Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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VII

Ein Knabe, der aus der Freiheit des Landlebens in die Stadt und zugleich in die Schule kommt, erlebt damit eine der größten Veränderungen, die ein Mensch überhaupt erleben kann. Es ist ihm zumute wie einem gefangenen Vogel, der gewohnt ist, in unermeßliche Weite zu fliegen, wie einem wilden Fohlen, das bisher über Steppen und Wiesen jagen durfte, nun aber in den engen Stall gesperrt wird und einen Wagen ziehen lernt, dessen Last sich täglich vermehrt. Da gibt es im Anfang viele Tränen und trotziges Aufbegehren wider die Unfreiheit, aber wie der wilde Vogel es allmählich verlernt, gegen die Gitterstäbe anzufliegen, und wie das junge Roß mit der Zeit des nutzlosen Aufbäumens müde wird, so fügt sich auch das Menschenkind in den Zwang und gewöhnt sich an seine Fesseln.

Die ungemeine Klugheit der Lehrer, in deren Hand Ewald von Kleist gegeben worden war, brachte es fertig, ihm die schwere Zeit der Eingewöhnung sehr zu erleichtern. Sie vollführten das durch ein höchst einfaches Mittel, nämlich dadurch, daß sie den Ehrgeiz weckten, der bisher in der Seele des begabten Jungen völlig geschlummert hatte. Wie hätte er auch in Zeblin ins Kraut schießen sollen? Ewalds Bruder, der mit ihm zusammen unterrichtet wurde, war groß, stark und kräftig, aber weder körperlich noch geistig gewandt, auch waren Scharfsinn und Gedächtnis bei ihm nur mäßig entwickelt. Ihn hatte der Jüngere jederzeit und in allen Fächern weit übertroffen, aber da er das gar nicht anders kannte, so hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht und sich niemals etwas darauf eingebildet. Überdies würde sein Präzeptor dafür gesorgt haben, daß solche Regungen der Eitelkeit in der Kinderseele auf der Stelle nach Kräften unterdrückt wurden.

In Deutsch-Krone war es ganz anders. Was man zu Hause ausgerottet hätte, ward hier aufs sorgfältigste gepflegt. Ewald war noch nicht vier Wochen Schüler des Lyzeums, da erlebte er einen Tag, der einen Feuerfunken in sein junges Herz warf.

An einem Morgen nämlich wurden die Schüler statt in die Unterrichtsräume in den großen Saal neben dem Hauptgebäude geführt, wo die Eleven der oberen Klassen hin und wieder lateinische oder französische Schauspiele aufführen mußten. In diesem Saal saßen auf einem Podium der Pater Rektor, der Dechant, sämtliche Lehrer und viele angesehene Männer aus der Stadt. Zur Seite war ein kleines Musikkorps aufgestellt, das auf den verschiedensten Instrumenten eine feierliche, getragene Weise spielte. Als sie verklungen war, trat der Pater Rektor auf ein Katheder, zu dem mehrere Stufen hinaufführten. Ein Diener brachte darauf ein verdecktes Tablett und stellte sich neben dem Katheder damit auf.

Nun hielt der Pater Rektor eine Rede, in der er ausführte, daß Fleiß und Sittenreinheit das höchste Lob eines Schülers bildeten, und daß diejenigen, die sich durch beide Tugenden auszeichneten, einer öffentlichen Ehrung würdig seien. Hierauf rief er aus jeder Klasse drei Schüler zu sich heran. Jedem von ihnen heftete er unter schmeichelhaften Worten eigenhändig einen kleinen silbernen Palmenzweig an die Brust, den besten an einem roten, den zweiten am blauen, den dritten am weißen Bande. Dazu wurde jedesmal ein Tusch geblasen, der mit dem roten Bande Geschmückte erhielt sogar einen dreimaligen. Dann setzte eine schmetternde Musik ein, unter deren Klängen die Anwesenden, der Rektor und die mit dem Schulorden Ausgezeichneten an der Spitze, den Saal verließen.

Ewald hatte dem ganzen Vorgang mit brennenden Blicken zugesehen, und als er jetzt nach dem Kollegiengebäude hinüberschritt, waren seine Wangen noch vor Aufregung gerötet.

»Das rote Band möchte ich auch haben!« sprach er halblaut von sich hin.

Sein Nebenmann Hans von Unruh hatte es gehört und blickte ihn spöttisch von der Seite an. »Du?« flüsterte er, »das schlage dir aus dem Kopfe. Die Orden kommen selten an uns. Die kriegen meist die Alumnen, die im Kolleg wohnen.«

»Wir wollen einmal sehen,« sagte Ewald.

Von Stund an begann der Knabe, der bisher nur mit geringem Eifer gearbeitet und in den Unterrichtsstunden oft vor sich hin geträumt hatte, der Fleißigste und Aufmerksamste der Klasse zu werden. Sehr bald wurde das auch in seinen Leistungen sichtbar, denn an Auffassungsgabe und Gedächtnis übertraf er ohnehin alle, die hier der Zufall mit ihm zusammengewürfelt hatte. Daher sagte schon gegen Weihnachten der Pater, der die Klasse unterrichtete, voller Anerkennung in den sonst meist unbeweglichen Mienen: »Ich bin mit deinem Fleiß und deinen Sitten recht zufrieden, mein Sohn. Fahre so fort, und du wirst demnächst von mir zu einer Auszeichnung vorgeschlagen werden.«

Er schlug ihn auch wirklich vor, als er kurz nach dem Feste dem Pater Rektor, wie es von Zeit zu Zeit üblich war, über jeden Schüler Bericht zu erstatten hatte. Er befand sich dabei mit dem Vorgesetzten allein in dessen Studierzimmer und stand nach Ordensbrauch an der Tür, während der Rektor am Tische saß.

»Der kleine Kleist entwickelt sich zu einem der strebsamsten unter meinen Schülern,« sagte er. »An Ingenium ist er allen überlegen, die Ihre Weisheit mir anvertraut hat. Er wird mit der Zeit der Beste in der Klasse.«

Der Rektor ließ seine kalten, durchdringenden schwarzen Augen eine Weile auf dem Gesichte des Paters ruhen und entgegnete dann ruhig und freundlich, als ob er etwas Verbindliches sage: »Der Knabe ist auch der Hübscheste unter den Neueingetretenen. Ich hoffe, Pater Eustach, daß nicht das Wohlgefallen an seiner äußeren Erscheinung Ihr Urteil mitbestimmt.«

Der Jesuit errötete vor Unwillen, aber die Gewohnheit sich zu beherrschen, war so mächtig in ihm, daß er mit keiner Wimper zuckte und seine Stimme den gewöhnlichen sanften Ton behielt, als er antwortete: »Ich bemühe mich eifrig und erflehe dabei ständig die Hilfe der heiligen Jungfrau, von den äußeren Vorzügen meiner Schüler abzusehen, wenn ich berufen bin, über ihre Wissenschaft und Sitten zu urteilen. Mein hochwürdiger Vater wolle sich aus diesem Hefte selbst überzeugen, welchen Fleiß jener Knabe auf seine Exerzitien verwendet.«

Der Rektor nahm das Heft und blätterte eine Weile darin herum. »In der Tat sehr erstaunlich,« murmelte er. Dann reichte er es dem Pater zurück und sagte: »Der junge Kleist scheint ebenso ehrgeizig wie geweckt zu sein. Mit wem verkehrt er?«

»Mit den lutherischen Knaben aus seiner Pension. Von unsern Glaubensgenossen unter den Externen scheint er sich nur noch zu Grabowski hingezogen zu fühlen.«

»Grabowski wohnt in der Stadt bei dem Starosten, nicht wahr?« fragte der Rektor weiter, und fuhr fort, als der Pater bejahend das Haupt neigte: »Der Starost von der Goltz ist lutherisch, und Grabowski unseres hochwürdigen Bischofs Neffe. So geht in diesem Lande alles durcheinander, der eine Schwager ist katholisch, der andere ein Ketzer, die Gläubigen wohnen mit den Ungläubigen zusammen, essen und trinken miteinander. In diesem Falle können wir aus dem heillosen Zustande vielleicht Nutzen ziehen, denn in des Starosten Haus zu gehen kann der lutherische Prediger seinem Pensionär nicht wehren. So kann Kleist mit Grabowski dort zusammenkommen; denn diese Knabenfreundschaft muß ausnahmsweise begünstigt werden. Sitzen die beiden beim Unterricht nebeneinander? Nicht? So sorgen Sie dafür, Pater Eustach, daß sie sobald wie möglich nebeneinander ihre Plätze erhalten. Zeigt er sonst noch Hinneigung zu einem Knaben unseres Glaubens, und wird Ihnen das bemerkbar, so melden Sie mir's auf der Stelle.«

Der Pater verneigte sich demütig und ging. Er hatte seinen Vorgesetzten sofort verstanden.

Ewald von Kleist aber erhielt bei der nächsten Preisverteilung die silberne Palme am weißen Bande, und der Pater Rektor verhieß ihm, wenn er brav und fleißig weiter lerne, eine noch größere Auszeichnung.

Er gewann sie auch, denn er ward bald unbestritten der Erste unter seinen Mitschülern. Sein Bemühen hielt an, denn sein Ehrgeiz wurde immer brennender und mächtiger. Wenn einmal bei einer Preisverteilung ein anderer mit dem roten Band geschmückt wurde, so war er tief unglücklich und gab sich in den folgenden Wochen doppelte und dreifache Mühe, seinen Nebenbuhler aus dem Felde zu schlagen.

So ging das Jahre hindurch, und Ewald wuchs zu einem hochaufgeschossenen Knaben heran, der an der Schwelle des Jünglingsalters stand. Er verkümmerte dabei nicht zu einem blassen, hohlwangigen Stubenhocker, dazu war der Erziehungsplan viel zu vernünftig, der seinem Leben zugrunde gelegt war. Zwar die Kunst des Turnens war dazumal unbekannt, und wenn junge Leute in den Fluten des herrlichen Sees bei Deutsch-Krone hätten herumschwimmen wollen, so wäre das jedermann in der Stadt anstößig gewesen. Aber das Reiten, Fechten und das Schießen mit der Pistole mußte ein adliger Knabe lernen und üben, er mochte wollen oder nicht. Das erschien den Herren Vätern und Großvätern ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als der gelehrte Krimskrams, den ihre Nachkommenschaft bei den Jesuiten lernte.

An der alten Stadtmauer, nahe bei dem Pförtchen, durch das man an den See gelangt, stand ein graues ziemlich verfallenes Haus. Den Unterstock dieses Gebäudes bewohnte Monsieur Ledoux, ein alter Franzose, der einst mit einem Fürsten Sapieha aus seiner Heimat nach Polen gekommen war und nach einem abenteuerlichen und nicht immer einwandfreien Leben hier seinen Hafen gefunden hatte. Er war ein kleiner, überaus behender, dabei spindeldürrer Greis mit scharfen, listig blickenden Äuglein und einem Bärtchen à la Turenne, das er kohlschwarz zu färben pflegte. Zu ihm pilgerte die ganze adelige Jugend der Stadt, um von ihm in der edlen Kunst des Florettfechtens unterwiesen zu werden, und sie hätte darin keinen besseren Lehrer finden können. Denn niemand sah ihm seine sechzig Jahre an, wenn er die Stöße seines Gegners parierte, blitzschnell erwiderte, endlich mit unfehlbarer Sicherheit, sich weit vorbiegend, den Knopf seines Floretts dem anderen auf die wattegepanzerte Brust stieß.

Zu ihm wandelte denn auch Ewald, nachdem er sein zwölftes Jahr vollendet hatte, jeden Tag in der Morgenfrühe, um eine Stunde lang zu lernen, wie man avanciert, retiriert und passadiert, und was sonst die Geheimnisse der Fechtkunst sind. War ihm aber in der Klasse schon längst keiner mehr gewachsen, so glückte es ihm auf dem Fechtboden nicht ganz so gut. Hier fand er eine ganze Reihe ebenbürtiger Gegner, besonders unter den Knaben polnischer Herkunft, ja, mehrere waren ihm sogar entschieden über. Denn das sarmatische Blut rollte schneller durch die Adern als das deutsche und gibt den Polen eine natürliche Lebhaftigkeit und Behendigkeit, die den Menschen germanischen Blutes zumeist versagt ist.

Besonders gefährlich war ihm da ein gewisser Lubowiecki. Der übertraf ihn sonst in nichts, zeigte sich in der Schule faul und indolent, obwohl er der Älteste in der Klasse war. Aber auf dem Fechtboden war er der Schnellste und Geschmeidigste von allen. Nie konnte es Ewald fertig bringen, diesem Rivalen einen entscheidenden Stoß zu versetzen, obwohl er ihm an Körperkräften überlegen war. Trat er mit ihm zum Kontrafechten an, so ward er jedesmal besiegt.

Darob verhöhnte ihn hier und da Lubowiecki weidlich, und Ewald rächte sich, indem er ihn mit seiner Unkenntnis fremder Sprachen aufzog. Ja, als ihn der Polenjüngling einst besonders gereizt hatte, verfaßte er einen kleinen lateinischen Spottvers auf ihn, der unter den Mitschülern viel belacht wurde. Das war eine schlimme Fügung; denn kaum merkte der unglückliche Dichter, welchen Anklang er damit fand, so setzte er diese Versübungen fort, weniger um den Gegner zu ärgern, als um den lächelnden Beifall der anderen zu genießen. Er ahnte dabei nicht, was er anrichtete; denn noch wußte er nicht, daß ein beschränkter Mensch alles eher verzeiht als eine Bloßstellung seiner geistigen Gebrechen. Lubowiecki weinte daheim vor Wut und Scham über die Nadelstiche, die ihn verwundeten und die er nicht zu erwidern vermochte. Es setzte sich in seiner Seele ein Haß fest, den er nur mühsam bändigte, und der bei seinem leidenschaftlichen Naturell früher oder später in offenen Flammen emporlodern mußte.

Vorläufig konnte er dem verhaßten pommerschen Jungen freilich wenig schaden. Denn Ewald war bei seinen Mitschülern beliebt, obwohl er eigentlich mit keinem außer Grabowski näher verkehrte. Infolge eben dieser Freundschaft kam er aber auch bei seinen Lehrern immer mehr und mehr in Gunst. Die klugen Jesuiten schienen ganz richtig kalkuliert zu haben, als sie die Annäherung der beiden Knaben aneinander nach Möglichkeit begünstigten. Ewald wurde dadurch in Kreise geführt, in denen er katholisches Leben und Wesen kennen lernte, und es war nicht zu leugnen, daß es ihn in manchen Stücken mächtig anzog.

Als er eben sein fünfzehntes Jahr vollendet hatte, ließ er sich durch seinen Freund bereden, einmal den katholischen Gottesdienst anzusehen. Der Pfarrer, bei dem er wohnte, hatte das natürlich seinen Hausgenossen streng untersagt. So schlich er sich denn mit Herzklopfen in die katholische Kirche und wurde von Grabowski in eine dämmernde Nische hinter einem Pfeiler postiert, von wo er alles aufs genaueste sehen konnte und nur von wenigen wahrgenommen wurde. Der feierliche Ritus, die Pracht der Gewänder, der getragene Gesang eines wohlgeschulten Chores machten einen tiefen Eindruck auf sein Gemüt. Dazu kam der Reiz des Neuen, Ungewohnten und das Bewußtsein, etwas Verbotenes zu tun, das nicht ohne Gefahr für ihn war. Das alles zusammen versetzte ihn in einen eigenartigen Zustand, er meinte, etwas so Wunderbares und Geheimnisvolles noch nie erlebt zu haben.

Das zweite Mal brauchte Grabowski keine Überredungskünste anzuwenden, um ihn zu dem Abenteuer zu veranlassen. Diesmal war der Gottesdienst noch viel prächtiger inszeniert, denn ein durchreisender Bischof hielt selbst das Hochamt ab. Die Kirche war aufs festlichste geschmückt, um den hohen geistlichen Würdenträger zu ehren, und eine große Zahl geputzter Frauen und polnischer Edelleute in phantastisch-bunten Schnürröcken hatten vor dem Altarraum Platz genommen.

Als Ewald sich eben in seinem dämmernden Winkel niedergelassen hatte und neugierig die glänzende Gesellschaft musterte, schreckte ihn plötzlich das Rascheln eines seidenen Frauenkleides an seiner Seite auf. Er wandte schnell den Kopf und sah neben sich ein Mädchen stehen, das wohl jünger sein mochte als er selbst, aber sich schon ganz als kleine Dame trug. Das reiche blonde Haar war hoch frisiert, und auf der oberen Spitze schwebte kokett ein winziges Hütchen mit buntem Bande. Ein eng geschnürtes Mieder von blauem Sammet und ein Reifrock von gleichfarbigem feinem Tuch umschloß die zierliche Gestalt.

Das Jungfräulein schien etwas überrascht zu sein, jemand hier zu finden. Sie blieb erst unschlüssig stehen, als ob sie wieder weglaufen wollte. Dann aber besann sie sich eines Besseren und nahm auf der äußersten Kante des Bänkchens Platz, auf dem Ewald saß. Eine Weile saß sie still und schaute mit gefalteten Händen sittsam vor sich hin, aber bald darauf merkte er, daß sie ihn verstohlen immer wieder von der Seite beäugte.

Dem Jünglingsknaben ward es heiß und schwül unter diesen Blicken, zumal er bei einer Wendung des Kopfes wahrgenommen hatte, daß es große, glänzende, kornblumblaue Augen waren, die auf ihm ruhten. Sein Herz begann unruhig zu pochen, und er fühlte, wie er über und über errötete. Das ärgerte ihn so, daß er plötzlich mit einem Ruck in die Höhe fuhr und der fremden Erscheinung entschlossen ins Gesicht blickte.

Fast im gleichen Augenblick wandte auch das Mädchen ihr Antlitz nach seiner Seite hin und zuckte nicht zurück, als sein voller Blick sie traf, ein Blick, in dem etwas von Zorn und Bewunderung zugleich lag. Vielmehr umspielte ein Lächeln ihren Mund, und sie hielt ihm mit einem Male die Hand hin.

»Kennen Sie mich nicht mehr, Monsieur de Kleist?« fragte sie flüsternd.

Ewald ergriff, sichtlich verwirrt, die Fingerspitzen der kleinen Dame, ließ sie aber sogleich wieder fallen, als ob er sich an ihnen verbrannt habe. Er ward noch röter als zuvor und stotterte: »Ich weiß nicht – es ist mir so – ich muß Sie schon gesehen haben, aber ich kann mich wirklich nicht besinnen.«

Das Mädchen verzog schmollend die Lippen. »Sie sind mir ein galanter Kavalier! Waren Sie nicht bei uns in Battrow vor vier Jahren, um Ihre Amme, die Daniela Kluska, zu besuchen?«

Ewald sah sie erstaunt an. »So sind Sie die kleine Wilhelmine von der Goltz?«

»Na, erlauben Sie!« sagte das Dämchen gekränkt. »Die kleine Wilhelmine! Ich glaube, Sie sind nicht viel größer als ich, Monsieur.« Sie warf dabei das Köpfchen zurück und sah sehr hoheitsvoll aus.

»Nein, nein!« stammelte Ewald, von neuem errötend, »damals, ich meine damals. Jetzt sind Sie nicht mehr klein, Sie sind ja eine Dame.«

Das große Kind lächelte geschmeichelt und warf ihm einen wohlgefälligen Blick zu. »Ja, sehen Sie,« entgegnete sie altklug, »man kann nicht immer ein bébé bleiben. Sie sind ja auch enorm gewachsen und sind ein junger Mann geworden.«

Diesmal wurde der gute Junge bis unter die Haarwurzeln rot, denn daß er in den Augen dieses liebreizenden Fräuleins ein junger Mann war, hob ihn unendlich vor sich selbst, und so etwas Schmeichelhaftes hatte ihm überhaupt noch niemand gesagt. Er lächelte blöde vor sich hin und fühlte sich dem sicheren und gewandten Mädchen gegenüber ungemein verlegen und befangen, obwohl sie jünger sein mußte als er selbst. Er hatte die Empfindung, daß er jetzt eigentlich etwas Verbindliches sagen mußte, es fiel ihm aber nichts Rechtes ein. Endlich fragte er, um nicht ganz als Stock dazusitzen: »Sind Sie denn katholisch?«

Wilhelmine lachte leise auf. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, ich dachte, weil Sie hier sind.«

»Ja, sind Sie denn nicht auch hier? Und sind Sie katholisch?« gab sie zurück, und als er nach einer Antwort suchte, fügte sie hinzu: »Es geht Ihnen wahrscheinlich wie mir. Ach, in unseren Kirchen ist es so langweilig, man sieht gar nichts und hört nur die Predigt, die so lang ist, und bei der man einschlafen möchte. Hier sieht man so viel, und alles ist so ganz anders und so viel schöner als bei uns, und die Musik, die ist himmlisch, nicht wahr?«

In diesem Moment setzte der Chor ein, wodurch er der Antwort überhoben wurde. Ein lateinischer Hymnus ward vierstimmig gesungen, eine Melodie von eigentümlicher Weichheit und Schönheit. Als die Töne verklungen waren und Ewald sich seiner Nachbarin wieder zuwandte, sah er, daß sie weinte.

»Mein Gott,« murmelte er, »verstehen Sie denn, was sie da vorn singen?«

»Das brauch' ich gar nicht,« erwiderte sie leise. »Die Musik rührt mich schon so.«

Während des weiteren Verlaufes der Feier sprachen sie nicht miteinander. Das Mädchen sah so andächtig und ergriffen aus, daß Ewald sie nicht anzureden wagte.

Als der Gottesdienst vorüber war und die Kirche sich leerte, wandte sich die kleine Schönheit wieder zu Ewald und bot ihm mit einem anmutigen Lächeln die Hand. »Adieu, Monsieur,« sagte sie. »Wir müssen uns jetzt trennen, denn ich werde vor der Kirche erwartet.«

»Darf ich Sie nicht begleiten?« fragte Ewald, und indem er über seine eigene Kühnheit erschrak, machte er eine Verbeugung, die sehr linkisch ausfiel.

»Warum nicht, wenn es Ihnen Pläsier macht?« entgegnete sie. »Ich werde dann wie eine große Dame von zwei Kavalieren heimgeleitet.«

Sie traten währenddessen aus dem Gotteshause, und aus dem Torwege eines benachbarten Hauses kam eiligen Schrittes ein junger Mann auf sie zu, der den Schnürrock der polnischen Slachtitzen trug. Es war Lubowiecki.

»Ist das Ihr Begleiter?« fragte Ewald hastig, und ein scharfer Stich fuhr ihm durchs Herz.

»Gewiß. Er ist ein entfernter Vetter meiner Mutter und wohnt in demselben Hause, in dem wir wohnen, wenn wir hier sind, bei meinem Schwager, dem Landrichter von Gruszczynski,« plauderte sie, und als Lubowiecki herantrat, stellte sie mit der Sicherheit einer großen Dame die beiden einander vor.

Der junge Pole nahm mit einer galanten Verbeugung ihren Arm und sagte: »Bitte, dessen bedarf es nicht. Wir sind ja Klassengenossen. Und so gute Freunde,« setzte er mit einem bösen Blick auf Ewald hinzu. Dann überschüttete er seine teure Cousine, wie er sie einmal über das andere nannte, mit einem Schwalle von zierlichen Redensarten und Galanterien, die ihm nur so von den Lippen flossen. Von Ewald nahm er nicht die geringste Notiz.

Der ging schweigsam und wie auf den Mund geschlagen nebenher. Diese Art Konversation konnte er nicht machen, darin war ihm der andere weit über, das fühlte er wohl. Er hatte bisher diesen Patron verachtet, jetzt aber empfand er etwas wie Neid ihm gegenüber, und zugleich stieg eine brennende Eifersucht gegen ihn in seinem Herzen empor.

Er hätte wohl gar nichts zu der Unterhaltung beigetragen, wenn nicht Wilhelmine hin und wieder eine Frage an ihn gerichtet und ihn so zum Sprechen veranlaßt hätte.

Das Haus des Landrichters war bald erreicht. Das Mädchen ließ Lubowieckis Arm los und bot ihm die Hand. »Wir bleiben noch drei Tage hier,« sagte sie. »Meine Mutter wird sich gewiß freuen, wenn Sie ihr eine Visite abstatten.«

»Ich werde kommen,« erwiderte Ewald und verbeugte sich mehrmals mit großer Heftigkeit.

Lubowiecki öffnete seiner Dame die Tür und sagte über die Achsel mit impertinenter Freundlichkeit: »Und einstweilen dürfen wir wahrscheinlich der gnädigen Frau dein gehorsamstes Kompliment ausrichten? Das hattest du wohl vergessen?« Er lachte spöttisch, trat dann rasch ins Haus und schlug die Tür zu.

Blaß vor Ärger stand Ewald da und starrte hinter ihm her. Am liebsten wäre er ihm nachgeeilt und hätte ihn gewürgt. Die Rüge seiner gesellschaftlichen Unbeholfenheit in Gegenwart dieses Mädchens hatte ihn wie ein Peitschenhieb getroffen.

Auf dem Heimwege verwandelte sich dann rasch sein Grimm in tiefe Bekümmernis über sich selbst. Warum war er nur so linkisch und blöde? Warum ging ihm so ganz und gar die Fähigkeit ab, in glatten Worten zu plaudern wie dieser Polenjüngling, der sonst so viel dümmer war als er? Er begriff sich selbst nicht und schwur sich heilig, er wolle bei seiner Visite das Versäumte doppelt nachholen und so gesprächig und unterhaltend sein, daß sich alle über ihn verwundern sollten.

Es blieb jedoch beim guten Vorsatz. Denn am folgenden Tage umschlich er wohl das Haus von allen Seiten und stand noch in der Dämmerung davor und blickte zu den Fenstern empor. Aber er fand nicht die Kühnheit hineinzugehen, und als er tags darauf wiederkam, stand schon die Reisekutsche vor der Tür, und sein Mitschüler Lubowiecki reichte eben der lieblichen Wilhelmine einen Strauß von Maiglöckchen mit zierlicher Verbeugung in den Wagen hinein. Ewald mußte von ferne sehen, wie sie die Gabe freundlich nickend entgegennahm, und wie die blauen Augen, die ihn in der letzten Nacht ganz um den Schlaf gebracht hatten, den Frechen holdselig anlachten.

Da rannte er davon wie gehetzt, ohne sich umzusehen, warf sich daheim in seinem Dachstübchen über sein Bett und weinte laut und lange vor Scham und Schmerz. Dann setzte er sich verdrossen über seine Bücher und nahm sich vor, überhaupt nicht mehr an das Mädchen zu denken. Aber es gelang ihm heute nicht und ebensowenig in der Folgezeit. Wenn er manchmal ganze Tage nicht an sie dachte und glaubte, er habe sie vergessen, so tauchte dann mit einem Male der feine Kopf mit den lachenden Augen wieder deutlich vor seiner Seele auf und erregte von Zeit zu Zeit in seinem Herzen eine quälende Sehnsucht.


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