Paul Schreckenbach
Die von Wintzingerode
Paul Schreckenbach

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IX. Kapitel.

Zwei Tage später reisten die Neuvermählten ab. Es war Herrn Bartholds Weise nicht, seine Gefühle zu zeigen, aber an seiner grimmigen Miene merkte ihm jeder an, daß ihm der Abschied schwer ward. Und als draußen vor dem Burgtor Anna noch einmal aus dem Wagen sprang, um die weinende Mutter zu trösten, da preßte er seine Lieblingstochter so heftig an seine Brust, daß sie beinahe aufgeschrien hätte, und sagte mit einer Stimme, die vor unterdrückter Bewegung dumpf und heiser klang: »Du hast einen guten Mann. Einem anderen hätte ich dich nicht gegeben. Nun halte dein Glück fest und werde ihm das, was deine Mutter mir ist. Fahre hin mit Gott!«

Darauf wandte er sich ab und ging mit langen Schritten in die Burg zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.

Klaus hatte den Auftrag, die Scheidenden nach Mühlhausen zu geleiten. Er ritt an der Spitze einer sehr stattlichen Schar, deren größere Hälfte ihn freilich wieder verließ und nach dem Bodenstein zurückkehrte, sobald man das Gebiet der freien Reichsstadt erreicht hatte. Denn auf Mühlhauser Boden war kein tückischer Angriff der Mainzer mehr zu befürchten, und die Burg durfte die Nacht über nicht ohne starke Besatzung bleiben. Seit dem Überfall durch den Grafen von Hohnstein war der Ritter sehr vorsichtig geworden.

Klaus verabschiedete sich in Mühlhausen von seiner Halbschwester mit tiefer Wehmut, denn gerade ihr hatte er jederzeit sehr nahe gestanden. Aber sein Vorhaben, den Bodenstein zu verlassen und seinem Vater den Kampf dadurch zu ersparen, teilte er nicht ihr und auch nicht seinem neuen Schwager mit. Er wollte seinen Weg allein gehen, genug, daß sein Freund, der Pfarrer, darum wußte.

Er blieb die Nacht über in der Stadt, denn er hatte am anderen Tage im Auftrag seines Vaters auf dem Rathause zu tun. Dort wickelten sich seine Geschäfte dank der Bedächtigkeit eines hochweisen, ehrenfesten Rates so langsam ab, daß er zu seinem Verdruß erst nach Mittag den Heimritt antreten konnte.

Die Wege waren schlecht und dazu tief verschneit. Den kürzeren Pfad über die Berge einzuschlagen war keine Möglichkeit, man mußte auf der Heerstraße dahinziehen und kam auch so nicht eben schnell vorwärts. Klaus ritt in wenig erfreulichen Gedanken des Weges dahin, und seine Stimmung wurde auch nicht verbessert durch die endlosen Erzählungen des biederen Jacob Holstein, der sein Roß immer dicht an seines Junkers Seite hielt. Am liebsten hätte er dem geschwätzigen Alten den Mund verboten, aber das hätte der treue Knecht, der ihn reiten und fechten gelehrt hatte, doch gar zu übel vermerkt. Jacob lebte jedesmal ganz besonders auf, wenn er in Mühlhausen gewesen war, denn dort hatte er das Licht der Welt erblickt und seine Kindheit verlebt. Diese Kindheit war in die Zeit des großen Bauernkriegs gefallen, er hatte alle die Unruhen mit erlebt, die für die altberühmte Reichsstadt so verhängnisvoll gewesen waren, und da er ein gutes Gedächtnis besaß und kleine Abweichungen von der Wahrheit sein Reitergewissen nicht sonderlich belasteten, so konnte er aus jenen Tagen erzählen, daß es eine Art hatte.

Heute nun schilderte er die Hinrichtung der nach der Schlacht bei Frankenhausen nach seiner Vaterstadt gebrachten Bauernführer, wie Pfeiffer trotzig und ohne ein Wort zu sprechen in den Tod gegangen sei, wie dagegen Münzer gezittert habe als ein rechter Hase und vor Angst seine Besinnung so sehr verloren habe, daß ihm Landgraf Philipp noch das letzte Vaterunser habe vorsprechen müssen.

Klaus hatte alle diese Geschichten wenigstens vierzigmal schon gehört und achtete kaum darauf. Auch die erbaulichen Nutzanwendungen und kräftige Verfluchung der Aufrührer und Irrlehrer, womit der Alte seine Erzählung schloß, war ihm etwas Geläufiges. Dagegen wunderte es ihn doch, daß Jacob nach einer Weile mit einem schweren Seufzer und feierlicher Grabesstimme hinzufügte: »So möge es auch heute allen denen ergehen, die zu den gottverdammten Täufern und Ketzern gehören!«

»Gibt es denn noch welche?« fragte er belustigt und setzte gutmütig spottend hinzu: »Du bringst ja jedesmal noch ein hundert oder zwei mehr um, wenn du wieder einmal deine Geschichten erzählst. Wenn man dir glauben soll, so ist damals die ganze Mühlhäuser Bauernschaft mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden.«

Jacob achtete nicht auf den Spott, sondern fuhr ebenso feierlich fort: »Es ist nicht gelungen, das Unkraut ganz auszurotten. Es gibt noch solche Teufelsbraten, und wenn Ihrs wissen wollt, Junker, sie schleichen jetzt heimlich um den Bodenstein herum.«

Klaus lachte laut auf. »Du bist närrisch, Jacob. Unsere Bauern haben anno fünfundzwanzig nicht mitgetan, warum sollten sie sich jetzt verhetzen lassen? Mein Vater ist doch immer ein guter Herr gewesen – wo hat es denn der kleine Mann besser als in unserem Gericht?«

»Die Esel«, erwiderte Jacob, »die man dick füttert, sind die störrischsten, und wenn ein Hund toll wird, so fällt er den eigenen Herrn an.«

»Sie werden sich hüten, meinen Vater anzufallen. Alle Achtung vor dem, der das wagte!« versetzte Klaus trocken.

»Aug' in Auge wagts keiner. Aber eine heimliche Kugel trifft manchmal auch ihr Ziel«, sagte Jacob grimmig.

Klaus hielt mit einem Ruck sein Pferd an. »Mensch, was faselst du da? Von wem redest du?« rief er erschrocken.

Der Alte erwiderte mit großem Nachdruck: »Wenn ich dem Halunken, dem Wilddiebe, dem schleichenden Wolf wieder auf unserer Wildbahn begegne, ja wenn ich ihn auch nur allein im Walde treffe, so schlage ich ihm, bei Gottes Wunden, den Schädel ein!«

»Du meinst Geilhaus?« rief Klaus erstaunt.

»Den meine ich, Junker, und ich sage Euch, das ist einer! Ein Schurke ist der, so lang er warm ist«, entgegnete Jacob, und geheimnisvoll setzte er hinzu: »Neulich ist ein Mann in Duderstadt gewesen, der hat ihn gekannt. Schöne Dinge hat er von ihm erzählt, bei Gott, Junker, Ihr mögt's glauben oder nicht. In Braunschweigs Hofe haben die Männer gesessen in der Unterstube bei einer Kanne Bier, da geht der Geilhaus draußen vorüber. Potz Donnerwetter! schreit da der Mann, das ist doch Geilhaus? Wie kommt der Kerl hierher? Er ist Förster hierum bei dem von Wintzingerode auf Scharfenstein, sagen die Männer. Alle Tausend! sagt der Mann und trinkt sein Bier aus und kneift seine Augen zusammen und lacht. Muß ein wunderlicher Kauz sein, der den zum Förster macht. Warum? wieso? fragen die Männer und rücken zusammen. Und nun kam's an den Tag: Fortgejagt ist er von dem Grafen zur Lippe, wo er früher Forstknecht war, denn er soll schon dort stark gewildert haben. Und sein Weib, Junker, was die schöne Gertrud ist, das wäre gar nicht sein Weib, die soll nur mit ihm fortgelaufen sein und einen Mann in Westfalen haben. Das machen die Kerls, die verfluchten Täufer, so, da haben die Weiber zwei, drei Männer, und die Männer können zwei, drei Weiber haben. Darauf hat der Mann geschworen und geflucht und gesagt, er wolle in die Hölle fahren, wenn's nicht wahr wäre. Und Grieting, der Alte, der mein Gevatter ist, der hat alles gehört und sagte, als er mir's erzählte: Jacob, sagte er, paß auf den Herrn auf. Der Geilhaus hat neulich im Kruge in Wintzingerode gesagt: Es kommt eine andere Zeit, und einer muß daran glauben. Und dann hat er gräßlich gelästert, weil der liebe Gott die armen Leute treten und aussaugen ließe durch die Junker und Pfaffen. So einen Hund, Junker, soll man bei Zeiten kalt machen, sonst richtet er großes Unheil an!«

Erschöpft schwieg der Alte und auch Klaus erwiderte zunächst nichts. Wahrlich, so ganz grundlos war diese Warnung nicht, man durfte sie nicht in den Wind schlagen. Vielleicht drohte seinem Vater wirklich eine Gefahr von dem verwilderten, bösartigen Menschen, dem die meisten gern aus dem Wege gingen. Und warum war das alles? Weil die Familie untereinander uneins war. War man einig mit den Brüdern Hans und Bertram – wie leicht konnte man dann den gefährlichen Burschen entfernen. So aber würden sie keiner Anklage Glauben schenken. Ja, es war Zeit, daß endlich Friede wurde zwischen denen von Wintzingerode, und nichts konnte diesen Frieden wirksamer gründen, als wenn er in die Fremde ging.

Daher seufzte er tief auf und sprach: »Wir wollen die Augen offen halten und beten, daß Gottes Hand meinen Vater schütze.«

»Amen!« sagte Jacob. »Aber sicherer ist's doch, wenn ich den Kerl bei guter Gelegenheit niederschlage.«

Indessen war die Schar in den stattlichen Flecken Dingelstädt eingeritten. Hier hatte man unfähr die Hälfte des Weges zurückgelegt. Deshalb hielt Klaus vor dem langen, einstöckigen Wirtshause an, das an der Straße lag, und erlaubte den Knechten, die hinter ihm ritten, von ihren Rossen eine Weile abzusteigen. Er verspürte einen starken Durst und wollte hier eine kurze Rast halten.

Der Krugwirt Jürgen, der ihn gut kannte, kam aus der Tür, über der eine verräucherte Windlaterne hing und ein trübes Licht verbreitete. Er nahte sich dem Junker mit vielen Bücklingen und bat ihn, unter sein schlichtes Dach zu treten. Klaus willfahrte und folgte ihm, aber statt links die Tür zur Schenkstube zu öffnen, ergriff der Wirt den Überraschten hastig am Arm und zog ihn rechts seitwärts in die enge Küche.

»Ich muß Euch was sagen, Junker!« flüsterte er aufgeregt, und seine kleinen grauen Augen fuhren unsicher umher. »Drüben die Bauern brauchen's nicht zu hören. Vorhin ist ein Wagen durchgekommen.«

»Ich habe die Räderspur im Schnee gesehen«, sagte Klaus. »Auch Reiter sind dabei gewesen. Was habe ich damit zu tun?«

»Der Wagen fuhr nach dem Bodenstein«, sagte der Wirt.

«Nach dem Bodenstein?« fragte Klaus erstaunt. »Wer saß denn darin?«

»Das weiß ich nicht. Ein alter Mann war dabei und neben ihm eine Weibsperson. Sie waren ganz und gar in Decken eingewickelt, und eine Plane war über dem Wagen. Vor dem Dorfe hatte das eine Pferd das Eisen verloren, sie ließen es drüben beim Meister Hannes frisch beschlagen. Die Knechte tranken derweile Bier. Sie wußten selbst nicht, wer die Fremden waren. Der Alte redete mit ganz schwacher Stimme, das junge Frauenzimmer sprach eine Sprache, die ich nicht verstand.«

»Sonderbar«, sagte Klaus. »Ich weiß nichts davon, daß der Vater zu dieser Zeit Besuch erwartet. Indessen wird die Sache sich klären, wenn ich heimkehre. Wann ist der Wagen durchgekommen?«

»Es mag eine Stunde sein, da sind sie wieder abgefahren«, sagte der Wirt.

»Dann treff' ich sie noch auf dem Wege, denn in dem Schnee kommt ein Wagen nur langsam fort«, bemerkte Klaus. »Nun aber schenkt mir einen Trunk ein!«

»Ja aber, Junker«, sagte der Wirt ängstlich um sich blickend, »ich wollt' Euch noch etwas hinterbringen. Der schwarze Steffen ist wieder unterwegs.«

Klaus zuckte unwillkürlich zusammen. Der schwarze Steffen war ein berüchtigter Straßenräuber, der Schrecken der ganzen Gegend, offenbar das Haupt einer größeren Bande, die bald im nördlichen Thüringen, bald auf den Straßen und in den Dörfern des Südharzes und des Eichsfeldes mit unglaublicher Frechheit ihre Überfälle und Einbrüche verübte. Die Mainzer, die Sachsen und die Braunschweiger fahndeten hart auf ihn und hatten einen hohen Preis auf seinen Kopf gesetzt, aber man konnte seiner nicht habhaft werden. Einmal hier, einmal dort tauchte er auf und war dann jedesmal spurlos verschwunden, als hätte ihn die Erde eingeschluckt. Man munkelte, er habe Unterschlupf bei einigen übel beleumdeten, verdorbenen Herren von kleinem Adel, mit denen er seine Beute teile, und auf deren halbverfallenen Burgsitzen er sich verberge. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit gewann das Gerücht dadurch, daß er oft mit ein paar Spießgesellen zu Pferde erschien, und verarmte, verzweifelte Edelleute gab es nur zu viele im Lande. Viele hielten ihn selbst für einen heruntergekommenen Edelmann. War er wirklich im Eichsfelde, so konnte es wenig gerüsteten Reisenden übel ergehen.

»Woher weißt du, daß er hier umherstreift?« fragte Klaus.

»Eine Stunde ehe der Wagen kam, in der Dämmerung ritten fünf Reiter vors Haus,« erzählte der Wirt. »Sie brüllten, ich solle ihnen Bier bringen. Sie tranken mit gutem Durst, aber als ich sagte: Die Kanne kostet zwei Mainzer Heller, ihr Herren, da schrie mich der eine an: Halte dein krummes Maul, du Kalb, und sei froh, wenn wir dir nicht den roten Hahn auf dein Strohdach setzen. Damit schlug er mir die Kappe vom Kopfe und wieherte wie der Teufel. Dann ritten die Kerle weiter. Klepper hatten sie, Junker, dürr wie Stangenholz, aber sie sausten dahin wie die wilde Jagd. Und der Schuft, der mir die Kappe herunterschlug, hatte einen struppigen, schwarzen Bart und nur ein Auge. Da weiß jeder, wer das war.«

Klaus überlegte. »Bei dem Wagen waren Reiter zum Geleit?« fragte er.

»Stadtknechte, Mühlhäuser Kloßfresser,« sagte der Wirt verächtlich. »Die Kerle tragen ihre Haut nicht zu Markte, würde es ihnen auch verdenken. Die reißen aus, so schnell ihre dicken Pferde laufen können.«

Klaus griff in die Tasche und reichte dem hoch erfreuten Wirte einen Gulden. »Es ist gut. Jetzt gib mir eine Kanne Bier. Bringe sie vors Haus, wir sitzen auf und reiten sofort weiter.«

»Macht Euch fertig!« rief er den Knechten zu. »Es gibt vielleicht noch heute manchen scharfen Hieb.« Damit schwang er sich hastig aufs Pferd, und die reisige Schaar setzte sich wieder in Beweguug.

So schnell es auf dem verschneiten Wege möglich war, eilten die wackeren Rosse vorwärts. Die Mondessichel war hinter den Wolken hervorgetreten, so daß man deutlich die Räderspur des Wagens und die Hufspur der Pferde erkennen konnte. Von einer seltsamen, ihm unerklärlichen Unruhe gepackt, strebte Klaus dem Wagen nachzukommen, dessen Insassen in Wahrheit eine schwere Gefahr drohte. Der gefürchtete Landräuber pflegte nicht nur denen, die in seine Gewalt fielen, Geld und Geschmeide abzunehmen, er machte seine Opfer am liebsten für immer stumm, damit sie nicht als Zeugen gegen ihn auftreten konnten.

Die Reiter waren noch nicht weit über das Dorf Leinefelde hinausgekommen an eine Krümmung des Weges, wo der Breitenholzer Wald bis dicht an die Straße heranreicht, als Klaus plötzlich sein Roß zügelte, daß es sich zurückbäumte und stand. Man hörte aus der Ferne den schwachen Schrei einer weiblichen Stimme, dann ein rohes Gebrüll aus mehreren Männerkehlen.

»Auf, Leute!« schrie Klaus. »Vorwärts, daß wir nicht zu spät kommen!« und gab seinem Pferde die Sporen, daß es in gewaltigen Sätzen dahinsprengte.

Ein einzelner Reiter jagte ihm entgegen, so daß er fast mit ihm zusammengeprallt wäre. Es war einer der Mühlhäuser Stadtknechte, dessen Tier wild geworden war und durchging. »Hülfe, Mord!« schrie er und raste vorüber.

Ein paar Sekunden später war Klaus auf der Stätte der Gewalttat angelangt. Zwei der Räuber hielten noch auf ihren Gäulen, drei waren abgestiegen. Der eine hatte die Pferde des Wagens am Zügel gefaßt, die schnaubten und stampften, zwei andere hatten die Reisenden herausgerissen und waren damit beschäftigt, sie auszuplündern. Das junge Weib hatte sich über den Mann geworfen, der regungslos im Schnee lag, und schrie verzweifelt auf, als die rohen Kerle sie in die Höhe zu zerren versuchten. Von den Stadtknechten war nichts zu erblicken.

»Mach ein Ende, Marx!« brüllte der Anführer der Bande, der vom Pferde aus mit wüstem Gelächter zusah, wie das Mädchen sich wehrte. »Stoße der Gans die Gurgel durch und laß sie liegen!«

»Unsinn«, sagte der andere, »die ist zu hübsch, die nehmen wir mit. Das gibt einen Teufelsspaß heute nacht in der Eichenmühle.«

»Hunde!« donnerte Klaus, der wie ein Wetterstrahl in die Bande hineinfuhr – ein pfeifender Hieb, und der Strolch, der das Mädchen gepackt hatte, ließ seine Beute fahren und sank ohne Laut rücklings zu Boden.

Die beiden Räuber zu Pferde sahen sofort, daß Widerstand unnütz sei. Sie rissen ihre Klepper herum und stoben davon. Der die Pferde gefaßt hatte, ließ die Zügel los und warf sich in den Graben, den vierten noch Lebenden packte Jacob Holsteins derbe Faust, und trotz seines wilden Umsichschlagens und zeternden Geschreies wurde er von den Knechten überwältigt und unter Stößen und Fußtritten gebunden.

Während das geschah, setzten sich auf einmal die Pferde vor dem Wagen, auf die kein Mensch geachtet hatte, in rasche Bewegung und sausten mit dem Fahrzeug so unglücklich gegen einen Baum, daß mit Krachen die Deichsel und ein Rad zerbrachen.

»Verflucht, Junker!« knurrte Jacob. »Das ist eine schöne Geschichte. Wie sollen wir nun die da vorwärts bringen?« Er deutete auf die beiden mißhandelten Reisenden, die noch am Boden lagen, beide ohnmächtig.

»Sie sind doch hoffentlich noch lebendig?« fragte Klaus und sprang vom Pferde. Vorsichtig faßte er das Mädchen an und hob sie empor. Indem schlug sie die Augen auf und stieß einen Schrei aus. »Barmherzigkeit, laßt mich! Ach mein Vater!« rief sie verzweiflungsvoll. Sie hielt den Junker offenbar für einen Räuber.

»Seid ruhig«, sagte Klaus. »Wir sind noch zur rechten Zeit gekommen. Ihr seid gerettet. Die Schurken sind fort, und wir bringen Euch sicher, wohin Ihr wollt.« Dabei kniete er neben ihr nieder, nahm eine Hand voll Schnee und rieb dem wie leblos daliegenden Greise die Schläfen damit. Der Alte schlug die Augen auf und versuchte wimmernd und stöhnend sich aufzurichten. Aber es gelang nicht, er sank wieder zurück, auch zu sprechen vermochte er nicht.

Mit einem Jubelruf umfaßte seine Tochter sein Haupt und sprach auf ihn ein in einer Sprache, die Klaus nicht verstand. Aber die rührende Freude, die aus den fremden Lauten klang, ergriff ihn mächtig.

»Eine niederträchtige Geschichte, das Rad ist ganz entzwei. Die Karre ist nicht vorwärts zu bringen«, meldete Jacob Holstein, der unterdessen den Wagen untersucht hatte.

»Dann müssen wir die Fremden zu Pferde nach dem Bodenstein bringen«, entgegnete Klaus. »Hans und Jörg, ihr spannt die Gäule aus!« befahl er. »Ihr anderen durchsucht den Wagen und nehmt alles heraus, was drin ist!«

»Eine große Kiste ist drin«, verkündete einer der Knechte. »Sie ist schwer, wir bringen sie nicht fort.«

»Dann reiten Ernst und Lips nach Leinefelde zurück und wecken die Bauern. Sie sollen einen festen Wagen mitbringen«, entschied Klaus. »Du Jörg bleibst mit Adam und Märten einstweilen hier zur Wache. Wir anderen reiten fürbaß. Du, Jacob, hast den schwersten Gaul, du nimmst den Alten mit hinauf.« Dann wandte er sich an das Mädchen, das den Greis fest umklammert hielt, und sagte mit aller Zartheit, deren seine Stimme fähig war: »Faßt Euch nun, liebwerte Frau oder Jungfrau, wir müssen Euern Vater aufheben.«

Das Mädchen, das noch immer auf den Knien lag, schlug die Augen zu ihm auf und sah mit einem Blicke voll heißer Dankbarkeit zu ihm empor. Sie hatte nun begriffen, daß sie wie durch ein Wunder gerettet war. »O Dank, Dank!« flüsterte sie leise, und ehe er es verhindern konnte, hatte sie seine Hand ergriffen und geküßt. Gleich darauf sank sie wieder zu Boden, da ihr die Sinne aufs neue schwanden.

»Sie ist wieder ohnmächtig«, sagte Jacob Holstein entrüstet. »Dieses Weibsvolk ist ein schwaches, trauriges Geschlecht!«

»Halte deinen Mund!« versetzte Klaus ungnädig. »Schlag eine Decke um sie und hebe sie zu mir aufs Pferd. Es geht nicht anders, sie kann sich allein nicht im Sattel halten.«

Die Jungfrau wurde emporgehoben, und der Zug setzte sich in Bewegung; Klaus voran, dann Jacob mit dem fremden Greise vor sich auf dem Sattel, dahinter vier bewaffnete Knechte.

Dem Junker war's eigen ums Herz, wie er so mit seiner schönen Last dahinritt. Denn schön war sie, ganz anders als seine Schwester Anna, die er bisher für das schönste Weib gehalten hatte, aber nicht minder schön. Dicht vor sich sah er im Mondlicht das schmale, feine, totenblasse Gesicht. Etwas Holdseligeres und Lieblicheres als dieses Antlitz hatte er noch nie gesehen, kein anderes Mädchen, das ihm jemals vorgekommen, konnte sich mit dieser Fremden vergleichen. Und sie hatte ihm die Hand geküßt! Dergleichen war dem biederen, ehrlichen Junker noch nie geschehen. Nachdenklich sah er immer wieder auf die Stelle, die ihre Lippen berührt hatten, und bei dem Gedanken daran wallte es heiß in ihm auf. Welch ein Glück, daß gerade er dazu auserfehen war, sie aus der Hand der rohen Unholde zu befreien! Wer sie wohl war? Wenn er den armseligen Wagen nicht gesehen hätte, so hätte er darauf schwören mögen, daß sie eine Prinzessin war. Aber Fürstenkinder reisen nicht in gemieteten Karren von gemieteten Knechten geleitet, sie müßten denn aus ihrem Schlosse vertrieben sein. Vielleicht war sie eine Vertriebene, es mußten ja so viele jetzt in Deutschland das harte Brot der Verbannung essen, die ehemals in Welschland reich und mächtig gewesen waren. Entsetzliche Greuel hörte man aus Frankreich und ebenso aus den spanischen Niederlanden, Tausende flohen von dort über den Rhein und waren froh, wenn sie vor den blutigen Schergen der Päpstlichen das nackte Leben retteten. Wie herrlich mußte es sein, wenn man solch einem armen, schönen Geschöpf eine neue Heimat geben konnte!

In solchen Gedanken verloren ritt Klaus dahin und war fast unwillig, als vor ihm die dunkeln Mauern des Bodensteins auftauchten und der gellende Hornruf des Torwartes ihn aus seinen Träumen auffahren ließ. Die Zugbrücke sank rasselnd nieder, und als die Pferdehufe darüber hin donnerten, schlug das Mädchen zum ersten Male die Augen auf und blickte verwirrt um sich. Sie murmelte ein paar Worte in fremder Sprache und fragte dann mit einer ebenfalls fremdländischen Aussprache: »Mein Gott, wo bin ich? Was ist das?«

»Das ist die Burg meines Vaters, des Ritters von Wintzingerode«, erwiderte Klaus, und indem ward schon Herrn Bartholds mächtige Gestalt in der Tür sichtbar. Hinter ihm stand ein Knecht mit einem Lichte.

»Heda, Klaus, was bringst du da?« rief er erstaunt und trat rasch näher.

»Zwei von Räubern Überfallene«, entgegnete Klaus. »Wir retteten sie zwischen Worbis und Leinefelde aus den Klauen des schwarzen Steffen.«

Barthold nahm dem Diener das Licht ans der Hand und leuchtete zuerst dem Mädchen ins Gesicht. »Hübsches Kind«, brummte er. Dann ließ er das Licht auf das Antlitz des Greises fallen, prallte aber sogleich erschrocken zurück. »Mein Gott!« schrie er. »Ist's möglich? Das ist ja Philipp von Hoven! Um des Himmels willen, alter Freund, wie kommst du hierher? Und in diesem Zustande! Was heißt das?«

Der Alte erwiderte einige unverständliche Worte und mühte sich, ihm die Hand entgegenzustrecken. Sofort umschlang ihn Barthold mit seinen mächtigen Armen und hob ihn vom Rosse herab. »Hinein ins Warme!« gebot er und trug den Greis ins Haus.

Frau Käthe, die mit ihren Töchtern am flackernden Kaminfeuer saß und spann, sprang erschrocken auf, als ihr Mann mit seiner Last in der Tür erschien. Aber ein paar Worte genügten, um ihr die Sache verständlich zu machen, und da sie eine erfahrene Frau war, zeigte ihr der erste Blick in das Gesicht des fremden Gastes, daß sie einen Schwererkrankten vor sich hatte.

Sie ordnete an, daß er einstweilen auf die breite Bank am Ofen gelegt werde, bis ein Gemach für ihn geheizt und durchwärmt sei. Dann wandte sie sich mit mütterlicher Teilnahme an das junge Mädchen, das, von Klaus gestützt, scheu und zaghaft in das Zimmer getreten war.

»Mein liebes Kind«, sagte sie sanft und nahm des Mädchens Hand – »was Euch auch hergeführt hat, seid mir herzlich willkommen!«

Als das Mädchen die freundlichen Worte hörte und das gute Gesicht der Schloßfrau dicht über sich gebeugt sah, da schlang sie mit einem Male, einem plötzlichen Antriebe folgend, ihre Arme um deren Hals und brach in lautes, herzzerreißendes Schluchzen aus.

Frau Käthe ließ das ruhig geschehn und legte nur liebevoll den Arm um die schlanke, zitternde Gestalt. Herr Barthold war tief erschüttert, stand aber dabei die größte Angst aus, daß ihm jemand seine Ergriffenheit anmerken könnte. Denn das war ihm schrecklich zuwider. Deshalb rannte er stampfend und vor sich hin brummend und fluchend im Hintergrunde auf und nieder, stand aber plötzlich wie angewurzelt still, als vom Ofen her die mit schwacher Stimme hervorgestoßenen Worte »Trinken! Durst!« sein Ohr trafen.

»Ha, er will trinken!« schrie er mit Donnerstimme. »Das ist ein gutes Zeichen, er lebt wieder auf!« Dabei riß er einen Zinnkrug von riesiger Größe vom Wandgesims herab und reichte ihn Klaus hin. »Hier, den fülle mit edlem Malvasier!«

»Warum nicht gar«, sagte Frau Käthe und nahm Klaus den Humpen aus der Hand. »Ein kleiner Becher mit Wasser und Wein, das ist für einen Kranken das Rechte!«

»Dann fülle mir selber den Krug, Klaus«, sagte der Ritter, »denn ich gedenke bei dem Kranken zu wachen. Er hat mir einst bei Düren im Jülicher Kriege das Leben gerettet, ich habe euch die Geschichte ja oft erzählt. Nun gebührt mir's, alles zu tun, um sein Leben zu erhalten.«

Aber die kluge Gattin wußte ihn auch davon abzubringen. Sie setzte kein Vertrauen auf ihres Mannes Fähigkeit, eine Nachtwache zu halten. Denn wenn Herr Barthold nicht gerade mit guten Kumpanen fröhlich war, so pflegte er bald nach neun Uhr schon sein Lager aufzusuchen, und wenn er einmal schlief, so war er nur schwer zu erwecken. Darum wurde gestimmt, daß Hedwig, die treue Schließerin, mit ihrem Spinnrocken am Lager des Kranken wachen und den Ritter sogleich wecken solle, wenn irgend etwas Besonderes sich ereignen würde.

Die übrigen trieb die Schloßherrin ins Bett, denn sie wollte vor allen Dingen, daß das zu Tode erschöpfte junge Mädchen zur Ruhe käme. »Was zu erzählen ist, kann morgen erzählt werden, morgen ist auch noch ein Tag«, erklärte sie kurz und bündig.

In dieser Nacht fand Junker Klaus wenig Schlaf trotz des anstrengenden Rittes, den er am Tage geleistet hatte. Ja es begab sich mehrmals, daß er seinen ungeheuern Federpfühl verließ, das Fenster leise öffnete und hinüber starrte nach dem anderen Flügel des Schlosses, wo die fremde Jungfrau unter der Hut seiner Schwestern schlief. Das war ein töricht Beginnen, denn ihre holdselige Gestalt ruhte da drüben hinter dicken Mauern, und ihn fror dabei mächtig in der kalten Kammer. Aber er konnte nicht anders, die Unruhe in seiner Brust war zu groß, und der Gedanke, daß dieses Mädchen in seiner Nähe, unter einem Dache mit ihm war, erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, wie er es noch niemals in sich getragen hatte.


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