Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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VIII

»Warum kann man in deutscher Sprache nicht dichten?« fragte an einem schönen Novembertage Ewald den alten Pfarrer, bei dem er wohnte.

Dem hochwürdigen Herrn fiel fast die lange Pfeife aus dem Munde bei dieser Frage. Er zog die buschigen weißen Augenbrauen hoch und fragte erstaunt: »Dichten? Wie kommst du darauf?«

»Wir müssen doch immer in der Schule dichten,« entgegnete Ewald. »Lateinisch und auch französisch. Jetzt eben wieder haben wir einen lateinischen Gesang zum Lobe des Winters auf, der in Distichen verfaßt sein muß. Ich versuchte das auch im Deutschen, aber ich brachte keinen einzigen Hexameter fertig.«

»Hm, hm, das glaub' ich dir,« sagte der Pfarrer. »Für solche Versmaße ist unsere Sprache zu holprig. Sie ist nur für den Alexandriner geeignet, in dem auch Herr Martin Opitz von Boberfeld seine unsterblichen Carmina meistens verfaßt hat. Dieser war nämlich das einzige Dichtergenie unserer Nation im abgelaufenen Säkulo. Neben ihm sind nur etwa noch Herr Paulus Flemming zu nennen und Herr Andreas Gryphius, der schöne Komödien schrieb. Unseren teuren Gottesmann Paulus Gerhardt erwähne ich hier nicht, denn der gehört in eine andere Rubrik.« Er paffte einige Züge aus seiner Pfeife und fügte dann hinzu: »Du kannst mir nota bene dein Gedicht zum Lobe des Winters einmal zeigen.«

»Ich habe es noch nicht ins Reine geschrieben,« antwortete Ewald.

»Tut nichts,« versetzte der Pfarrer. »Du hast ja eine gute, leserliche Handschrift, und ich habe gerade einmal Zeit.«

Ewald holte ein ziemlich umfangreiches Heft herbei, in dem alle seine poetischen Übungen im Konzept aufgezeichnet waren. Der alte Herr, der ein fester Lateiner war, las die Verse aufmerksam durch, tadelte hier und da einmal eine Wendung, war aber mit dem Ganzen sehr zufrieden. »Man muß es den Dienern des römischen Antichrists lassen, tüchtige Magister sind sie,« murmelte er fast unhörbar vor sich hin. »Sie bringen den Bengels einen guten Duktus bei.« Dann blätterte er in dem Hefte rückwärts, las mehrere frühere Karmina und nickte mehrmals zustimmend. Ewald, der daneben stand, erwartete schon eine beifällige Äußerung und lächelte im voraus geschmeichelt. Plötzlich aber zuckte der Pfarrer zusammen, riß das Heft ganz nahe an die Augen und hielt es dann wieder weit von sich ab, als könne er etwas nicht lesen oder begreifen, was da geschrieben war. Dabei waren seine Züge mit einem Male ganz verstört, und sein rundes, glattrasiertes Antlitz war fast bleich geworden.

»Jung, Jung!« stöhnte er und deutete mit zitternden Fingern auf ein Blatt. »Solche Exerzitien geben euch eure Präzeptors? Davon hast du mir ja niemals etwas gesagt.«

Erstaunt trat Ewald näher und las die Überschrift eines seiner Gedichte: In honorem Beatae virginis Mariae.

»Also Lieder zu Ehren der Maria müßt ihr in der Schule verfertigen?« ächzte der Pfarrer weiter.

»Nein,« sagte Ewald arglos. »Dieses Thema war nur den anderen, den Katholischen, aufgegeben. Wir brauchten es nicht mitzumachen, ich habe es aber doch gemacht.« Daß es für seinen Freund Grabowski geschehen war, dem das Dichten schwer fiel, verschwieg er aus Zartgefühl.

Noch entsetzter starrte ihm der Pfarrer ins Gesicht. »Also freiwillig?« rief er. »Nicht gezwungen, sondern freiwillig? Ja, Herrgott, mein Sohn, bist du denn katholisch? Oder willst du's werden?«

»Aber nein!« erwiderte der Jüngling mit aufsteigenden Tränen. »Wie können Sie mir eine so große Schändlichkeit zutrauen, daß ich meine Religion verleugnen sollte?«

»Ja, wenn nicht, wie kannst du denn ein Marienlied verfertigen?«

»Ich habe mir gar nichts Böses dabei gedacht,« versicherte Ewald ehrlich. »Ich dachte nicht, daß es eine Sünde sein könne, denn sie ist doch Christi Mutter gewesen, und sie war gewiß eine sehr gute Frau.«

»Du nennst sie aber hier ›heilige Jungfrau‹ und ›Königin des Himmels‹!« klagte der Pfarrer und fuhr sich dabei erregt durch das dichte weiße Haar. »Glaubst du denn das? Es ist ja schrecklich!«

»Ich habe mich nur in die Seele eines Katholiken hineingedacht,« entgegnete Ewald, und das hatte er wirklich, denn er hatte es ja für einen Katholiken so verfaßt, daß es als dessen Arbeit gelten sollte.

Der Pfarrer blickte ihn ganz verdutzt an. »Hat jemand schon so einen Unfug gehört?« polterte er. »Was du immer für Ausdrücke hast! ›In die Seele eines Katholiken hineingedacht!‹ Es ist kaum zu glauben.« Mit einem Male leuchtete in seinen scharfen, grauen Augen ein Strahl des Verständnisses auf, und sein Antlitz ward heller.

»Aha,« sagte er, »das Karmen war wohl für einen Freund angefertigt, der selbst nichts kann? Sprich, mein Sohn, ich habe ein Recht, dich danach zu fragen,« setzte er ungeduldig hinzu, als Ewald nichts erwiderte.

Das Antlitz des Jünglings überzog sich mit tiefer Röte. »Ja,« sagte er leise.

»Und wer ist dieser Freund?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich habe es ihm fest versprochen, zu schweigen.«

»Ich weiß es ohnehin,« versetzte der Pfarrer. »Es ist Grabowski.« Ewald schwieg.

Der Pfarrer fuhr sich von neuem durch die Haare und seufzte. »Ich habe diese Freundschaft jederzeit gemißbilligt, aber was konnte ich tun? Dieser junge Mensch hat zu einflußreiche Verwandte. Verbot ich ihm das Haus und untersagte ich dir den Verkehr mit ihm, so konnte ich die größten Molesten davon haben; denn wir Protestanten müssen uns ja ducken hierzulande, wenn wir nicht von altem Adel sind. Jetzt aber muß ich von dir verlangen, daß du den Menschen in Zukunft möglichst meidest.«

»Grabowski?« schrie Ewald. »Er ist mein einziger Freund.«

»Bedauerlich genug,« erwiderte der Pfarrer, »daß du dich nicht an Knaben unserer Konfession angeschlossen hast. Die Auswahl hattest du. Nun zeigt sich, wohin die Freundschaft mit einem Menschen dieser Art führt. Du bist durch ihn zum Teilnehmer an einem Betruge geworden.«

Ewald zuckte zusammen, aber er schwieg.

»Darum ist es deine Pflicht, dem Menschen in Zukunft aus dem Wege zu gehen,« fuhr der Pfarrer eindringlich fort. »Er verführt dich zur Unlauterkeit und Sünde. Und so fordere ich von dir das Versprechen, daß du die Freundschaft mit ihm abbrichst.«

Er hielt ihm die Rechte hin, aber Ewald legte die seine nicht hinein, sondern rührte sich nicht.

Das Gesicht des Pfarrers rötete sich. »Mein Sohn,« sagte er scharf, »ich stehe hier an deines Vaters Statt. Von ihm habe ich den Auftrag, über deine Seele zu wachen, und in seinem Namen verlange ich Gehorsam. Nun? Willst du mir die Hand nicht geben?«

»Ich bitte Sie um Verzeihung, weil ich mich – weil ich – die Lehrer getäuscht habe,« murmelte er. »Aber den Grabowski lasse ich nicht.«

Der Pfarrer ließ die Hand sinken und erhob sich. Eine tiefe Zornesfalte stand ihm zwischen den Augen.

»Du gehst sogleich auf dein Zimmer und hast bis auf weiteres Stubenarrest,« befahl er streng. »Und so sehr mir's widerstrebt, mit den Jesuiten in irgendwelchen Verkehr zu kommen, so werde ich doch euren Betrug ihnen schriftlich mitteilen, falls du mir nicht bis heute abend sieben Uhr erklärt haben wirst, daß die Geschichte mit dem Grabowski ein Ende hat.«

»Herr Pfarrer,« schrie Ewald außer sich, »das werden Sie nicht tun! Grabowski hat auf das Karmen einen Preis bekommen. Den nehmen sie ihm dann ab, und die Schande übersteht er nicht!«

»Ein sauberer Patron, dein Grabowski!« entgegnete der Pfarrer mit einem verächtlichen Lächeln. »Läßt andre für sich arbeiten und heimst die Ehren dafür ein. Wärst du nicht ganz verblendet in deiner Schwärmerei, so würdest du einsehen, wie erbärmlich das ist. Denk' einmal darüber nach, mein Sohn, und jetzt geh und komme zur Besinnung.«

Ewald ging mit gesenktem Haupte hinaus, aber schon auf dem Vorsaal warf er den Kopf trotzig zurück, und seine Augen blitzten auf. Er kam sich wie ein Märtyrer vor, der für den geliebten Freund schuldlos leidet. Ganz schuldlos leider freilich nicht, denn an einer Schulschwindelei hatte er sich um seinetwillen beteiligt. Aber wie oft wurden derartige Unterschleife verübt, und wenn sie herauskamen, meist nicht allzu streng bestraft! Hier allerdings lag die Sache gefährlicher, denn es hatte sich um eine Preisarbeit gehandelt, und die ehrwürdigen Väter würden vielleicht recht zornig werden, wenn sie die Täuschung erfuhren. Wie dumm von ihm, daß er das Karmen in sein Konzeptheft eingeschrieben hatte! Aber es war noch nie vorgekommen, daß der Pfarrer das Heft zu sehen verlangte.

Niedergeschlagen setzte er sich auf seiner Stube hin und versuchte zu arbeiten. Als die Dämmerung hereinbrach, kam jemand die Treppe herauf. Ewald erwartete die alte Suse mit dem Lichte und war nicht wenig erstaunt und erschrocken, als statt ihrer der Pfarrer in der Tür erschien. Er trug ein Blatt Papier in der Hand, und sein Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck. Er trat an den Fenstersims und legte den Zettel darauf. »Komm her, mein Sohn, und lies das,« sagte er.

Verwundert gehorchte Ewald und nahm das Papier in die Hand. Als er den ersten Satz gelesen hatte, ward er blaß und warf einen scheuen Blick auf den neben ihm stehenden Pfarrer. Denn hier teilte ein Unbekannter Seiner Ehrwürden mit, daß der bei ihm wohnende Ewald von Kleist nicht nur einmal, sondern mehrmals die heilige Messe in der katholischen Kirche besucht habe. Ja, er benutze sogar diese Gelegenheit, um dort mit jungen Mädchen zusammenzukommen.

Wie betäubt starrte der Jüngling auf das Blatt und legte es dann mechanisch wieder dahin, woher er es genommen hatte.

Der Pfarrer, der ihn währenddessen nicht aus den Augen gelassen hatte, schwieg eine Weile. Dann fragte er, ohne allen Zorn, aber mit Trauer in der Stimme: »Zunächst – weißt du, wer das geschrieben hat?«

»Ein gewisser Lubowiecki, der mit mir in die Klasse geht Die Handschrift ist nur wenig verstellt.«

»Und beruht die Denunziation auf Wahrheit?«

»Ja.«

Wieder eine längere Stille. Ewald erwartete einen fürchterlichen Zornesausbruch des alten Herrn, aber der Pfarrer fragte ganz ruhig weiter: »Bist du in Wahrheit dahin gegangen, um dich mit einem Mädchen zu treffen?«

»Niemals. Das ist eine Lüge!« rief Ewald. »Ich habe aus Zufall einmal dort ein Mädchen getroffen. Aber das ist schon Monate her.«

»Und wer war das?«

»Die Demoiselle Wilhelmine von der Goltz aus Battrow.«

Der Pfarrer schlug die Hände zusammen. »Auch die in dem Götzentempel!« rief er. »O, wie gehet der Teufel umher und suchet mit List, wen er verschlinge!« Er machte eine Pause und fragte dann so ruhig wie vorher: »Und was bewog dich, einen konfirmierten evangelischen Christen, die Zeremonien der Römischen mit anzusehen? Um Gotteswillen, hast du denn gar nicht an deine Seele gedacht, die dabei verloren gehen konnte?«

Es lag ein solcher Schmerz in diesem Ausrufe des Greises, daß Ewald erschüttert wurde. Er sank auf einen Stuhl, barg das Gesicht in die Hände und brach in Tränen aus.

Der Pfarrer sah dem schweigend zu und wartete, bis sich die Erregung des jungen Menschen etwas gelegt hatte. Dann fragte er noch einmal: »Also wer verlockte dich dazu?«

»Zuerst war ich neugierig,« erwiderte Ewald, sich mühsam fassend.

»Und dann?« fragte der Pfarrer mit einem tiefen Atemzuge.

»Ach, sie singen dort so schön!« brachte Ewald unter erneutem Schluchzen heraus. »Und es ist alles so bunt und so halbdunkel und so feierlich. Es war gar nicht wie in einer Kirche. Gepredigt wurde auch nicht. Aber die Lieder waren so rührend. Es war wie eine schöne Komödie. So wie das Leben der heiligen Genoveva, das die Lyzeisten im vorigen Jahre spielten.«

Dem Pfarrer entrang sich noch einmal ein tiefer Atemzug, diesmal ein Aufseufzen der Erleichterung. »Gott sei Dank,« murmelte er, »da ist noch nichts verloren.« Laut aber sagte er: »Ja, mit Singsang und Klingklang hebt's an; denn mit Speck fängt man Mäuse. Wenn die süßen Chorliedchen erklingen, so verdrehen die Weiblein und die Kinder im Geist die Augen und fallen auf die Knie. Und du, mein Jung, bist eben auch noch ein Kind, obwohl du an der Schwelle des Jünglingsalters stehst. Deine Seele ist noch weich und solchen Eindrücken leicht zugänglich. Zudem ist dein Gemüt phantastisch, und es steckt wohl in dir etwas von einem Poeten – leider Gottes! Denn Leute dieser Art werden selten glücklich. Aber für die Seelenfänger bist du darum eine um so leichtere Beute. Nun, noch ist es nicht zu spät, und ich will dir die Augen öffnen. Du hast das römische Wesen bisher nur in rosenroter Beleuchtung gesehen, ich will dir's in blutroter zeigen.«

Er trat an den Tisch und legte ein kleines Buch darauf nieder. »Die alte Suse wird dir Licht bringen. Dann nimm diese Schrift, mein Sohn, und lies! Sie wird dir besser und eindringlicher erzählen, wes Geistes Kinder die sind, die dich in ihrer Schule mit Lobsprüchen und Ehrenpreisen kajolieren und durch Weihrauchwolken und süßliche Gesänge deine Seele zu verführen trachten. Von dem, was dir das Buch sagt, wirst du mancherlei schon haben munkeln hören. Laut geredet werden darf nicht darüber in unserem Lande, und solange du zu den Patres in die Schule gehst, hätte auch ich dir's nicht gesagt, wenn ich nicht die Gefahr wahrnähme, in die sie dich gebracht haben.«

Er schritt hinaus und stieß schon in der Tür mit der alten Dienerin zusammen, die ein Licht und ein Tablett mit dem Abendessen niedersetzte.

Ewald ging, verwirrt und aufgeregt durch des Pfarrers feierliche Rede, an den Tisch heran und nahm das Büchlein neugierig in die Hand. Er schlug es auf und las den Titel. »Drei Aktus der Thorner Tragödie« stand auf dem ersten Blatt zu lesen.

Er schob sich einen Stuhl heran und begann sich in die Lektüre zu vertiefen. Schon die ersten Seiten fesselten sein Interesse, und je weiter er las, desto erregter wurde er. Den letzten Teil des Buches verschlang er mit fieberhaft brennenden Wangen, und als er geendet hatte, starrte er so entsetzt vor sich hin, als vermöchte er das Ungeheuerliche, das er erfahren hatte, gar nicht zu fassen.

Denn wie standen sie da vor ihm, die Leute, die seine Lehrer waren, und deren Lob und Beifall zu gewinnen sein höchster Ehrgeiz gewesen war! Wie erschienen sie ihm, diese frommen Väter, die so würdig und salbungsvoll zu reden wußten und so freundliche Mienen zu zeigen verstanden! Es war ihm zumute, als sähe er mit einem Male an der Stelle bekannter und vertrauter Menschengesichter lauter Wolfsgesichter und Teufelslarven.

Da hatte sich in der Stadt Thorn ein Volksauflauf ereignet, hervorgerufen durch maßlose Frechheiten der Jesuitenschüler. Das gemeine Volk war geradezu absichtlich zur Wut gereizt worden. Es hatte ein Kollegium der Jesuiten gestürmt und alles darin zerschlagen; auch ein paar Heiligenbilder waren dabei zertrümmert worden. Deshalb hatten dann die beleidigten Väter Jesu ein fürchterliches Strafgericht über die unglückliche Stadt heraufbeschworen. Auf ihr Betreiben war polnische Soldateska eingerückt, hatte in den Häusern der Bürger viel Übermut und mutwilligen Frevel verübt, der Stadt die eine ihrer lutherischen Kirchen entrissen und dem ganzen Gemeinwesen eine ungeheure Geldbuße zur Sühne auferlegt. Eine Reihe der angesehensten Bürger und Ratsherren hatte man verhaftet und monatelang im Gefängnis hingequält, um sie zum Übertritt zu bewegen. Aber nur einer hatte aus der Todesfurcht seinen Glauben abgeschworen, zehn waren fest geblieben, und diese zehn hatte man auch wirklich zu Märtyrern gemacht. Der Bürgermeister Rößner, ein im ganzen Lande geachteter Mann, hatte in der Morgenfrühe eines Dezembertages das Blutgerüst besteigen müssen, das im Hofe des alten Rathauses errichtet war. Die anderen neun hatte man auf dem Marktplatze hingerichtet, nachdem ihnen vorher die Hände abgehackt worden waren.

Mit grauenhafter Anschaulichkeit war die Marterszene beschrieben. Aber das Gräßlichste an der Geschichte war, daß sie etwas erzählt, was erst vor wenigen Jahren geschehen war. Das alles lag nicht etwa weit zurück in den Zeiten des großen Glaubenskrieges, sondern Ewald hatte mit eigenen Augen Leute gesehen, die in dem blutigen Drama eine Rolle spielten, Starosten, Geistliche, Edelleute, die um das Schafott mit herumgestanden hatten, die vielleicht sogar Mitschuldige waren an den in Thorn verübten Greueln. Es war dem Knaben zumute, als befände er sich im Banne eines bösen, furchtbaren Traumes, den er nicht abzuschütteln vermöchte. Er brütete, das Haupt in die Hände gestützt, finster vor sich hin und achtete es nicht, daß die schwache Kerze schon fast ganz heruntergebrannt war. –

Der Pfarrer hatte eben seiner alten Schwester, die ihm das Hauswesen führte, gute Nacht gesagt und sich dann noch einmal in sein Studierzimmer begeben. Er gedachte sich früher niederzulegen als gewöhnlich, denn der folgende Tag war ein Sonntag, an dem er viel zu tun hatte. Er sah nach, ob der Pelz und die Kappe bereit lagen, denn er mußte bereits beim Morgengrauen über Land fahren. Eben ergriff er das Licht, um sein Nachtlager aufzusuchen, da öffnete sich die Tür, und Ewald trat ein – so blaß und verstört, daß der alte Mann erschrak.

Der Knabe hielt ihm in zitternder Hand das Buch entgegen und fragte mit heiserer Stimme: »Ist das, bei Gott, alles wahr, Herr Pfarrer?«

»Leider alles. Mein eigener Bruder hat neben dem Herrn Konsul Rößner gestanden, als er auf dem Schafott kniete.« »Dann kann ich nicht mehr zu den Jesuiten in die Schule gehen,« sagte Ewald trotzig und hart. »Das sind ja Bestien.«

Der Pfarrer hob einen Brief von seinem Schreibtische empor. »Hier habe ich selbst deinen Herrn Vater gebeten, daß er dich auf eine andere Schule sende. Die Achtung vor deinen Lehrern mußte ich dir zerstören, um deine Seele zu retten. Das ging nicht anders. Aber es ist nun hier kein Boden mehr für dich, auf dem du gedeihen könntest, und das wird dein Vater einsehen. Solange er indessen seinen Permiß noch nicht erteilt hat, bist du an den Befehl gebunden, hier deine Schuldigkeit zu tun, auch wenn du deine Präzeptors verabscheuen müßtest. Jetzt gehe zu Bett, mein Sohn. Wir reden morgen noch darüber. Heute ist keine Zeit mehr. Gute Nacht.«

Ewald gehorchte und suchte sein Lager auf. Aber es kam in dieser ganzen Nacht kein Schlaf auf seine Lider.


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