Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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VI

Als Herr von Kleist an einem der nächsten Tage zur Vesper vom Felde heimkehrte, vernahm er im Hausflur die fröhlichen Stimmen seiner Kinder, die durch die offene Hintertür aus dem Garten hereinschallten. Selbst das Lachen der sonst meist sehr würdigen und steifen Madame Colette tönte dazwischen. Erstaunt und neugierig trat er näher und sah die ganze Schar ein Spiel spielen, das er nicht kannte. Bunte Reifen warfen sie einander zu und fingen sie mit weißen, geschnitzten Stöcken auf. Ein hochgewachsener Herr, der ihm gerade den Rücken zukehrte, stand in ihrer Mitte und leitete das Spiel.

Kaum sahen die Knaben den Vater aus der Tür treten, so warfen sie ihre Reifen auf die Erde und stürzten ihm entgegen. »Onkel Christian ist da!« schrien sie aus vollem Halse. »Er hat uns ein Reifenspiel mitgebracht. Das ist aber brillant! Er bleibt auch ein paar Tage da!«

Herr von Kleist war sehr angenehm überrascht. Von der ganzen Familie seiner seligen Frau liebte er diesen ihren älteren Bruder am meisten, und es mochte wohl überhaupt wenige Menschen geben, die ihn nicht liebten, wenn sie ihn näher kennen lernten. Denn Christian von Manteuffel war eine von den sonnigen Naturen, deren es leider in der Welt so wenige gibt, ein Menschenfreund, der allen wohlwollte, und insbesondere ein Kinderfreund, der erklärte Liebling aller seiner Neffen und Nichten. Er war Ewalds Pate, und schon von frühester Kindheit an hatte der Knabe eine schwärmerische Zuneigung zu dem Oheim an den Tag gelegt. Leider konnte er nur selten nach Zeblin kommen, denn er stand als Kapitän im fernen Dresden in Garnison.

Bis zum Sonnenuntergang hatte der Hausherr wenig von seinem so freudig willkommen geheißenen Gaste. Er mußte ihn mit seinen Kindern teilen, und die Jungen beanspruchten den Löwenanteil. Überall hin schleppten sie den Onkel Christian, und der ließ sich auch gutmütig überallhin schleppen. Er mußte notwendigerweise ihre Ponys sehen, dann folgte die Besichtigung des gefangenen Eichhörnchens und eines von Franz Kasimir aus dem Neste geholten jungen Raben, zu dessen Aufzucht und Fütterung der Onkel sachkundigen Rat erteilen mußte.

»Hier ist für deine Kinder das wahre Paradies,« sagte er zu Herrn von Kleist. »Denn wo kann sich ein richtiger Junge glücklicher fühlen als da, wo er sich in der Freiheit austoben kann! Es ist mir wahrhaftig leid, daß gerade ich dazu helfen soll, sie aus diesem Paradiese zu vertreiben.«

Er saß, während er so sprach, am Abend mit seinem Schwager allein in der großen Familienstube. Vor ihnen standen ein paar bauchige Flaschen alten Ungarweines, und beide Herren, die starke Raucher waren, qualmten so heftig, als ob sie im Tabakskollegium des Preußenkönigs zu Gaste gewesen wären.

Als ihn Herr von Kleist auf seine Worte hin fragend anblickte, fuhr er fort: »Ich habe dir nämlich eine Botschaft meiner Mutter zu bringen, lieber Schwager. Ihr habt ja wohl neulich über die Zukunft der Jungen gesprochen, und du hast ihr plein pouvoir gegeben, etwas Passendes auszusuchen.«

»Na, wenn auch nicht gerade Vollmacht, so doch das Versprechen, daß ich auf ihren Rat hören will.«

»Sie hat nun in ihrer rasch entschlossenen Weise sich umgetan und an deine Schwester, die Generalin Staffelt in Fridericia, geschrieben. Mit wendender Post ist von deinem Schwager die Antwort eingetroffen, er wolle einen deiner Söhne zu sich nehmen, daß er dort in der Kriegsschule erzogen und später als Fahnenjunker in die dänische Armee eingestellt werde. Er glaube sicher, daß ein junger Kleist dort bei seiner Verwandtschaft mit den Zeppelins und Folckersambs rascher Fortune machen werde als sonst irgendwo in der Welt. Denn Konnexionen müsse man haben, sonst prosperiere kein junger Mann.«

Herr von Kleist, der sich inzwischen in gewaltige Rauchwolken gehüllt hatte, lachte. »Da hat der gute Staffelt den Nagel auf den Kopf getroffen! In der ganzen Welt gilt der Grundsatz: Eine Hand wäscht die andere. Nur bei uns in Preußen soll er nicht gelten, denn der König gebärdet sich wie ein Wilder, wenn er etwas von Vetternwirtschaft hört.«

»Gut für den Staat, aber schlecht für den, der drunter leidet,« bemerkte Manteuffel.

»Der König fragt nur nach dem Staate, der einzelne ist ihm ganz gleichgültig,« sagte der Schloßherr. »Er wird übrigens ein ungnädiges Gesicht machen, wenn er hört, daß ich einen Jungen zu den Dänen gehen lasse. Hat er doch meinem Ewald direkt gesagt, ich soll ihn Offizier werden lassen, er werde ein Auge auf ihn haben.«

Er erzählte seinem Schwager die Geschichte von dem Besuch des Königs in seinem Dorfe. Als er geendet hatte, zuckte der die Achseln. »Darauf ist gar nichts zu geben,« meinte er.

Herr von Kleist nickte. »So denk ich auch.«

»Aber du fürchtest die Ungnade Seiner Majestät?« fragte Manteuffel.

Kleist lachte noch kräftiger als vorher und klopfte seine Pfeife aus. »Nee, nee,« erwiderte er. »Soweit sind wir doch noch nicht hier in Pommern, daß wir bei allem, was wir vorhaben, erst nach dem König schielen. Drüben in Mecklenburg hat ein Bülow auf seinen Grabstein den Vers setzen lassen:

»Ick bin ein mecklenbörgisch Edelmann,
Wat geiht di Dübel meine Supen an?«

Der fürchtet sich also nicht einmal vor dem Teufel. Etwas davon lebt in uns allen. Wir lernen es nie, uns zu ducken, und fragen nach niemandes Stirnrunzeln. Zudem traten von alters her deutsche Junker in die Armee ein, die ihnen am meisten Fortune verspricht. Das ist so der Brauch. Daran wird auch der König nichts ändern. So bin ich meinem Herrn Schwager sehr obligiert, wenn er meinen Franz Kasimir zu sich nehmen und protegieren will. Denn Ewald wird nicht Offizier.«

»Ja, das hast du so mit meiner Mutter abgekartet, lieber Kleist,« sagte Manteuffel. »Aber warum eigentlich?«

»Weil der Junge ganz und gar nicht dazu taugt.«

»Was, dieser forsche kleine Bengel soll nicht zum Offizier taugen?«

»Nee, lieber Christian. Forsche, ja, die hat er, und Courage auch. Aber was hilft ihm das? In Friedenszeiten gar nichts.« Er steckte sich seine frischgestopfte Pfeife in Brand und fuhr dann fort: »Was ist der Dienst? Drill, Drill, Drill! Nicht nur in Preußen. Und das kann der Junge nicht leisten, das ist ihm von Natur zuwider. Andere Väter sagten vielleicht: Nun erst recht! Ich will den Bengel schon gerade biegen lassen, und was er nicht mag, das soll er müssen. Ich sage: Schmeißt einen Fisch in die Luft und einen Vogel ins Wasser, da wird nichts Gescheites daraus. Jeder, wohin er gehört!«

Manteuffel wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Sehr verständig,« sagte er. »Nur zweifle ich, ob man bei einem Kinde schon so sicher bestimmen kann, wohin es später neigen wird.«

»Sieht man's nicht dem kleinen Eichenschößling an, daß er eine Eiche werden will?« fragte Kleist.

»Potztausend, Schwager, du bist ja der reine Poet! Lauter Bilder und Gleichnisse!« erwiderte lachend der Kapitän.

Kleist schüttelte sich. »Na, na, nur keine Injurie. ›Poet‹ ist eine in meinen Augen. Ich mache doch keine Versche! Aber Scherz beiseite. Deine Mutter, die überhaupt eine sehr kluge Frau ist, hat auch gleich herausgefunden: Der paßt besser zum Zivildienst. Darum wollen wir ihn studieren lassen. Der Bengel hat einen höllisch offenen Kopf, spricht besser Französisch als ich, hat das Polnische nur so en passant aufgeschnappt. Es ist fast kurios.«

»Wenn er aber studieren soll,« fiel der Schwager ein, »so muß er vor allen Dingen Lateinisch lernen. Und da ist die beste Schule weit und breit das Jesuitenlyzeum in Deutsch-Krone. Das läßt dir meine Mutter vorschlagen.«

»Was? Zu den Jesuiten soll ich ihn schicken? Plagt denn deine Mutter der – nee, diese Schwefelbande ist mich gänzlich zuwider!« polterte Herr von Kleist.

»Mir auch, aber Lehrer sind sie, wie es sonst keine gibt, das muß ihnen der Neid lassen,« gab Manteuffel zurück. »Die bringen ihren Eleven die schwierigsten Dinge im Handumdrehen bei, auch der Dümmste kann da noch profitieren.«

»Und jeder profitiert wohl auch etwas von ihren Glaubenslehren,« knurrte Kleist. »Und nach ein paar Jahren kommt der Bengel nach Hause und will katholisch werden. Das fehlte mir gerade noch! Beten wir etwa für nichts: Führe uns nicht in Versuchung?«

Manteuffel lächelte. »Darüber kann ich dich völlig beruhigen. Die Schüler unseres Glaubens wohnen nicht im Alumnat, sondern in der Stadt. Sie kommen außer in den Unterrichtsstunden weder mit den Patres noch mit den Alumnen zusammen. Der Verkehr zwischen protestantischen und katholischen Eleven ist sogar streng untersagt, nur in den Stunden müssen sie wohl oder übel nebeneinander sitzen. Am katholischen Gottesdienste nehmen die protestantischen Schüler nicht teil. Wo und wie also die Patres ihre Netze auswerfen sollten, ist mir unerfindlich.«

»Und warum nehmen sie denn überhaupt Kinder von unserem Glauben auf? Warum verlangen sie kein Geld für ihre Mühe? Lieben sie uns so, daß sie uns aus lauter Liebe unsere Kinder umsonst erziehen? Ich denke, sie haben jetzt eben wieder in Thorn so recht gezeigt, welcher Art ihre Liebe zu uns ist. Sie haben uns, wie der Wolf, zum Fressen lieb.«

»Ja, lieber Schwager, die Thorner Vorgänge beklage auch ich aufs bitterste,« entgegnete Manteuffel. »Es ist ein Jammer, daß der deutsche Fürst, der nun König von Polen ist, das Recht in dieser Weise beugen läßt. Aber warum sollen wir deshalb nicht mitnehmen, was uns geboten wird? Die Jesuiten wissen natürlich sicher, warum sie auch unsere Kinder mit unterrichten. Entweder wollen sie sich mit ihrer Toleranz brüsten, oder sie meinen, sich dadurch auch unter uns Freunde heranzuziehen. Was geht uns das an? Wir nehmen unseren Vorteil wahr und sehen darauf, daß unseren Kindern kein Schaden geschieht.«

»Wenn das man nur möglich ist!« brummte Kleist, indem er von neuem ungeheure Rauchwolken vor sich hin paffte.

»Das wird am besten zu erreichen sein, wenn wir den Jungen bei dem lutherischen Pfarrer in Pension geben. Meine Mutter kennt den würdigen Mann und hat schon an ihn geschrieben. Er ist bereit, deinen Ewald aufzunehmen. Der kommt dort auch in gute Gesellschaft, denn neben einem bürgerlichen Knaben hat der Propst noch einen jungen Unruh und zwei kleine Goltze in seinem Hause.«

Herr von Kleist fuhr überrascht empor. »Was? Auch Goltze sind auf der Jesuitenschule?«

»Deren drei,« versetzte Manteuffel. »Zwei wohnen in der Stadt, einer fährt täglich von seinem nahen Schlosse aus in die Schule.«

Herr von Kleist schlug sich kräftig mit der Hand auf den Schenkel. »Donnerwetter!« rief er, »wenn die von der Goltz ihre Söhne dahin schicken, dann kann ich freilich meinen Jungen auch schicken. Die Goltze sind das treueste Protestantengeschlecht von ganz Preußisch-Polen. Alles um Deutsch-Krone herum wäre längst katholisch, wenn die von der Goltz nicht wären. Da werde ich doch wohl vor deiner Mutter die Segel streichen und ihr den Willen tun müssen.«

So wurde denn noch an demselben Abend festgesetzt, daß schon zu Michaelis Franz Kasimir nach Dänemark zu seinem Onkel, Ewald nach Deutsch-Krone kommen sollte. Doch sagte ihnen der Vater vorläufig nichts davon und ließ sie in sorgloser Freiheit dahinleben bis zum Zeitpunkte ihrer Abreise. –

Der Abschied der beiden Brüder von ihrem Elternhause gestaltete sich sehr ungleichartig. Zuerst erschien ein dänischer Werbeoffizier, der gerade von Danzig nach der Heimat zurückreiste, um Franz Kasimir mitzunehmen. Der Knabe erschrak anfangs und vergoß einige Tränen, als ihm der väterliche Beschluß eröffnet wurde, aber er beruhigte sich bald. Was der Fremde erzählte von dem Leben in der großen dänischen Festungsstadt und im Hause seines dortigen Oheims, das berauschte ihn fast. Glänzende Bilder gaukelten ihm vor der Seele, er sah sich selbst schon als General mit dem Kreuze des Danebrogordens. Er bemitleidete seinen jüngeren Bruder geradezu, weil er nicht dazu ausersehen war, diese glänzende Zukunft mit ihm zu teilen, und beim Abschiednehmen war an ihm von besonderer Betrübnis nichts zu bemerken.

»Der wird gut!« sagte der dänische Offizier zu dem Vater, der neben dem Wagen stand, um seinem Ältesten noch allerhand Mahnungen und gute Lehren mit auf den Weg zu geben. »Mein Herr Bruder hat ganz wohl getan, diesen Monsieur zum Soldaten zu bestimmen und den dort zum Federfuchser.«

Er deutete dabei geringschätzig auf den kleinen Ewald, der mit tränenüberströmtem Gesicht an der Haustür lehnte. Denn dem ging das Scheiden von dem Bruder tief zu Herzen, obwohl bei der Ungleichheit der Charaktere ein enges innerliches Verhältnis zwischen den beiden Brüdern nicht bestand. Aber Franz Kasimir war doch sein Spielkamerad gewesen, solange er denken konnte; sie hatten immer alles gemeinsam gehabt und vieles, was Kindern wichtig dünkt, gemeinsam erlebt. Darum fühlte er sich sehr unglücklich, daß er nun allein bleiben sollte und nur auf den Verkehr mit den Bauernjungen angewiesen war.

Aber wie ward ihm erst zumute, als etwa eine Woche später der Onkel Christian angereist kam, um ihn nach Deutsch-Krone zu geleiten! Die Kunde, daß er die Heimat verlassen sollte, traf ihn wie ein Blitzstrahl. Er weinte nicht, aber er ward bis in die Lippen blaß, und in den folgenden Tagen war er kaum zum Essen und Trinken zu bewegen und ging wie im Traume umher. An dem Morgen, an dem der Wagen vor der Haustür hielt, um ihn wegzutragen, war er verschwunden. Alles Suchen und Rufen im Schlosse half nichts, er war nirgends zu finden. So mußte man sich entschließen, Leute auszusenden, und Herr von Kleist stand innerlich eine mächtige Angst aus, der Junge könne sich ein Leid angetan haben. Schließlich ging er selbst auf die Suche in den Park, während Onkel Christian mit sorgenvollem Antlitz zum Hoftor hinausschritt.

»Kamm Sei, Herr Baron,« sagte dort die alte Wöllnern zu ihm und vollführte einen grotesken Knix. »Ick werd woll weiten, wo die Junker hen is.«

Sie führte ihn in die Nähe der Kapelle, wo die Gräber der Familie Kleist lagen. Auf einem dieser Hügel saß Ewald, einen großen Strauß mit Astern in der Hand haltend, und rührte sich auch nicht, als der Onkel herankam. Das Gesicht des Jungen sah so gequält und unglücklich aus, daß der Anblick dem gutmütigen Manne ins Herz schnitt. Daher sagte er weich und gütig: »Ewald, wolltest du noch diese Blumen deiner Mutter bringen? Das ist ja gut. Aber nun lege sie hin und komm! Wir müssen fort.«

Er neigte sich hinab und wollte seine Hand ergreifen. Aber Ewald warf sich plötzlich wild über das Grab und schrie, sich an den Stein anklammernd: »Nein, nein! Ich will nicht! Ich will nicht! Alles geht fort, meine Mutter ist fort, und Franz Kasimir ist fort, und Herr Garbrecht und auch die Daniela ist nicht wieder gekommen. Nun soll ich auch fort. Aber ich will dableiben. Ich will nicht fort!«

»Ewald,« sagte der Oheim nach einer Pause, »deine Mutter ist bei Gott, und du kannst sie einst wiederfinden, wenn du gut und brav bist. Auch deinen Bruder und Lehrer kannst du noch oft sehen. Und deine Daniela darfst du von Deutsch-Krone aus besuchen. Die Großmutter hat sie nach Battrow zur Frau von der Goltz gebracht, da lebt sie jetzt mit ihrer kleinen Tochter. Aber nun komm, mein Jung. Tu deinem Vater nicht das Leid an, daß er dich vor dem Abschied noch strafen muß.«

Er löste sanft die Hände des Knaben von dem Stein und fand dabei keinen Widerstand mehr. »Ist wirklich die Daniela dort, wo ich hin soll?« fragte Ewald noch schluchzend.

»In der Nähe, du wirst sie sicherlich wiedersehen.« Da legte der Knabe seinen Strauß auf den Hügel und ließ sich still hinwegführen.


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