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21. Kapitel.

Der Kampf gegen die religiösen Vorurteile (bis 1882): Nietzsche erwartet von dem Glauben an die Sterblichkeit, was nur der Glaube an die Unsterblichkeit leisten kann.


So wenig wie das Dasein »Gottes« ist die »Unsterblichkeit der Seele« für Nietzsche noch eine ernste, offene Frage. Daß er dieses Stück Christentum aufgegeben hat, scheint ihm ein großer Vorteil zu sein; und er setzt offenbar als selbstverständlich voraus, daß sich andern der Glaube an eine Unsterblichkeit der Seele nur als vorteilhaftere Auffassung des Lebens empfehlen könne. Dabei übersieht er, daß ein Glaube einen praktischen Wert gar nicht hat, wenn er nur um eines praktischen Wertes willen »angenommen« wird; so daß also auch die Frage nach dem Wert des Unsterblichkeitsglaubens auf die Frage nach dessen Wahrheit zurückdrängt. Auch sollte es ein Philosoph, der die Leidenschaft der Erkenntnis hat, unter seiner Würde halten, mit einem Gegner zu kämpfen, der einen offenbaren Wahn seiner Nützlichkeit wegen »annimmt«. Doch, unterdrücken wir diese unzeitgemäßen Bedenklichkeiten und sehen wir zu, wie Nietzsche ein Urteil über den Glauben an die Unsterblichkeit und die Sterblichkeit der Seele gewinnt. Das offenbart sich mit genügender Deutlichkeit in einem Aphorismus der »Morgenröte«, »Sterbliche Seelen!« betitelt (IV, 330).

In betreff der Erkenntnis ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft, daß der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten; jetzt hat sie nicht mehr nötig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem mußte. Denn damals hing das Heil der armen »ewigen Seele« von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab; sie mußte sich von heute zu morgen entscheiden, die »Erkenntnis« hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den großen Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist alles nicht so wichtig! – und gerade deshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erscheinen mußten. Wir dürfen mit uns selber experimentieren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die größten Opfer sind der Erkenntnis noch nicht gebracht worden, – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserem Tun jetzt vorauflaufen.

Um zu einem Urteil über diese Urteile zu gelangen, scheiden wir zunächst die Rücksicht auf die »Menschheit« aus: ob sie warten, mit sich experimentieren dürfe. Denn die »Menschheit« ist kein Subjekt, für das diese Fragen praktisch, ernsthaft in Betracht kämen. Warten, experimentieren kann nur der einzelne Mensch. Und es handelt sich ja auch um die Unsterblichkeit nicht der Menschheit, sondern nur der einzelnen Menschenseele.

Nun ist es allerdings ein grotesker Unsinn, daß das Heil der armen ewigen Seele von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens abhänge; daß sie sich deshalb von heut auf morgen entscheiden müsse. Das ist ein grotesker Unsinn: nicht bloß wegen der Kürze des Lebens, sondern weil man sich für »Erkenntnisse« nicht »entscheidet«. Wenn aber jemals jemand diesen Unsinn behauptet hat, so darf man doch einen solchen Toren nicht ernst nehmen! nicht einer Beachtung würdigen! Übrigens ist die christliche Kirche dieser Tor doch nicht. Das sogenannte Symbolum Athanasii behauptet, daß, wer selig werden wolle, vor allem den katholischen »Glauben« bewahren müsse. Auch das dünkt mir ein Unsinn zu sein, den ein Philosoph ignoriert; aber, in diesem Unsinn ist doch noch etwas Sinn. Ob ich, wo die Erkenntnis nicht möglich ist, einen Glauben festhalten oder aufgeben will: das kann zur ernsthaften Frage werden; und schließlich auch, ob ich bei eigenem Zweifel das Vertrauen in das Wissen eines andern festhalten oder aufgeben will. Die beseligende Erkenntnis aber wird ja von dem Christentum auf das ewige Leben vertagt: also kann es die Erkenntnis in der Zeit nicht zur Bedingung der Seligkeit machen.

Ignorieren wir also diesen Unsinn, wie er es verdient, so fragt es sich: kann ich auf das Eintreten der Erkenntnis ruhiger warten, wenn die zur Verfügung stehende Zeit begrenzt ist? oder wenn sie sich ins Unbegrenzte erstreckt? Lessing fragt, im Glauben an das Leben nach dem Tod: »Was habe ich denn zu versäumen? ist nicht die ganze Ewigkeit mein?« Nietzsche führt ihn etwa mit der Replik ad absurdum: »Was brauche ich denn zu eilen? Ich habe ja nur ein paar Jahre vor mir! Ich kann ja schon in der nächsten Stunde vernichtet werden!« Auch daß man sich verirrt, scheint Nietzsche um so gefährlicher zu werden, je mehr Zeit man hat, sich wieder zurechtzufinden. Beiläufig bemerkt: einen »Mut zum Irren« gibt es nicht, so wenig wie einen Willen zu irren. Es gibt nur einen Willen und Mut zu forschen, auf die Gefahr sich zu verirren. Geht man einen Weg, den man als Irrweg erkannt hat, weiter, so will man nicht weiter irren, sondern erforschen, wohin dieser Weg schließlich führt. Dazu mag Mut erforderlich sein; aber das ist dann kein »Mut zum Irren«.

Endlich ist nicht einzusehen, warum die Großartigkeit der Aufgaben, die wir uns setzen, unter dem Glauben leiden sollte, daß man seine Aufgabe auch wirklich selbst lösen kann, darf, muß. Wenn ich der großartigsten Aufgabe doch nur eine bestimmte, sehr kurze Zeit widmen kann, ist meine Aufgabe schwerlich großartig, wahrscheinlich recht klein. Oder sollen wir, wie man es dem Fabrikarbeiter und Gelehrten zumutet, das begeisternd finden, zu einem großartigen Werk auch ein bißchen beizutragen? Zu einem großartigen Werke gar, das wir in seiner Großartigkeit gar nie zu sehen bekommen? an das wir nur glauben können? Sollen wir das großartig finden? Nur wenn ich Aussicht habe, meine Arbeit nach meinem Tode noch fortsetzen zu können, kann ich für mich eine wirklich großartige Aufgabe ins Auge fassen: andernfalls bin ich nur ein verschwindender Durchgangspunkt in der vielleicht großartigen Geschichte der Menschheit.

Was Nietzsche von dem Glauben an die Sterblichkeit erwartet, kann in Wirklichkeit nur der Glaube an die Unsterblichkeit gewähren. Was Nietzsche gegen den Unsterblichkeitsglauben einwendet, trifft nur eine absurde Form desselben, die er zudem noch absurder macht, als sie je geschichtlich aufgetreten ist, um sie recht augenscheinlich ad absurdum zu führen. Doch ist darin keine bewußte (und dann unredliche) Absicht zu sehen: er kann sich wirklich die selbstverständlich falsche Ansicht des Gegners nicht absurd genug vorstellen. Daß er sich dadurch der Möglichkeit beraubt, auf den Gegner einen Eindruck zu machen, merkt er nicht. Er redet auch gar nicht für den Gegner, sondern expektoriert nur sich selbst.

Ich will hier einen Gedanken doch nicht unterdrücken, der sich mir, je öfter ich derlei Herzensergießungen Nietzsches lese, um so stärker aufdrängt. »Wir haben uns den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufignehmen wieder erobert.« Ist das denn etwas so Großartiges, bis dahin Unerhörtes, daß es mit solchem Pathos ausgesprochen werden dürfte? und bis zu der schlechten Paradoxie getrieben werden dürfte, die in dem »Mut zum Irren« liegt? Versteht sich denn das für Nietzsche nicht von selbst, daß der Denker erst versucht? natürlich nicht mit dem Mut zu irren, sondern mit dem Risiko zu irren! Daß er seinen Gedanken, weil er sich der Gefahr zu irren bewußt ist, erst nur vorläufig nimmt? bis der Gedanke sich ihm erst bewährt! Betont Nietzsche diese selbstverständliche Vorsicht des Denkers vielleicht deshalb so stark, weil sie ihm selbst sehr schwer fällt! In der Tat weiß er, was er zu wissen glaubt mit so unheimlicher Gewißheit, daß er uns wohl extra versichern muß, das alles sei nur als vorläufig versuchte Annahme zu verstehen. Von selbst kämen wir nicht darauf; und so oft er's uns sagt, vergessen wir es doch immer wieder – über dem Ton seiner Rede, der nun einmal nicht der Ton des vorsichtigen Denkers ist, sondern (wenn er nicht bloß geistreiche Einfälle vorträgt oder sich lyrisch expektoriert) der Ton des Richters, des Gesetzgebers, des Propheten.


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