Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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III

Der Tag, der mit diesen Ereignissen begonnen hatte, war für die Junker von Kleist schulfrei. Das Gemüt des Kandidaten Garbrecht war viel zu bewegt, als daß er die Regeln der lateinischen Grammatik hätte dreschen mögen. Noch weniger traute er seinen Zöglingen irgendwelche Sammlung und Aufmerksamkeit zu. Die Knaben waren aufs höchste aufgeregt. Etwas so Interessantes hatten sie noch nicht erlebt, seit vor zwei Jahren ein Wolf in der Gegend aufgetaucht und zur Strecke gebracht worden war. Sie aßen bei Tische kaum ein paar Bissen, erzählten dagegen immer nur Beobachtungen, die sie gemacht haben wollten, und die Schwestern, die den Auftritt leider versäumt hatten, hörten voller Neid und Erstaunen zu. Unter gewöhnlichen Umständen würde der Kandidat solch lautes Sprechen bei Tisch ernstlich gerügt und verboten haben, denn den Kindern geziemte das nicht, sie hatten vom Anfang bis zum Ende den Mund zu halten. Heute aber vergaß der gestrenge Mentor seiner Pflicht ganz und gar. Er hörte offenbar überhaupt nicht, was gesprochen wurde, und als ihn Madame Colette, die Gouvernante der Mädchen, in zierlichem Französisch etwas fragte, gab er eine total verkehrte Antwort. Derselben Dame machte er beim Aufstehen ein so flüchtiges Kompliment, daß sie ihm erstaunt und fast gekränkt nachblickte.

Auf seiner Stube angekommen, riegelte Garbrecht sich ein. Er wollte allein sein, in Ruhe über das nachdenken, was ihm geschehen war. Er zündete sich seine lange Pfeife an und warf sich in seinen Sorgenstuhl. Am Vormittag hatte er vor demselben Stuhl auf den Knien gelegen und Gott für seine Gnade mit Tränen gedankt. Denn er wußte wohl, was des Königs Machtwort für sein Leben bedeutete. Kein Konsistorium, kein Patron hätte gewagt, das Wort des Monarchen unberücksichtigt zu lassen, und im Kreise waren viele bejahrte Prediger, deren Abgang durch Tod oder Emeritierung nahe bevorstehen mußte. So war ihm mit einem Male die schönste Aussicht geöffnet. Er konnte seine alte Mutter bald ganz anders unterstützen als bisher, vielleicht auch einen Traum verwirklichen, in dem ein hübsches blondes Jungfräulein aus Thorn eine nicht unwesentliche Rolle spielte.

Das alles durchdachte er nun noch einmal, starke Tabakswolken ausstoßend und hin und wieder die Hände faltend voller Dank gegen die göttliche Providenz, die so sichtbar in seinem Leben zutage getreten war.

Inzwischen beschäftigten sich die unbeaufsichtigten Herren Junker in weniger rühmlicher Weise. Sie spielten König mit den Kindern der Tagelöhner, die sie auf der hinteren Wiese des Parkes, in weiter Entfernung vom Hause um sich versammelt hatten. Franz Kasimir ward in einer Schiebekarre herbeigefahren und verhieb mit einem Haselstock den dicken Schäfersjungen Andreas ganz natürlich, wie er es am Vormittage von Seiner Majestät gesehen hatte. Der Inkulpat nahm die Tracht Prügel anfangs gleichmütig hin, wie er schon so manche in seinem Leben hingenommen hatte. Als es aber der König gar zu arg machte, heulte er laut auf und warf den übereifrigen Monarchen zu Boden. Dies gab das Zeichen zu einer allgemeinen Prügelei, denn Ewald stellte sich auf Seite des über Gebühr Gezüchtigten, den der ergrimmte König als einen Majestätsverbrecher in den Schweinestall sperren wollte.

In der Schlacht, die sich nun erhob, siegte der Anhang des Königs gänzlich über die Rebellen. Ewald und die Seinen wurden zerstreut, zersprengt und durch den ganzen Park verfolgt. Der schnelle und geschmeidige Führer schlüpfte in das dichte Gebüsch und erkletterte eine alte Esche, deren Zweige ihn von den nachsetzenden Feinden verbargen. Er stieg gemächlich höher und höher und klomm bis in die Krone hinauf. Dort blieb er still sitzen, auch als das Spiel längst zu Ende war und die schnell versöhnten Widersacher unter seinem luftigen Sitze einen Feldzug gegen etliche Rabennester in den Erlen an der Radüe berieten. Er beschloß, sich an diesem Streiche nicht zu beteiligen, sondern inzwischen seine Freundinnen Daniela und Susanne aufzusuchen.

Der Knabe hatte das Gefühl, daß dieser Besuch von seinem Präzeptor nicht gebilligt werden würde. Er wartete daher vorsichtig, bis sein Bruder und dessen Spielgenossen abgezogen waren. Erst als die Luft ganz rein war, glitt er behend an dem Stamme hernieder, wand sich durch das dichte Gebüsch, schwang sich über die niedrige Mauer und lief klopfenden Herzens übers Feld nach dem Dorfe, an dessen Eingang das kleine, verfallene Haus der Witwe lag. Er klopfte an die Holztür, aber nur der Widerhall antwortete. Er drückte auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Nun spähte er durch die blanken Scheiben in das Innere, die Stube war leer. Er rief endlich, erst zaghaft, dann mit lauterer Stimme, aber nur die große graue Hauskatze kam um die Ecke gelaufen und schmiegte sich schnurrend an seine Knie.

Ewald beugte sich nieder und streichelte das Tier, aber es war ihm in der tiefen Stille bänglich und beklommen zumute. Er setzte sich auf eine schmale Bank, die an der Hauswand hinlief. Hier hatte die Daniela oft gesessen an schönen Sommerabenden und gestrickt und Märchen erzählt, und die beiden Kinder hatten ihr zur Seite gesessen und mit großen glänzenden Augen zugehört. Das Märchen vom Froschkönig fiel ihm plötzlich ein, und es war ihm, als hörte er deutlich die Stimme seiner kleinen Gespielin, die tief aufatmend sagte: »Wenn du einmal verzaubert wirst, rette ich dich auch.«

Und plötzlich stand sie vor ihm, atemlos vom raschen Laufen, die gewöhnlich etwas blassen Wangen hoch gerötet.

Der Knabe sprang auf. »Wo kommst du denn her?« rief er. »Wo ist deine Mutter? Warum hast du dein blaues Sonntagskleid an?«

»Die Mutter wartet auf dich droben am Walde in der Krähenhütte. Du hast mir doch gestern gesagt, du wolltest heute nachmittag dorthin kommen.« »Ja, das hatte ich vergessen,« sagte Ewald. »Aber was tut deine Mutter dort? Wir zwei wollten doch spielen?«

»Komm!« rief die Kleine und ergriff ihn am Arm. »Wir warten dort schon lange. Die Mutter will dir, glaub' ich, was sagen.«

Schweigend liefen die beiden Kinder quer übers Feld dem Walde zu. Dort stand eine alte, halbverfallene Hütte, die vor vielen Jahren zum Krähenschießen benutzt worden war. Jetzt war sie längst überwuchert von Brombeergestrüpp und wilden Rosen, und nur ein kundiges Auge konnte den schmalen Eingang finden, durch den man in ihr Inneres gelangte. Im Frühling hatte Ewald das verlassene Nest entdeckt, und seitdem war es sein Lieblingsspielplatz geworden, wo er stundenlang in der grünen Dämmerung saß und träumte. Keinem Menschen außer der kleinen Susanne hatte er das Geheimnis anvertraut, auch seine Geschwister wußten nicht darum.

Als jetzt die beiden dem Versteck sich näherten, erhob sich hinter einem dichten Wacholderbusche eine Frau aus dem Grase. Sie trug wie ihr Kind sonntägliches Gewand, neben ihr lag ein großes Bündel und ein Stock auf der Erde.

»Da bist du ja, kleiner Junker,« sagte sie und heftete einen Blick voll heißer Zärtlichkeit auf den Knaben. »Wir haben auf dich gewartet, und wie du übers Feld liefst nach unserm Hause, da hab' ich die Sanna dir nachgeschickt. Ich konnte doch nicht fort, ich mußte dich noch einmal sehen. Und aufs Schloß konnte ich nicht kommen.«

Der Knabe starrte sie erschrocken an. »Du willst fort, Daniela?«

»Ich muß,« sagte die Frau hart, und ein bitterer Schmerz prägte sich in ihrem Antlitz aus. »Sie sagen ja, ich wäre eine Hexe.«

»Das ist nicht wahr!« Der Knabe stürzte auf sie zu und umschlang sie stürmisch. »Der König hat's ja dem Schulzen gegeben!«

Die Frau strich mit zitternden Händen über den lockigen Kinderkopf, der sich an sie schmiegte. »Mein kleiner Junker, der König ist fortgefahren, und die Bauern sind noch da. Wer weiß – sie stecken mir am Ende in der Nacht das Haus an. Wir müssen fort, wir müssen fort,« wiederholte sie tonlos.

»Nein, nein!« schrie Ewald. »Ich will nicht, daß du fortgehst. Du sollst dableiben und Sanna auch. Wenn ihr fortgeht, bin ich zu allein, du mußt dableiben, hörst du. Du sollst aufs Schloß kommen. Herr Garbrecht und der Vater leiden nicht, daß dir die Bauern etwas tun!«

Er brach in ein lautes Weinen aus und umklammerte sie dabei immer heftiger.

In das Gesicht der großen, knochigen Frau trat ein gequälter, hilfloser Ausdruck. Sie konnte kein Kind weinen sehen, dieses am wenigsten. Sie hing an dem kleinen Ewald mit der fast abgöttischen Zärtlichkeit, mit der sie an ihrer toten Herrin gehangen hatte. Er war ihr so ähnlich im Äußeren wie in seinem Wesen, viel ähnlicher als die Töchter, die in ihrer ganzen Art mehr nach dem Vater geschlagen waren. Ja, um dieses Kindes willen wäre sie gern in Curow geblieben. Sonst hielt sie hier nichts als zwei Gräber, das ihrer Herrin und das ihres Mannes, der nach kurzer Ehe schon vor acht Jahren gestorben war.

Sie wußte nicht, was sie sagen, wie sie das schluchzende Kind trösten und beruhigen sollte. Da sprach neben ihr die kleine Susanne mit merkwürdig fester Stimme: »Sei ruhig, Ewald, wir kommen ja wieder.«

»Ja, wir kommen wieder,« wiederholte die Mutter. Mit dieser Lüge hatte sie ihre kleine Tochter dazu gebracht, daß sie ihr still aus dem Hause folgte. Die mußte sie nun auch dem Knaben sagen, damit sein wilder Schmerz sich sänftigte.

»Ihr kommt wieder? Wann kommt ihr? Nächste Woche? Wenn der Vater wieder da ist?« stieß Ewald noch immer schluchzend hervor.

»Ja, mein Jung, wenn dein Vater wieder da ist,« erwiderte die Frau mit zitternder Stimme. »Und nun höre, Ewald, ich will dir noch was geben. Hier ist ein Zettel, ich habe ihn geschrieben. Den gibst du dem jungen Herrn Pastor. Vergiß das ja nicht. Gib ihn gleich ab, wenn du heimkommst. Da ist auch der Schlüssel zum Hause und zum Stalle. Sage dem Herrn Pastor, meine Ziege und auch meine Katze –«

Sie brach ab, und ein würgendes Schluchzen kam aus ihrer Brust. Die mühsam bewahrte Fassung brach mit einem Male zusammen. Sie sank vor dem Kinde in die Knie und riß es an sich. Die ganze wilde Leidenschaft ihres Blutes kam plötzlich zum Ausbruch. Sie bedeckte sein Haar, seine Hände, seine Füße mit brennenden Küssen und stammelte in jammervollen Tönen: »Mein Goldkind, mein allerliebster Junker, mein Herzblatt! Ach, daß ich dich da lassen muß! Ach, daß ich dich nicht mitnehmen kann! Wer hat dich so lieb wie die alte Daniela! Wie mein eignes Kind, wie mein eignes Kind hab' ich dich lieb. Und nun muß ich von dir fort!«

So ging es eine ganze Weile, während der Knabe steif und bleich dastand und die wilden Liebkosungen mit ängstlichen Augen über sich ergehen ließ.

Mit einem Male stand das Weib auf und strich sich die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht. Alle Weichheit war aus ihren Zügen verschwunden, sie waren wieder hart und steinern. »Na, adjüs auch,« sagte sie mit trockener Stimme. »Gib den Zettel ab, vergiß ihn nicht.« Dann ergriff sie die Hand ihres Kindes. »Komm, es wird Zeit!«

»Sanna!« schrie Ewald auf, als die Kleine an der Hand ihrer Mutter dem Walde zuschritt. Das Kind wandte den Kopf und sah ihn mit einem kläglichen Blick an. Da sprang er auf die kleine Gespielin zu, warf die Arme um ihren Hals und küßte sie.

Kaum war das geschehen, so fuhr er zurück und ward glühendrot. Seit seiner Mutter Tode, und das war schon mehrere Jahre her, hatte er nie einem Menschen einen Kuß gegeben. Und nun einem kleinen Mädchen! Mitten in dem tiefen Weh, das sein Kindesherz empfand, kam ihm der Gedanke, daß das eines Jungen unwürdig sei. Wie würde Franz Kasimir spotten, wenn er das gesehen hätte!

Von plötzlicher Scham übermannt, lief er ein Stück abseits, kauerte am Wegrande nieder und barg sein Gesicht in den Händen. So saß er eine ganze Zeitlang.

Als er wieder aufblickte, waren die beiden verschwunden. »Sanna! Daniela!« rief er laut und rannte ein Stück in den Wald hinein. Aber er fand sie nicht und auch, als er von neuem rief, kam keine Antwort. Nur ein Häher flog mit höhnischem Kreischen an seiner Seite auf. Sonst blieb es totenstill im Walde.

Da warf er sich nieder auf das feuchte Moos und weinte, wie nur ein Kind weinen kann, so herzbrechend und zugleich den Schmerz in Tränen fortspülend, das Herz entlastend und befreiend.

Dann stand er auf und ging langsam ins Schloß hinunter. Der Tag hatte sich schon geneigt, purpurnes Abendrot stand am Himmel. Darum war der Herr Garbrecht aus seiner dumpfen Klause in den Park hinabgestiegen, und hier gab ihm der Knabe den Brief.

Der Kandidat las und knüllte dann das Papier zusammen. »Die Bosheit hat also wieder einmal gesiegt,« murmelte er. »Aber es ist gut so, sie sind in ihrer polnischen Heimat sicherer.« Dann heftete er einen langen, mitleidvollen Blick auf das Kind. »Haben sie dir Adieu gesagt?« fragte er.

Ewald nickte.

»So komm, mein Sohn. Wir wollen den Schäfer mitnehmen. Wir müssen ja für die Ziege sorgen. Und die Katze – sie kennt dich ja –, die darfst du behalten.«

»Ich will sie aufheben und füttern, bis Daniela wiederkommt,« sagte Ewald.

»Tue das,« erwiderte der Kandidat und strich ihm sanft über den Kopf.


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