil über das Christentum. Das Wunder der christlichen Erlösung und Heiligkeit wird psychologisch wegerklärt.


Insbesondere ist das Christentum eine bloße Verirrung der Vernunft und Phantasie. Was in der Seele des Christen vor sich geht, läßt sich rein psychologisch erklären, ohne jede Mythologie. Damit ist denn auch das Christentum wegerklärt. Wer sich als »Christ« richtig verstanden hat, hört auf Christ zu sein. Nietzsche sagt zwar: mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie, durch die »Einer« zum Christen werde, höre man auf, Christ zu sein. Da man aber nur aufhören kann Christ zu sein, wenn man Christ ist, muß es auch der Christ selbst sein, der zu dieser Einsicht in sich selbst kommt. Durch welches Verständnis seiner selbst hat also der Christ Nietzsche aufgehört Christ zu sein? Hören wir ihn selbst (II, 136 ff.)!

Der Mensch ist sich gewisser Handlungen bewußt, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief stehen; ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gern versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten anerkannt sind; wie gern fühlte er sich voll des guten Bewußtseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener böse genannten Handlungen in ihm erregt haben; so daß eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblick nach einem Arzte, der diese, und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. – Dieser Zustand würde nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit andern Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maße unzufrieden zu sein; er trüge dann eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen fähig sein soll, die unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden Bewußtsein einer selbstlosen Denkweise leben soll, mit Gott; dadurch, daß er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt ihn der Gedanke an dasselbe Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen und großen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohungen zu erkennen, ja die Geißelschläge seines Richter- und Henkertums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine unermeßliche Zeitdauer der Strafe an Gräßlichkeit alle andern Schrecknisse der Vorstellung überbietet?

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Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrtümer in das Gefühl der Selbstverachtung geraten, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen, so muß er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält; wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies alles von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und mutig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber, das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der notwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung durch die Zeit, den Sieg davon getragen: der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es – aber gerade diese neue Liebe, diese neue Selbsteinschätzung kommt ihm unglaublich vor; er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines Gnadenglanzes von oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine Erfahrungen die göttliche Güte hinein: dies Ereignis kommt ihm liebevoll, jenes wie ein hilfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, daß Gott gnädig sei. Wie er früher, im Zustande des Unmutes, namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse; die getröstete Stimmung faßt er als Wirkung einer außer ihm waltenden Macht auf; die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe; das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung.

Dem Wunder der christlichen Erlösung entspricht das Wunder der christlichen Heiligkeit. Auch diese ist einer rein psychologischen, von aller Mythologie freien Erklärung fähig. Das Ergebnis ihrer Analyse ist (II, 150 f.):

Jener Seelenzustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir alle recht wohl kennen, nur daß sie sich unter dem Einflusse anderer als religiöser Vorstellungen anders gefärbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen – mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht um jeden Preis ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht gibt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschießen zu lassen, über in das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammen steigen zu machen, unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller störenden, quälenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoße einer dumpfen, tier- und pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält: er geißelt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhr seiner Begierden und dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verlorenseins; er versteht es, seinen Affekten, zum Beispiel dem der äußersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so daß er in die äußerste Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Kontrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt, wenn es ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Toten und göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinkt, spricht das ganze Geheimnis einmal mit naiver Freude aus: »Es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.«

Dieses Christentum ist nun freilich eine Verirrung der Vernunft und Phantasie – vielmehr: der Phantasie ohne Vernunft. Wenn Nietzsche sich und anderen dieses Christentum wegerklärt, hat er eine Leistung vollbracht, um die ihn ein Irrenarzt beneiden kann. Aber der Irrenarzt wird diesem Erfolg nicht so recht trauen: Geisteskrankheit wird nicht wegerklärt. Hat Nietzsche einmal an diesem Christentum gelitten, so können wir seiner weiteren Entwicklung nur mit Sorge entgegensehen. Und wenn er es nur vom Hören-Sagen kennt, so erweckt sein von einer »sympathetischen Antipathie« inspiriertes Verständnis für dieses Christentum allein schon Verdacht gegen seine geistige Gesundheit. Ob aber dieses Christentum das Christentum ist: das lassen wir so lange dahingestellt, bis die christlichen Theologen das Wesen des Christentums einhellig bestimmt haben. Dagegen müssen einige versteckte Voraussetzungen ans Licht gezogen werden, von denen Nietzsche in seiner Analyse des angeblichen oder wirklichen Christentums ausgeht. Sie verstehen sich nicht so ganz von selbst, wie Nietzsche meint.

Nietzsche leitet das Erlösungsbedürfnis der Christen ab aus der »Unzufriedenheit mit sich selbst«; also nicht aus dem Leiden unter seinem Zustande, sondern aus dem Leiden unter dem Urteil über seinen Zustand. Nicht ein gewisser Zustand macht den Christen erlösungsbedürftig, sondern daß sein Zustand »Sünde« sei – für »Sünde« gilt: brauchte er denselben Zustand nicht mehr für »Sünde« zu halten, so würde er in demselben Zustand auch nicht mehr das Bedürfnis der Erlösung haben. Man hat im Christentum gewissen natürlichen Erregungen (z. B. den erotischen, den egoistischen) die Vorstellung des Sündhaften »angehängt«: deshalb, und nur deshalb leidet der Christ darunter; nicht unter den natürlichen Erregungen selbst. Denn »dieses Leiden an dem Natürlichen ist in der Realität der Dinge völlig unbegründet; es ist nur die Folge von Meinungen über die Dinge« (II, 148). – Ich erlaube mir zu bezweifeln, ob Nietzsche das selbst glaubte. Sollte er niemals verschmeckt haben, daß man von Sinnlichkeit, Eifersucht, Neid gequält werden kann? Meint er, die Eifersucht sei dem keine Hölle, der sich ihr ohne Skrupel überläßt? der seiner Ehrenpflicht genügt, sich Genugtuung zu verschaffen? Weiß er nichts davon, daß der Eifersüchtige seine Eifersucht, wenn er sie auch nicht sündhaft glaubt, doch albern, lächerlich finden kann? Der Psychologe des Allzu-Menschlichen scheint von dem Allzu-Menschlichen eine recht mangelhafte Kenntnis zu haben. Daß man seine Natürlichkeit sich zur Sünde macht, dürfte gar nicht so selten ein Mittel sein, die Zufriedenheit mit sich selbst noch zu behaupten! Ein eitler Mensch ist doch lieber ein großer Sünder als ein kleiner Tor! Und das dürfte vielleicht der tiefste Grund für die Erfindung der »Sünde« sein! Übrigens leitet Nietzsche selbst auf diese Spur: wie kann er dann aber das Leiden am Natürlichen rundweg leugnen?

Ferner findet Nietzsche die Unzufriedenheit mit sich selbst noch nicht so bitter, solange man sich nur mit andern Menschen vergleiche: dann habe man nämlich keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maße unzufrieden zu sein; erst durch die Vergleichung mit dem heiligen Gott werde die Unzufriedenheit mit sich selbst ganz unerträglich. Das erstere mag auf nicht wenige Menschen stimmen; nur werden gerade diese sich darüber leicht trösten, daß sie den Vergleich mit dem heiligen Gott nicht ertragen, werden deshalb auch den Zorn Gottes nicht tragischer nehmen – als er von den Christen gemeinhin genommen wird. Wer sich noch mit Menschen vergleicht, vergleicht sich mit Gott im Ernste nicht, glaubt auch nicht im Ernst an den Zorn Gottes. Und wer seinen Zustand »nicht so bitter« empfindet, weil er keinen Grund hat mit sich in besonderem Maße unzufrieden zu sein: dessen Zustand ist wirklich noch »nicht so bitter«. Er bedarf gar keiner Erlösung; und kann sich deshalb auch mit einer Schein-Erlösung begnügen. – Nietzsche rechnet nicht mit ernstem Leiden. Solches tritt erst ein, wenn man sich nicht mehr vergleicht, weder mit Menschen, noch mit Gott; und wenn man nicht mehr unter dem Urteil über seinen Zustand leidet, sondern unter seinem Zustand. Nietzsche rechnet darum auch nicht mit einem wirklichen Bedürfnis nach wirklicher Erlösung: das eben erst in wirklichem, ernstem Leiden entsteht. Mag nun eine sogenannte christliche Erlösung nur einem sogenannten christlichen Erlösungsbedürfnis genügen (dem Erlösungsbedürfnis von Menschen, die nur unter Unzufriedenheit mit sich selbst leiden, d. h. unter der Vergleichung mit andern Menschen und mit Gott, d. h. unter unbefriedigtem »sittlichem« und »religiösem«, »christlichem« Ehrgeiz); und mag Nietzsche das überzeugend nachgewiesen haben: wichtiger wäre doch, daß er neben dem Allzu-Menschlichen auch dem Menschlichen sein Recht werden ließe: daß er im Ernst untersuchte, wie der Mensch, der wirklich leidet, von seinem Leiden wirklich erlöst wird. Mit der Einbildung, es stehe in seiner Hand, zu erreichen, daß all sein Erlebtes in seinem Ziel ohne Rest aufgehe – mit dieser Einbildung ist der wirklich Leidende doch so wenig wirklich erlöst als mit der Einbildung, daß Gott ihm seine »Sünde« »vergeben« habe. Aber Nietzsche scheint bis dato von dem Menschlichen eine ebenso mangelhafte Kenntnis zu haben wie von dem Allzu-Menschlichen. So viel Unangenehmes, Peinliches er schon erlebt hat: wirkliches Leiden kennt er noch nicht; und darum auch kein wirkliches Bedürfnis nach Erlösung, das nur durch eine wirkliche Erlösung zu befriedigen wäre.

Endlich: Nietzsche denkt sich den christlichen Heiligen als einen Asketen, der sich geflissentlich Qualen zufügt oder doch Entsagungen auferlegt. Und er sucht also die wahren Motive dieser Askese aufzudecken – denn an die von den Asketen angegebenen Motive glaubt er nicht. Ob er nun die geheimen Triebfedern der Selbstquälerei wirklich entlarvt hat, mag dahingestellt bleiben: aber die »Entsagung« braucht gar nicht Entsagung zu sein, braucht also auch gar keine geheimen Motive zu haben. Vielleicht sind die Genüsse, denen der »Heilige« entsagt, für ihn gar keine Genüsse; er »entsagt« also diesen Genüssen nur in den Augen dessen, dem sie Genüsse sind. Vielleicht widerstehen ihm sogar diese »Genüsse«: und dann kostete es ihn Entsagung, sie zu »genießen«. Ich habe einst dem Theater entsagt, weil es mir als sündhafte Vergnügung widerraten war. Später besuchte ich das Theater manchmal mit ganz gutem Gewissen und ohne nachfolgende Reue – fand aber mehr Verdruß als Genuß darin. Jetzt mute ich mir nur zu, das Theater zu besuchen, wenn ich einen guten Grund dafür habe – also, wenn man so will, aus Pflicht. So geht es mir mit manchen anderen berühmten Genüssen: sie sind mir langweilig oder gar widerwärtig. Dies ist das ganze Geheimnis meiner »Askese«. Ich vermute, daß hinter vieler sogenannter Askese kein anderes Geheimnis steckt. Wenn ich von Tersteegen lese: »die Verleugnung seiner selbst war ihm keine Verleugnung«: könnte das nicht einfache, schlichte Wahrheit sein? Auch beschreibt Tersteegen seinen Gemütszustand gerne mit den schlichten Worten: »Ich bin vergnüget«. Warum sollen wir ihm das nicht einfach glauben? Es gibt eine Selbstlosigkeit, die nicht krampfhafte Selbstverleugnung ist; und diese Selbstlosigkeit ist mit einem »Vergnügen« verbunden, das weder eine dumpfe tier- und pflanzenhafte Indolenz ist, noch ein überspanntes, ekstatisches Seligkeitsgefühl, sondern ein »Friede«, der höher ist als alle Vernunft. Und dieser Gemütszustand dürfte dem »Christentum« vielleicht besser entsprechen als die von Nietzsche beschriebene »Heiligkeit«. Nietzsche selbst fühlt sich veranlaßt, seiner Analyse des Heiligen eine Berichtigung nachzuschicken, die ihre Richtigkeit preisgibt:

Es versteht sich von selbst, daß dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere Empfindung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch große Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher Tatkraft; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgießen: wie es z. B. mit dem berühmten Stifter des Christentums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und deshalb sich sündlos fühlte; so daß er durch eine Einbildung – die man nicht zu hart beurteilen möge, weil das ganze Altertum von Göttersöhnen wimmelt – dasselbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft jedermann sich erwerben kann. – Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen den christlichem Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntnis, die Wissenschaft – so weit es eine solche gab –, die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.

Heiliger Sokrates, bitt' für uns! – Die Lichtströme, die von Wahnvorstellungen ausgegossen werden, verbreiten doch wohl nur ein Licht, in dem man nicht sieht. Oder gibt es neuerdings neben dem finsteren Wahn auch einen lichten Wahn? Was Nietzsche über den berühmten Stifter des Christentums sagt, war schon 1876 nicht mehr unbezweifelte Wissenschaft. Daß der reine Typus durch den Durchschnitt dargestellt werde, versteht sich gar nicht von selbst: der reine Typus ist überall selten. Eine Ausnahme, die sich von der Gattung wesentlich unterscheidet, gehört nicht zur Gattung: der Walfisch ist nicht ein Fisch, der ausnahmsweise durch Lungen atmet. Die von Nietzsche anerkannten Ausnahmen bilden also wohl eine besondere Gattung, die erst besonders zu bestimmen wäre. Dabei dürfte man sich auch vorsichtig überlegen, ob Wahn und Einbildung auf die Dauer große Menschenfreundlichkeit und ungewöhnliche Tatkraft zu verleihen vermögen. Übrigens gibt es für die Wissenschaft, die ja für Nietzsche jetzt Trumpf ist, keinen Zauber, auch nicht den Zauber ungewöhnlicher Tatkraft.


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