Paul Schreckenbach
Die von Wintzingerode
Paul Schreckenbach

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XVI. Kapitel.

Die Reise, die Junker Klaus nach dem Willen seines Vaters gleich nach dem Welhnachtsfeste antreten sollte, hatte sich durch ein unvorhergesehenes Ereignis sehr verzögert. Am heiligen Abende nämlich begann es leise und langsam zu schneien und hörte nicht auf das ganze Fest über. Zuerst erlustigten sich die Leute an dem schimmernden Flockengewimmel, als aber der Wind einsetzte und den Schnee zu riesigen Haufen zusammentrieb, da erschien ihnen das Wetter unheimlich, und sie begannen einander scheu und heimlich zu fragen, ob das mit rechten Dingen zugehe, ob nicht etwa eine schädliche Hexe oder gar der böse Feind selbst dem Lande einen Schaden tun wolle. In der Tat führte der große Schneefall einen wirklichen Notstand herbei, denn aller Wandel und Verkehr mußte aufhören. In manchen Dörfern waren die Häuser verschneit bis fast an den Dachfirst, mit größter Mühe grub sich der Nachbar zum Nachbar hindurch. Alle Pfade und Straßen waren ungangbar, besonders die Hohlwege, die auf dem Eichsfelde so häufig sind. Manche Dörfer und Schlösser waren von der Außenwelt ganz abgeschnitten, und die Bewohner mußten tagelang Hunger leiden.

Zu diesem Äußersten kam es nun freilich auf dem Bodensteine nicht, denn man war auf der Burg mit Lebensmitteln reich versehen. Aber eingeschneit war man auch hier, nicht einmal in das Dorf Wintzingerode konnte man gelangen. An einen Ritt weit über Land war gar nicht zu denken, und so mußte zu Herrn Bartholds schwerem Ärger und Verdruß die Fahrt zu den braunschweigischen Herzögen vorderhand unterbleiben.

Das war überhaupt eine schlimme Zeit für den ungeduldigen, unruhigen Mann, dem nichts schwerer fiel als still zu sitzen. Lieber wollte er eine Belagerung aushalten, meinte er, denn da gebe es doch wenigstens etwas zu tun. Dagegen so eingeschlossen zu sein ohne Sinn und Zweck, das sei einfach zum Tollwerden.

So empfand er es als eine Fügung des Himmels, daß sein alter Freund Hoven wieder genesen war und ihm Gesellschaft leisten konnte. Die beiden waren fast ständig beisammen, spielten miteinander Schach oder Würfel und Karten und wurden nicht müde, sich von ihren Kriegsfahrten zu unterhalten. Oft am Abend saß die ganze Familie lauschend um sie herum, die Krüge und Becher wurden immer von neuem gefüllt, und das Schlafengehen ward bis weit über die gewöhnliche Zeit hinausgeschoben. Man würde manchmal wohl bis über Mitternacht aufgesessen sein, wenn nicht der Schloßherr gebieterisch zum Aufbruch gemahnt hätte, besorgt, daß seinem Freunde das lange Aufbleiben schaden könne.

Denn Herr von Hoven war ein gebrechlicher Greis, munter, liebenswürdig und gesprächig, aber schwach von Kräften. Barthold war jung geblieben, er war alt geworden. Den Bodensteiner konnte man sich gar wohl noch auf wildem Rosse an der Spitze eines Schlachthaufens vorstellen, ihm dagegen hätte kein Mensch mehr zumuten mögen, in Helm und Harnisch ein Pferd zu besteigen, obwohl er nur zwei Jahre älter war. Wohl gerade deshalb widmete ihm Barthold eine Sorgfalt, die oft fast wie Zärtlichkeit aussah. Denn er konnte nur den lieben, den er schützen und hegen konnte, das lag so in seiner Natur.

Die beiden Freunde verhehlten einander nicht das geringste, und so erfuhr Hoven in Kürze auch Bartholds Plan, seinen unebenbürtigen Sohn ins Lehn zu bringen. Wenn aber Klaus gehofft hatte, der erfahrene Greis werde seinem Vater abraten, so sah er sich darin getäuscht. Denn Hoven machte zwar seine schweren Bedenken geltend, aber er übersah die Verhältnisse auf dem Eichsfelde und Bartholds Lage viel zu wenig, um der siegreichen, feurigen Beredsamkeit seines Freundes gegenüber standhalten zu können.

Dagegen regte der alte Ritter, allerdings ohne sein Wissen und Wollen, in Herrn Bartholds anschlägigem Geiste einen Gedanken an, den Klaus mit jubelnder Freude begrüßt haben würde, wenn sein Vater damit offen an den Tag getreten wäre. Das ging so zu.

Hoven litt manchmal unter schwerer Atemnot, und wenn solch ein Anfall vorüber war, so fühlte er sich vor Mattigkeit und Schwäche dem Tode nahe. So geschah es auch am dritten Weihnachtstage, fast eine Stunde lang rang er nach Luft, es sah aus, als müsse er ersticken. Dann lag er kraftlos in seinem großen Lehnstuhl, das Haupt in die weichen Kissen gelehnt, während Barthold an seiner Seite saß, die mageren Hände in den seinen hielt und ihm liebreich und tröstend zuredete.

Plötzlich sagte der Kranke, indem er seine dunkeln Augen fest auf Bartholds Antlitz richtete, mit merkwürdig klarer und kräftiger Stimme: »Ich fühle es wohl, lieber Wintzingerode, daß es mit mir zu Ende geht. Meine Genesung war nur ein letztes Aufflackern der Lebenskraft, jeden Tag kann die schwache Flamme ganz verlöschen. Dann bleibt Barbara, meine liebe Tochter, ganz einsam in der Welt zurück. Versprich mir, daß du immer deine Hand schützend über ihr halten wirst, und daß sie in deinem Hause eine Heimat findet.«

Darauf polterte Barthold, um seine Rührung zu verbergen, in rauhem Tone los: »Ach was, dummes Zeug, was für törichte Grillen fängst du da, alter Freund! Schlage dir solche Gedanken aus dem Sinn, du siehst hoffentlich die Sonne noch manches Mal aufgehn!«

»Nein, nein!« rief Hoven. »Ich fühle zu genau die Nähe des Todes!« Und fast flehend setzte er hinzu: »Versprich mir auf dein Wort, daß du ihr wie ein Vater sein willst.«

»Wenn du es verlangst, so will ich dir einen Eid darauf leisten, aber ich denke, dessen bedarf es nicht«, sagte Barthold mit tiefem Ernst. Er deutete auf Hovens Schulter und fuhr fort: »Meinst du, ich hätte die Narbe vergessen, die du unter dem Wamse trägst? Ich gehöre nicht zu denen, die vergessen. Was mir in Haß oder in Liebe geschehn ist, das bleibt mir auf immer ins Herz eingesenkt. Du kannst auf meine Treue bauen, wie sollte ich da deines Kindes vergessen?«

»Ich danke dir«, sagte Hoven und drückte seine Hand mit festem Drucke. »Zur Last fallen wird sie dir übrigens nicht, denn von dem großen Reichtum ihrer Mutter hat Gottes Gnade ihr noch einiges erhalten. Komm, stütze mich und führe mich hinunter in mein Gemach, es ist an der Zeit, dir eine Eröffnung zu machen.«

Als man drüben angelangt war, zog Hoven einen Schlüssel aus seinem Wamse, der an einer starken seidenen Schnur um seinen Hals hing. Er schlug dann mühsam den Deckel der Kiste zurück, die er mit auf den Bodenstein gebracht hatte, und bat seinen Freund, eine kleine eiserne Truhe herauszunehmen und auf den Tisch zu stellen. Dann sprach er in feierlichem Ton: »In diesem Kasten liegt der letzte Rest von dem großen Vermögen der Kaufherren van Eyk, deren Sproß meine selige Ehefrau gewesen ist. Das andere haben die spanischen Bluthunde geraubt. Noch reicht es aber aus, um ein Mädchen adelig auszustatten.«

Er steckte den Schlüssel ins Schloß, und die Truhe sprang auf. Einige lange Rollen lagen darin und mehrere in Wolle gewickelte Gegenstände.

»Diese Rollen, Freund, sind Gold!« sagte er, »jede enthält zweihundert Dukaten. Und diese Perlen« – er wickelte mit seinen zitternden Händen eine Schnur schöner, mattglänzender weißer Kugeln aus der Umhüllung – »diese Perlen, sagte man mir in Köln, sind mehr wert als all dies Gold zusammen.«

Mit bodenlosem Erstaunen sah Herr Barthold dem allen zu. Ihm war zumute, als ob er träumte. Er ließ sich auf eine Bank fallen und blickte seinem Freunde mit so ratloser Verblüffung ins Gesicht, daß dieser lachen mußte.

»Ja, lieber Wintzingerode, das hattest du wohl nicht erwartet? Noch bin ich kein Bettler, nein, wahrlich nicht«, sagte er nicht ohne Stolz.

Barthold schlug sich mit der Faust auf das Knie, daß es laut schallte, und ganz fassungslos platzte er heraus: »Nein, bei Gott, nein, ich dachte, du hättest keinen roten Heller mehr. Das ist ja zum Tollwerden! Sind wir verhext? Haben wir eine Goldhexe auf dem Bodenstein? Vor ein paar Tagen schlagen wir zwei Gauner tot und nehmen ihnen heidenmäßig viel Geld ab! Jetzt kommst du mit Gold und Perlen zum Vorschein! Wir können ja einen Handel anfangen mit Juwelen, wenn's uns beliebt. Mich soll's nicht wundern, wenn es nächstens einmal eine Stunde lang Dukaten regnet auf dem Bodenstein!«

»Das wäre ja auch kein Schaden«, entgegnete Hoven lächelnd, indem er seine Perlenschnur wieder einpackte und die Truhe verschloß. »Ich bitte dich, stelle den Kasten wieder an seinen Ort. Morgen kannst du ihn in dein festes Gewölbe schließen, da ist er doch am besten aufgehoben.«

Barthold erfüllte den Wunsch seines Freundes und verließ ihn dann, denn Hoven wollte ruhen. Der Ausdruck grenzenlosen Staunens war noch nicht aus seinen Mienen verschwunden, und zuweilen schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn, als wolle er sich vergewissern, ob er wache oder träume. Herrgott, war das eine seltsame Überraschung! Der Mann, den er für einen ausgeplünderten Bettler hielt, besaß ein Vermögen, und das Mädchen, das er für arm gehalten hatte wie eine Kirchenmaus, war eine Erbin, wie es nicht allzu viele gab auf dem mageren Eichsfelde.

Plötzlich blieb er mitten auf dem Korridor stehn und riß die Augen weit auf, als sähe er etwas ganz Neues, Nieerschautes. Der Gedanke durchzuckte sein Hirn, daß diese fremde Jungfrau ganz gut seine Schwiegertochter werden könnte. Es war schwer, für seinen Sohn unter den alteingesessenen Familien des Landes eine Frau zu finden; denn man nannte ihn zwar Junker, und die jungen Hagen und Westernhagen und selbst die stolzen und reichen Hansteins verkehrten mit ihm wie mit ihresgleichen, aber als ganz ebenbürtig wurde er doch nicht angesehn. Das fühlte Barthold gar wohl, obgleich man es ihm verbarg. Schwerlich hätte eins dieser Geschlechter dem Sohne der Bauernmagd aus Immingerode eine seiner Töchter anvertraut. Nur wenn es gelang, ihn erbfolgeberechtigt zu machen, hätte man wohl über den Fehler seiner Geburt hinweggesehn.

Herr Barthold hatte eigentlich noch nie über diese Frage nachgedacht. Heiratspläne für seinen Sohn zu schmieden, das hatte ihm ferngelegen, auch hatte er nie gemerkt, daß Klaus seine Augen auf irgendeine Maid geworfen hätte und mit Liebesgedanken umgegangen wäre. Nun aber ließ ihn der Gedanke nicht mehr los. Er begab sich nach dem Obergeschosse in ein abseits gelegenes großes Gemach, das fast leer stand und von den Schloßbewohnern gern gemieden wurde, weil sich unheimliche Sagen an den Raum knüpften. Dorthin zog sich der Ritter stets zurück, wenn er über irgendeine Sache scharf nachdenken wollte, denn dort störte ihn niemand.

Auf und nieder schreitend erwog er bei sich den neugefaßten Plan und prüfte ihn von allen Seiten, und je länger er darüber nachdachte, um so mehr begeisterte er sich dafür. Alle die heiratsfähigen Töchter des Landadels in weitem Umkreise ließ er an seinem innern Auge vorüberziehn. Da war keine, die sich mit der Tochter seines Freundes hätte messen können. Denn der Himmel hatte es in seiner Weisheit so gefügt, daß die hübschen und wohlgestalten arm waren an Schätzen dieser Erde, während die reicheren Erbinnen fast ohne Ausnahme der leiblichen Schönheit bedenklich ermangelten. Jenes fremde Mädchen dagegen war nicht nur wohlhabend, sondern auch ohne Frage eine sehr anmutig gestaltete Person, vielleicht etwas zu fein und schlank für Herrn Bartholds Geschmack, aber wo war auf Erden etwas ganz Vollkommenes zu finden? Zudem hatte sie ein Wesen, das dem Ritter gefiel, es war ihm ein ganz behaglicher Gedanke, sich dieses Mädchen als seine zukünftige Schwiegertochter vorzustellen.

Als er nach einer halben Stunde das Gemach verließ, stand es bei ihm fest, daß die beiden ein Paar werden müßten. Er beschloß, Klaus recht bald in seine Pläne einzuweihen, vorher aber die jungen Leute scharf zu beobachten, ob sich vielleicht ohne sein Zutun etwas zwischen ihnen anspinne.

Da mußte er nun freilich zu seinem Erstaunen und steigenden Verdrusse wahrnehmen, daß die beiden sich gar nichts auseinander zu machen schienen. Ja, es kam ihm sogar vor, als ob eine Abneigung zwischen ihnen bestände. Betrat Klaus das Gemach, so huschte Barbara meist eilfertig hinaus; war das nicht möglich, so saßen sie stumm und steif da, redeten nicht miteinander, und ihre Blicke mieden sich beharrlich.

Wäre Herr Bartholb in Liebessachen kundiger gewesen, oder hätte er auch nur seine kluge und verständige Hausfrau in seine Pläne eingeweiht, so wäre ihm der wahre Sachverhalt nicht lange verborgen geblieben. Denn Frau Käthe hatte mit weiblichem Scharfsinn längst erraten, wie es um die beiden stand. Es war ihr recht, denn sie hatte die junge Barbara schnell ins Herz geschlossen. Aber sie lächelte nur dazu und schwieg. Sollten die beiden sich finden, so fanden sie sich am besten ohne Zutun anderer, auch war sie ihrer Sache doch nicht so ganz sicher. Denn gerade in den letzten Tagen taten die jungen Leute gar so fremd und kühl gegeneinander.

In Wahrheit hatte der Kuß im Hohlwege bei Wintzingerode eine Schranke zwischen den beiden aufgerichtet. Barbara konnte des Augenblickes nicht gedenken, ohne befangen und verlegen zu werden. Sie wagte nicht, den heimlich Geliebten anzublicken, damit er nicht in ihren Augen lesen könnte, wie gut sie ihm war. Zugleich war sie befremdet und verletzt, daß er sich seitdem so ganz abseits von ihr hielt, nicht mit ihr sprach, sie kaum zu beachten schien. Das kränkte sie tief, und sie weinte deshalb manche verborgene Träne. Ach, sie wußte nicht, wie bitter der brave Klaus sich selbst anklagte und wie hart er seine Seele strafte, weil er sich von seinem Gefühle so hatte hinreißen lassen! Niemals hätte sie es ja erfahren oder merken dürfen, wie heiß er sie liebte; denn er war ein armer Junker ohne gesicherte Zukunft, und sie war nach seiner Meinung ein Mädchen, für das der reichste Ritter im Lande nicht gut genug war. Er schämte sich, daß er seine hoffnungslose Liebe nicht ganz hatte verbergen können, und das machte ihn ihr gegenüber scheu und blöde. So war er froh, als endlich gegen Mitte des Januar die Straßen wieder passierbar wurden und er die Fahrt ins Braunschweigische antreten konnte. Beim Abschiede stand auch sie mit den anderen unter dem Schloßtor, um ihm das Geleit zu geben, und als er einmal die Augen zu ihr aufschlug, da begegnete er einem so traurigen, vorwurfsvollen Blick, daß es beinah um seine Fassung geschehen wäre. Aber er bezwang sich und grüßte sie nur förmlich und stumm. Hätte er gesehen, daß sie noch lange an den Pfeiler gelehnt dastand, als die andern die Burg wieder aufgesucht hatten, und mit Augen, die voll Tränen standen, ihm nachschaute, er wäre vielleicht umgekehrt und hatte ihr gesagt, wie sehr er sie liebte. Aber er sah es nicht, denn er schaute sich nicht um, sondern ritt düster vor sich hinblickend in schweren Gedanken den Berg hinunter.


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