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15. Kapitel.

»Menschliches, Allzumenschliches«: Urteil über die Religion.


Sein Gesamturteil über die Religion legt Nietzsche einem Schopenhauer redivivus in den Mund, der jetzt erkennen müßte, daß er einst die Religion viel zu günstig beurteilt hatte, und der Wahrheit die Ehre gebend jetzt unzweifelhaft dekretieren würde: » noch nie hat eine Religion, weder mittelbar noch unmittelbar, weder als Dogma noch als Gleichnis, eine Wahrheit enthalten« (II, 118). Das lassen wir auf sich beruhen; doch fordert diese Art zu urteilen eine Bemerkung heraus.

Religion existiert nur als Fühlweise, Denkweise, Urteilsweise, Handlungsweise, als modus vivendi konkreter, einzelner Menschen. Oder: ein gewisser modus vivendi konkreter, wirklicher, einzelner Menschen wird Religion genannt. Und zwar besteht der modus vivendi »Religion« nicht darin, daß man Religion haben will; sondern nur darin, daß man so und so fühlt, denkt, handelt. Es mag zur Religion gehören, daß man sich der Bedeutung dieses modus vivendi bewußt wird; dagegen braucht man nicht zu wissen, und wenn man es zufällig weiß, nicht daran zu denken, daß dieser modus vivendi »Religion« ist, vielmehr heißt. Ja, der modus vivendi »Religion« ist sogar nicht Religion, wenn er nicht um seiner selbst willen gewählt wird sondern als Religion: weil er für Religion gilt. Das muß man wissen, wenn man mit Sinn von der Religion reden will: muß also wissen, daß man von Menschen redet; und zwar nicht von Menschen, die Religion haben wollen, sondern von Menschen, die Religion haben – von Menschen, die in einer gewissen (»religiösen«) Weise fühlen, weil sie eben so fühlen, gewisse (»religiöse«) Gedanken haben, weil sie sie für richtig halten, gewisse (»religiöse«) Handlungen vollziehen, weil sie sie für gut halten. Sonst redet man nicht von der Religion. Behauptet also Nietzsche: »noch nie hat eine Religion … eine Wahrheit enthalten«, so muß er, wenn er weiß was er sagt, sagen wollen: noch nie hat ein Mensch in einem religiösen Gedanken (das heißt: in einem Gedanken, der religiös genannt wird, den er aber nicht deshalb für wahr hielt, sondern weil er ihn eben für wahr hielt) etwas Wahres gedacht. Nun hatten auch ganz gescheite Leute sogenannte religiöse Gedanken: Sokrates, Lessing, Goethe. Diese irrten also, so gescheit sie auch sonst sein mochten, sofort, wenn sie einen religiösen (religiös genannten) Gedanken hatten. Goethe z. B., ein auch nach Nietzsches Meinung ganz gescheiter Mensch, wird sofort dumm, wenn er den Gedanken Gottes, den Gedanken der Unsterblichkeit hat – sogenannte »religiöse« Gedanken. Lessing war ein ganz gescheiter Mensch, aber in der »Erziehung des Menschengeschlechts« wird er auf einmal dumm; in den letzten Paragraphen geradezu unerlaubt dumm: da rechnet er gar ( horribile dictu!) mit der Möglichkeit, jeder einzelne Mensch könnte mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein. Auch der sonst so gescheite Sokrates war so dumm, auf sein Dämonium zu achten und es für möglich zu halten, daß er im Tod nicht sterbe. So urteilt Nietzsche, indem er der Religion alle Wahrheit abspricht.

Nun kann auch ein sehr gescheiter Mensch irren. Da jedoch schon sehr gescheite Menschen gerade in ihren »religiösen« Gedanken die wertvollsten Wahrheiten sahen, die sie erkannt zu haben glaubten, so sollte man mit dem Urteil doch etwas vorsichtiger sein, daß auch der gescheite Mensch sofort dumm werde, wenn ihm ein »religiöser« Gedanke kommt. Auch Nietzsche glaubte später nicht den Verstand verloren zu haben, als ihm der Gedanke der ewigen Wiederkunft aufleuchtete: ein »religiöser« Gedanke! –

Die Religionen sind nach Nietzsche aus der Angst und dem Bedürfnis geboren; da sie aber keine Spur von Wahrheit enthalten, ist nicht anzunehmen, daß sie irgend welcher Not wirklich abhelfen könnten. Das ist in der Tat Nietzsches Urteil. Er schreibt unter der Überschrift: »Der doppelte Kampf gegen das Übel« (II, 115 f.):

Wenn uns ein Übel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, daß man seine Ursache hebt, oder so, daß man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdenken des Übels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Veränderung der Empfindung zu wirken, teils durch Änderung unsres Urteils über die Erlebnisse (z. B. mit Hilfe des Satzes: wen Gott lieb hat, den züchtigt er), teils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunkt nimmt). Je mehr einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Übels ins Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisierung, wie sie z. B. bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Übel ins Auge; was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt – denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird –, noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisierung menschlicher Übel.

So mag und muß die Religion auffassen und beurteilen, wer sie zum Voraus für Wahn und Schwindel hält, deshalb sich um das wirkliche religiöse Leben wenig bekümmert, darum auch weder die Verschiedenartigkeit der Religion noch den Gegensatz echter und unechter Religiosität der Beachtung wert findet. Der religiöse Mensch selbst, der in seiner Religion wirklich lebt, denkt sich dabei nicht, was Nietzsche ihm zutraut.

Wenn seine Religion in dem Glauben besteht, daß Gott dem Übel abhelfen könne und unter gewissen Bedingungen abhelfen wolle, so ist es für ihn ein Mittel zur wirklichen Beseitigung des Übels, daß er sich in einer Weise, die ihm wirksam dünkt, an Gott wendet. Deshalb ist es ihm ein schwerer Anstoß für seinen Glauben, wenn die Hilfe ausbleibt. Denn das fällt ihm weder vorher noch nachher ein, der Wert seines Glaubens liege in dem bloßen Trost, vielmehr in der bloßen Vertröstung, die er gewähre: diese Auffassung seines Glaubens überläßt er den Menschen, die den Glauben nur von Hören-Sagen kennen.

Wenn seine Religion in dem Glauben besteht, daß Gott ihn durch alles, was ihm von außen und innen widerfährt, auch durch alles eigene Tun wozu er dadurch veranlaßt wird, zu dem bilde, was er aus ihm machen wolle: auch durch das Leiden, durch den Wunsch sich von dem Leiden zu befreien, durch die Mühe gegen das Leiden anzukämpfen, durch den Wechsel von Furcht und Hoffnung in diesem Kampf, durch den endlichen Erfolg oder den endlichen Mißerfolg: so wird er Gott nicht in den Ohren liegen, daß er ihm das Leiden erspare, wird den aufgedrungenen Kampf durchkämpfen, darin leiden und sich freuen, wie es sich eben gibt – in Kraft des Gedankens, daß eben dadurch verwirklicht werde, was Gott mit ihm wolle. Aber die Kraft, die ihm sein Glaube gewährt, steigert eher die Empfindlichkeit für den Schmerz, als daß sie diese betäuben würde. Und da er versteht, daß gerade der Schmerz bildet, wünscht er auch gar nicht gegen den Schmerz abgestumpft zu werden. Er braucht das auch gar nicht zu wünschen: denn er lebt des Glaubens, daß ihm mit dem Leiden auch die Kraft werde, es zu ertragen. Das weiß jeder, der in Kraft des Glaubens an Gott mit dem Leben gerungen hat; und nur wer Gott und Glauben nur von Hören-Sagen kennt, kann meinen, der Glaube sei eine aufregende und betäubende Narkose.

Nietzsche verrät durch seine Deutung der Religion, daß er das religiöse Leben nur von Hören-Sagen kennt. Und deshalb passiert es ihm auch, daß er eine unechte Religiosität, die freilich weit verbreiteter ist als die echte, für die Religion nimmt und durch seine richtige Kritik der unechten Religion die Religion vernichtet zu haben glaubt. Echter Religion ist er entweder nicht begegnet, oder hat er sie, wenn er ihr begegnete, nicht verstanden.

Das letztere ist deshalb nicht unwahrscheinlich, weil er selbst gar nicht abgeneigt ist, sich mit dem Leiden auf die Weise abzufinden, die er der Religion zum Vorwurf macht. Der metaphysische Trost, durch den sich ihm einst das Leben gerechtfertigt hatte, war nicht die natürliche, gesunde Frucht der Lebenserfahrung, sondern durch ästhetische Eindrücke angeregte Autosuggestion. Auch der Glaube an die Kultur, von dem er später lebte, ist so wenig in der Erfahrung begründet, daß er sich in ihn nur hineinsteigern konnte. Auf keinem andern Wege kommt er zu dem hohen Lebensmut, den er jetzt mit dichterischem Pathos expektoriert (II, 266 f.):

Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schritts, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Mißvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eigenes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntnis steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, daß dir jetzt noch an Erfahrungen zu Teil werde, was Menschen späterer Generationen werden entbehren müssen. Mißachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen echten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hilfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter so mißfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Kultur aufgewachsen? Man muß Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaussehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muß dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: »einerseits – anderseits«. Wandle zurück, in die Fußtapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen großen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft voraus erspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Wert eines Werkzeuges und Mittels der Erkenntnis. Du hast es in der Hand zu erreichen, daß all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehen. Dieses Ziel ist, selber eine notwendige Kette von Kultur-Ringen zu werden und von dieser Notwendigkeit aus auf die Notwendigkeit im Gange der allgemeinen Kultur zu schließen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Kulturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, daß kein Honig süßer als der der Erkenntnis ist, und daß die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: dasselbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf einem Bergrücken des Lebens: so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit, und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu – deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis – dein letzter Laut.

Ja, es ist eine Lust zu – reden! Wenn man es damit nicht gar zu genau nehmen muß, ob man selbst glaubt, was man sagt! Denn daß Nietzsche das glaube:

Du hast es in der Hand zu erreichen, daß all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest [ohne Rest!] aufgehen …

ich bin weder so liebenswürdig, noch so boshaft, Nietzsche zuzutrauen, daß er das glaube. So was sagt man doch bloß – in gehobener Stimmung, um sich in eine noch höhere, unendlich hoch gehobene Stimmung hineinzusteigern! Oder auch in einer Stimmung nagenden Zweifels, um die Verzweiflung abzuwehren! … Beiläufig bemerkt: sich sein eigenes Ich verzeihen, das ist eine ebenso »verdrehte« Paradoxie wie die, sich das als seine größte Schuld zuzurechnen, daß man geboren wurde (II, 147). Verzeihen kann man sich doch nur, was man als Schuld erkennt. Oder sagt Nietzsche wieder nur so, ohne sich etwas dabei zu denken? Und wie man, wenn der Nebel (vielmehr, nach Nietzsche: die Nacht) des Todes naht, seine letzte Bewegung »dem Lichte zu« mache: diese Kunst müßte erst noch erfunden werden …


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