Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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IV

Als Kleist in sein Quartier zurückkam, war die Dunkelheit hereingebrochen. Er traf vor seinem Zimmer einen Lakaien an, der sich mit tiefem Bückling erkundigte, wann er dem Herrn Major das Souper servieren dürfe.

»Ich speise heute nicht mehr,« erwiderte er. »Ebenso wünsche ich niemanden zu empfangen. Ich verbitte mir strengstens jede Störung, außer wenn etwas Dienstliches an mich gebracht werden muß. Steck' er neue Kerzen auf, wenn die alten nicht frisch sind, denn ich habe zu tun. Besorg' er den Kamin, dann kann er gehen.«

Als Kleist allein war, verriegelte er die Tür, schob einen Tisch und einen Sessel an das Kaminfeuer heran und öffnete das Päckchen, das ihm Frau von der Goltz gegeben hatte. Obenauf lag, in blaue Seide gewickelt, die Locke der Verstorbenen. Er zog sie hervor und hielt sie gegen das Licht des Armleuchters, der vor ihm stand, und es kam ihm plötzlich die Erinnerung, wie einst vor langen Jahren die Sonne im Parke von Battrow auf diesem Goldhaar geflimmert hatte, als ihm Wilhelmine zum ersten Male als erwachsenes Mädchen im Glänze ihrer vollerblühten Schönheit entgegentrat. Er schloß die Augen und träumte, wie er es so oft als Knabe und Jüngling getan hatte, und wie er als Mann nur selten noch zu träumen vermochte, so, daß er der Gegenwart und Umgebung gänzlich entrückt war und nur da lebte, wohin sein Traum ihn trug. Bis in die kleinsten Einzelheiten hinein entsann er sich der Zeit, die er in jenen Tagen durchlebt hatte, alle ihre Wonnen und Qualen empfand er noch einmal so deutlich und lebendig, als wäre alles, was dazwischen lag, ausgelöscht aus seinem Herzen, und als wäre er noch der blutjunge Leutnant von damals und nicht der lebens- und leidgeprüfte Mann, der er seitdem geworden war.

Endlich erwachte er aus seinem Traum. Er nestelte das silberne Medaillon hervor, das er von seiner Mutter geerbt hatte und stets an einer seidenen Schnur auf der Brust trug. Dahinein barg er die Locke und griff dann mit einem schweren Aufseufzen nach dem kleinen, in rotes Leder gebundenen Buche, das vor ihm lag, und aus dem die Tote noch einmal zu ihm, dem Überlebenden, reden sollte.

Und er vernahm in der Tat ihre Stimme, wie er sie noch nie vernommen hatte. Ihr ganzes Wesen enthüllte sich ihm, ihre ganze Seele entschleierte sich vor seinen Blicken. Ach, es war keine große Seele, das erkannte er wohl; sie war in vielen Stücken kleiner und schwächer, als er in seiner Begeisterung gedacht hatte. Viel Eitelkeit haftete ihr an, viel kindischer Trotz und Eigensinn hatte in ihr gelegen, sie war in manchem zeitlebens ein verzogenes Kind geblieben. Aber auch das erkannte er klar: Sie hatte niemals einen anderen geliebt als ihn. So mächtig war ihre Liebe nicht gewesen, daß sie dem Ränkespiel hätte trotzen können, das gegen sie gespielt worden war: das letzte, höchste Vertrauen hatte gefehlt. Aber trotzdem sie von seiner Untreue überzeugt war, hatte sie doch niemals innerlich von ihm losgekonnt. Mit der Liebe zu ihm im Herzen war sie die Gattin jenes Mannes geworden, den sie geheiratet hatte auf das Drängen der Ihren hin und in dem Wunsche, reich und glänzend versorgt zu sein. Lubowiecki war ihr im Anfang nicht unsympathisch gewesen, bald aber war er ihr durch seine Bigotterie und seine brutale Sinnlichkeit widerwärtig geworden, und dieses Gefühl hatte sich im Laufe der Jahre immer mehr vertieft. Die trübsten Bilder aus dem Zusammenleben der beiden entrollte das Buch, und dazwischen kehrte immer die Wendung wieder: »So hätte K. nie zu handeln vermocht,« oder »dazu war K. zu vornehm gewesen«; auch fanden sich oftmals Klagen wie die: »Hätte ich über die vielleicht verzeihliche Untreue K.s hinweggesehen, und wäre ich fest geblieben, so wäre ich wahrscheinlich jetzt ebenso glücklich, wie ich unglücklich bin.« Bis dann am Schlusse des Buches die kurze Eintragung zu lesen war: »Nun weiß ich alles. Verraten war ich und verkauft, belogen und betrogen, von zwei Schurken verkuppelt und um mein Lebensglück gebracht!« Dann hatte sie nicht mehr in ihr Tagebuch geschrieben.

So hatte sie nie aufgehört, ihn zu lieben, sie hatte sich eigentlich immer nach ihm gesehnt, wie er nach ihr. Das sah er mit grausamer Deutlichkeit aus diesen Blättern, und tiefes Erbarmen über ihr unglückliches und zerstörtes Leben erfüllte sein Herz.

Daneben aber erkannte er mit Schmerz und Schrecken, wie fremd sie ihm innerlich gewesen war. Von dem Idealbilde, das er sich einst von ihr gemacht hatte, blieb wenig übrig. Sie hatte ihn nicht nur durch ihre Schönheit, sondern auch durch ihre Anmut, ihren lebhaften Geist gefesselt und entzückt, und natürlicher Scharfsinn und Esprit zeigte sich auch in ihrem Tagebuche oft in Fülle. Aber geistige Interessen fehlten ganz und gar. Von allen Künsten liebte sie bloß die Musik, aber auch nur die leichte und seichte Musik der italienischen Opern. Für die Dichtkunst hatte sie gar nichts übrig; sein Dichterruhm, von dem sie natürlich auch hörte, war ihr peinlich, denn sie fürchtete, daß ihre Bekannten und Verwandten über den Poeten und Träumer ihre Glossen machen könnten. Überhaupt war sie in einer erschrecklichen Weise abhängig von dem Urteil ihrer Umgebung, und nichts bewies so deutlich ihre Liebe zu ihm als die Tatsache, daß sie in diesem einen Falle doch jahrelang, trotz aller Einflüsterungen ihrer Angehörigen, an ihm festgehalten hatte. In allen anderen Dingen erschien sie fast als ein Spielball in den Händen anderer Leute.

Was ihn aber am meisten befremdete und abstieß, das war ihr religiöser Standpunkt. Sie war leicht und gern übergetreten, die ästhetische Schönheit des katholischen Kultus hatte ihr's ja schon als Kind angetan. Dann freilich kam eine Zeit der Ernüchterung, ja fast der Abkehr. Die ihr anerzogene weibliche Sittsamkeit sträubte sich gegen das widerliche Ausgefragtwerden in der Beichte. Sie hatte sehr heftige Ausführungen gegen diese Einrichtung zu Papier gebracht. Kleist las zum Beispiel den merkwürdigen Satz: »In der Bibel steht fast nichts davon. Und wie hätte Christus die Ohrenbeichte befehlen können, der seine Jünger beten lehrte: Führe uns nicht in Versuchung? Liegt nicht in der Beichte eine Versuchung, der bei der Schwäche der menschlichen Natur fast jeder erliegen muß? Der Beichtende wird genötigt, sich selbst zu entwürdigen; der die Beichte hört, wird zum wahnsinnigsten Hochmut gereizt und zum Mißbrauch der Schwäche anderer.« –

Aber solche Auslassungen wurden gegen Ende des Buches immer seltener, sie hatte sich schließlich auch mit dieser Einrichtung ihrer Kirche abgefunden. Sie war immer mehr zur Katholikin geworden, ja sie hatte zuletzt in gehäuften Gebeten und Bußübungen den Frieden gesucht, den sie doch nimmermehr finden konnte.

Als Kleist das Buch zu Ende gelesen hatte, starrte er lange Zeit düster vor sich hin. Dann ergriff er den Schürhaken, fachte die schon halb erloschene Glut von neuem an und legte frisches Holz darauf. Als die Flammen wieder kräftig aufprasselten, legte er den kleinen roten Band mitten hinein. Denn auf diesen Bekenntnissen der Verstorbenen sollte nie wieder ein menschliches Auge ruhen. Er sah zu, wie die züngelnden Flammen an dem Buche emporleckten, wie der Deckel verschwelte, wie dann die einzelnen Blätter im Feuer sich umlegten, als würden sie von Geisterhand umgewandt, und wie Seite für Seite knisternd zu Rauch und Asche ward.

Und während er so dem Spiele der Flammen zuschaute, ging ihm in seinem Innern immer heller die Erkenntnis auf, wie gut und weise die Vorsehung gehandelt hatte, als sie ihm einst den glühendsten Wunsch seines Lebens versagte. Wäre Wilhelmine die Seine geworden, so wäre das für ihn und sie kein Glück gewesen, sie hätten beide mit Notwendigkeit unglücklich werden müssen. Denn sie hätte an seinem inneren Leben keinen Teil gewinnen können, dem, was ihn begeisterte und das Herz erhob, hätte sie ewig fremd und kalt gegenübergestanden. Das hätte er nun und nimmermehr ertragen am Weibe seiner Liebe; es wäre ein qualvolles Leben geworden, zumal in den engen Verhältnissen, in die er sie hätte einführen müssen, wo ein Glück nur dann möglich war, wenn man in der innigsten Gemeinschaft der Seele lebte.

Nun war sie gestorben, und auch das war gut so. Es überwältigte ihn plötzlich der Gedanke, welch ein Glück für die Menschen es ist, daß es ein Sterben gibt. Die allermeisten sind unglücklich und friedlos durch eigene und durch fremde Schuld, die sich oft wunderbar verketten, wissen sich auch nicht herauszufinden und zu lösen aus den Fäden des Irrtums, die sie, je mehr sie sich zu befreien trachten, nur um so unentwirrbarer und unzerreißbarer einspinnen. Da sendet ihnen die gnädige Gottheit einen Erlöser, der sie frei macht, sie einführt in tiefen, heiligen Frieden und ihnen die Möglichkeit eröffnet, unter neuen Bedingungen ein neues Leben zu beginnen.

»Das letzte Glück des Lebens ist der Tod,« sprach er laut vor sich hin. Und dieses Glück hatte nun auch sie gefunden, die so elend gewesen war, und die auf dem Wege, den sie einmal eingeschlagen hatte, nur immer elender hätte werden müssen. Er wußte sie nun frei und vor allem Leid geborgen, und eine wunderbare Ruhe kam über ihn.

Er stand auf, öffnete ein Fenster und sog tiefatmend die kalte Winterluft ein, die hereinströmte. Dann setzte er sich wieder in den Lehnstuhl und sann und grübelte, bis ihn endlich der Schlaf übermannte, als die Kerzen heruntergebrannt waren und das blasse Morgenlicht durch die Scheiben blickte. –

Einige Stunden später stand er vor seinem erlauchten Chef. Der Prinz stutzte bei seinem Anblick und musterte ihn scharf, unterdrückte aber zunächst jede persönliche Bemerkung und begann sogleich mit ihm über neue Requisitionen zu sprechen, die leider in Sachsen nötig wurden, denn der König brauche Geld. Er ließ sich von ihm die Stimmung und Lage der Leipziger Bürgerschaft schildern und sonst noch einiges und sagte dann: »Er hat die Requisitionen im Bernburgischen sehr comme il faut geleitet. Ich bin sehr kontent mit ihm. Hat er denn auch für sich selbst etwas Ordentliches erübrigt?«

»Nein, Hoheit.«

»Nicht? Na, ich hab' ihm doch extra gesagt, daß er sich tüchtige Douceurgelder solle geben lassen. Warum hat er denn das nicht getan?«

»Ich kann's nicht, Hoheit, es ist mir nicht gegeben. Ich vermag den Leuten nichts abzunehmen außer dem, was wir ganz nötig brauchen.«

Der Prinz schüttelte mißbilligend den Kopf. »Er ist zu human. Ich bin sicher auch dafür, daß der Krieg ohne cruauté geführt wird, aber den feisten Kornbauern an der Saale hätte es nichts geschadet, wenn sie einem braven Offizier des Königs von ihrem Fette etwas hätten ablassen müssen.«

Er trat vor Kleist hin und faßte ihn am Rockknopf. »Da. liegt ihm wohl auch gar nichts daran, wenn ich ihm die Requisitionen in Sachsen übertrage? Ich denke, es müßte für ihn gut sein, wenn er aus dem Garnisonleben herauskäme. Er sieht méchant aus. Ist er denn krank?«

»Nein, Euer Hoheit, das bin ich nicht. Aber wenn mir Eure Hoheit ein paar Worte permittieren wollten?«

»Sprech' er immerzu!«

Kleist richtete seine Augen fest auf den Prinzen und sprach: »Hoheit, ich diene meinem gnädigen König, wo er mich hinstellt. Aber Eure Hoheit haben ganz recht gesehn: Das Garnisonleben taugt mir nicht. Ich sehne mich nach dem Leben im Felde und nach der Schlacht. Hoheit halten zu Gnaden, wenn ich's ausspreche: Ein Mann wie ich gehört dahin, wo die Gefahr am größten ist. Denn ich habe nicht Weib und Kind, stehe ganz allein, lasse in der Welt nur ein paar Freunde zurück. Die werden mein Gedächtnis in Ehren halten, aber meinen Verlust verschmerzen. Ich suche den Tod wahrlich nicht, aber ich habe ein Recht, ihn vollkommen zu verachten. Und so ist es denn meine flehentliche Bitte an Eure Hoheit, daß Sie mich ins Feld zur Armee senden möchten.«

Der Prinz blickte ihm, während er sprach, unverwandt ins Gesicht, und hin und wieder blitzte es in seinen Augen auf. »Ich verstehe ihn,« murmelte er. Dann fragte er nach kurzem Schweigen: »Antworte er mir ganz ehrlich: Ist das Hausensche Regiment nach seiner Meinung in der Kondition, daß es ins Feld kann?«

»Wie ich in einer untertänigsten Supplik schon zu bemerken wagte, sind ja wohl einige Desertionen zu befürchten, denn es sind viele Sachsen darunter. Im ganzen aber wird es sich so gut schlagen wie jedes andere Regiment, das im Felde steht.«

»Dann werde ich meinen Bruder, den König, bitten, daß er das Regiment ins Feld rücken läßt. Damit wäre denn sein Wunsch erfüllt, den ich gutheiße. Jetzt kann er mit mir dejeunieren.« –

Am anderen Morgen fuhr Kleist nach Leipzig zurück. »Lessing,« sagte er am Abend, als er noch spät bei dem Freunde eintrat, »nun beklagen Sie mich nicht mehr, sie die ich liebte, ist im Frieden.«

»Sie kamen an ihr Sterbelager?«

»Ich fand sie tot. Und, Freund, wie danke ich Gott, daß er ihr die Ruhe gegeben hat! Ich habe viel erfahren, aber lassen Sie mich schweigen. Über solche Dinge kann man nicht reden.«

Lessing drückte ihm die Hand. »Sie haben recht. Es gibt Dinge, die der Mensch einsam tragen und verarbeiten muß, auch wenn er umgeben ist von guten Freunden.«

»Ferner habe ich Ihnen zu melden«, fuhr Kleist nach einer Pause fort, »daß wir bald marschieren werden. Wie Prinz Heinrich meinte, würde das Hausensche Regiment bald Ordre bekommen, und so stehe ich vielleicht schon in einem Monat unter den Augen meines großen Königs.«

»Wunderbar!« rief Lessing und holte ein Schreiben aus der Brusttasche. »Auch ich muß Leipzig verlassen, und zwar noch früher als Sie. Sie wissen, ich muß mir eine Existenz gründen. Nicolai und Mendelssohn bieten mir die Grundlagen dazu, und so gehe ich nach Berlin. – So führt uns denn das Leben weit auseinander, ehe wir es gedacht hätten«, setzte er bewegt hinzu. »O Kleist, wie werden Sie mir fehlen! Wie werde ich Sie vermissen! Niemand ist mir im Leben so nahe gekommen wie Sie.«

Kleist umarmte ihn. »Wohin uns auch das Leben reißt, im Geiste bleiben wir doch stets vereint.«


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