Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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I

»Wahrhaftig, es schlägt von der Thomaskirche schon acht Uhr, und hören Sie? die Glocke von Sankt Matthäi fällt auch schon ein. Na, es ist ja auch stockdunkel draußen an diesem schönen Januarabend und auf den Stiegen Ihrer Wohnung noch dunkler. Ich bin froh, mir nicht den Hals gebrochen zu haben. Ich begreife es nicht, Herr Magister Lessing, warum Sie in die Feuerkugel gezogen sind. Da war doch Ihr früheres Losament ein ganz ander Ding.«

Der junge Mann, der so sprach, war eben in die ziemlich große, aber niedrige Stube eingetreten, die der etwa zehn Jahre ältere Dichter und Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing in Leipzig bewohnte.

Der Angeredete lachte. »Ja, mein lieber Herr von Brawe, wenn ich mit einer so wohlgespickten Geldbörse versehen wäre wie Sie, dann würde ich mir auch eine Prunkwohnung auf der Grimmaischen Gasse leisten,« sagte er heiter. »Aber hören Sie einmal zu!« Er zog seinen Geldbeutel aus der Tasche und schwang ihn hin und her. »Ein dünner Klang! Nicht wahr?«

»Aber Sie haben doch als Mentor und Reisemarschall des Monsieur Winkler eine höchst lukrative Stellung?«

»Hatte ich, mein Bester. Es hat sich ausgementort.«

»Wie? Sie haben die Stellung aufgegeben?«

»Wenn man es euphemistisch ausdrücken wollte, dann würde man so sagen. Bleibt man aber der Wahrheit getreu, so muß man rite zugeben: Ich bin hinausgeworfen worden.«

Der junge Edelmann, der zu des Dichters eifrigsten Bewunderern gehörte, machte ein so verblüfftes Gesicht und öffnete dabei den Mund so weit, daß Lessing noch kräftiger lachte als zuvor.

»Ja, ja, mein Herr von Brawe, es ist so. Wären Sie übrigens nicht erst heute nach Leipzig aus den Ferien zurückgekehrt, so wüßten Sie es sicher schon, denn man spricht in der Stadt davon.«

»Aber um des Himmels Willen, wie ist denn das zu erklären?« rief Brawe. »Der grüne junge Fant, der lächerliche Protz erfrecht sich –«

»Eigentlich war's wohl mehr sein Onkel« – schaltete Lessing ein.

»Erfrecht sich, einen Mann wie Sie, einen Mann, den die ganze gebildete Welt kennt, den Dichter der ›Miß Sara Sampson‹, aus seiner Wohnung zu verweisen? Wie ist denn das möglich?«

»Ach, den Banausen ist es ganz egal, wer und was ich bin,« erwiderte Lessing. »Ich glaube, sie sind sogar heilfroh, daß sie einen Grund fanden, mich hinauszuwerfen. Denn Leute dieser Art wissen insgeheim ja nur zu gut, daß all ihr Ansehen in der Welt nur auf dem ererbten Geldsack beruht. Verschwände der einmal – wer würde sich viel um sie kümmern? Darum ist ihnen ein Mensch, der durch sich selbst was ist, ein Mann von Geist in ihrer Umgebung immer unbehaglich. Er geniert sie, denn er erinnert sie an ihre eigene Erbärmlichkeit.«

»Sehr wahr,« versetzte Brawe. »Aber was war denn nun der bestimmte Grund, der den Monsieur und seinen sauberen Onkel zu dieser unerhörten Impertinenz veranlaßte?«

»Er lag in meiner Freundschaft, oder sagen wir Intimität mit Kleist und überhaupt in meinem Verkehr mit den preußischen Offizieren, die hier in Leipzig liegen. Ehrlich gesagt, ich kann es ja meinen lieben Landsleuten, den Leipziger Kaufherren, nicht so besonders verargen, wenn sie dem alten Fritzen nicht eben grün sind. Der König hat Sachsen nun schon seit mehr als zwei Jahren okkupiert, den Kurfürsten in sein Scheinkönigreich Polen gejagt, und nun saugt er das reiche Land aus. Er muß es ja, denn er braucht Geld, Geld und nochmals Geld, um sich gegen die Österreicher und Russen und Franzosen im Felde behaupten zu können. Aber für die Betroffenen ist es sehr schmerzlich. So schimpft man denn in diesen Kreisen, wenn man unter sich ist, ganz mörderisch auf die Preußen – laut getraut man sich's nicht, da sie die Herren des Landes sind –, und natürlich verlangte man von mir, ich sollte mitschimpfen. Wie dürfte auch ein bezahlter Diener des Hauses eine eigene Meinung haben? Der muß sich nach dem Sprichworte richten: Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.«

Er lächelte sarkastisch und aus den großen grauen Augen blitzte der Spott.

Brawe brach in ein lautes Gelächter aus. »Da ist man bei Ihnen gerade an den Rechten gekommen.«

»In der Tat,« sagte Lessing trocken. »Es war mir ein besonderes Vergnügen, die erbosten Pfeffersäcke zu ärgern, und ich habe es toll genug getrieben. Ich empfing in meiner Wohnung preußische Offiziere, ich traf in den Weinstuben mit ihnen zusammen und nahm auch meinen Eleven mit, was mir der Herr Onkel und die ganze Sippe weidlich verübelten. Ich hielt bei Tische stets dem Könige die Stange, wenn über ihn hergezogen wurde, und erklärte ihn für den größten Feldherrn und Staatsmann, den die Erde trägt. Dafür nannte mich der liebe Onkel einen Renegaten, und er hatte damit nicht so ganz unrecht, denn Sie wissen, ich bin ein sächsischer Pfarrerssohn.«

»Ach!« rief Brawe, »was kommt es darauf an! Ich bin ja ein geborener Sachse wie Sie, aber wir alle sind doch Deutsche und freuen uns, daß der Held des Jahrhunderts ein Deutscher ist. Ich kenne Leute im Weimarischen und Gothaischen und in den Reichsstädten, die nach der Schlacht bei Kollin vor Ärger und Verdruß krank geworden sind, weil sie dachten, es sei nun aus mit Friedrich. Ja, ich habe es mit eigenen Ohren in Weißenfels gehört, wie gefangene Offiziere von der Reichsarmee dem großen Friedrich ein Vivat ausgebracht haben, weil er die verdammten Franzosen einmal tüchtig ausgeklopft habe. In der Bewunderung Friedrichs sind ja eigentlich alle Deutschen einig.«

»Hier in Sachsen doch nicht alle. Wenigstens geben sie dem geheimen Wohlgefallen, das sie vielleicht an ihm haben, keinen Ausdruck. Sie wagen es wohl voreinander nicht. Übrigens gingen mir meine Lobsprüche auf den König noch hin. Ganz verdorben hatte ich's mit dem Onkel und dem Neffen erst durch meine Freundschaft mit Kleist.«

»Der Tausend! Wieso? Wer kann etwas gegen den liebenswürdigen Dichter des »Frühlings« haben?« rief Brawe erstaunt. »Ich freue mich ja schon seit Wochen darauf, daß Sie mich heute bei ihm introduzieren wollen!«

»Sie werden nicht enttäuscht sein. Kleist ist ein Prachtmensch, ja, der Mensch Kleist ist noch viel, viel mehr wert als der Dichter Kleist. In ihm vereinigt sich die edelste Humanität mit der feurigsten Bravour in einer Weise, wie ich das noch nie gesehen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Wir sind in kürzester Zeit genaue Freunde geworden.«

»Das ist mir gar nicht wunderbar. Aber was hatten denn die Herren Winkler gegen ihn? Etwa eine persönliche Affäre?«

»Nein, das nicht. Ha, es ist zum Lachen! Der junge Mensch fühlt sich in seiner schweizerischen Nationalität durch Kleist beleidigt. Er ist ja Schweizer. Sie wissen wohl nicht, daß Kleist eine Zeitlang als Werbeoffizier in Zürich war. Dort hat er mit Bodmer und Breitinger keine Seide gesponnen. Die beiden alten Herren hatten ja ohne Zweifel Tage, wo sie sich sehr verdient machten. Das war damals, als sie den unausstehlichen Literaturpapst Gottsched von seiner angemaßten Höhe herabstürzten. Seitdem sind sie nun aber selbst zwei arrogante Literaturpäpste geworden, die verlangen, daß alle Welt nach ihrer Pfeife und ihren langweiligen Melodien tanzen soll. Das hat Herr von Kleist nicht getan, ebensowenig wie vor ihm Herr Klopstock, und deshalb sind beide in Ungnade gefallen. Auch sonst hat er in Zürich mancherlei Unerfreuliches erlebt. Darum hat er auf die ungehobelten Schweizer ein paar beißende Epigramme verfaßt, und das hat man ihm im Lande des Kuhreigens höllisch übelgenommen.«

»Ha ha ha!« lachte Brawe. »Das ist ja kindisch. Und der Winklersche Onkel? Fühlt der sich in der Person seines Schweizer-Neffen mit beleidigt?«

»Der ist nun wieder als Sachse über Kleist empört. Denn Kleist ist nicht mir der Inspekteur des großen hiesigen Lazaretts, er kommandiert auch als Major ein Bataillon, das zumeist aus gepreßten, zum preußischen Dienst gezwungenen Sachsen besteht. Da versucht denn nun der Onkel, dieser alte Esel, einen Kerl freizukriegen, indem er dem Major Geld bietet. In der nächsten Minute warf ihn der Kleistsche Bediente die Treppe hinunter. Hinkend, fluchend, voller Gift und Galle kam er nach Hause!«

»Er konnte noch froh sein,« bemerkte Brawe, »daß ihn Herr von Kleist nicht hat einsperren lassen oder ihn eigenhändig verhauen hat.«

»Gewiß. Ganz dasselbe sagte ich ihm des Mittags bei Tisch. Die Folge war, daß ich mich plötzlich im Freien befand. Mit Not und Mühe erhielt ich meine Sachen ausgehändigt und zog hierher.«

»Mein Gott!« rief Brawe aufspringend. »Sie sind doch nicht etwa in Bedrängnis? Sonst –«

»Nein, nein. Ich habe auch sofort Klage beim Rate erhoben wegen des rückständigen Salärs und hoffe, es in den nächsten Tagen zu erhalten. Übrigens, mein Bester, ist es jetzt Zeit, zu Herrn von Kleist zu gehen. Die Tafelrunde versammelt sich gegen halb neun Uhr.«

»Herr von Kleist wohnt am Markte?«

»Ja, im Hause des Kammerrates Faber hinter der Wache.«

»Ei, da haben wir noch viele Zeit! Man geht von hier bis dahin nicht viel mehr als fünf Minuten.«

»Besser etwas zu früh als zu spät, Herr von Kleist liebt sehr die Pünktlichkeit. Darin ist er ganz Militär.«

Brawe seufzte. »Ich empfinde es doch als eine arge Dreistigkeit, ungeladen zu einem berühmten Manne einzudringen.«

»Possen!« sagte Lessing. »Ich konnte Kleist ja vorher mitteilen, daß ich Sie mitbringen würde, habe es aber, wie ich Ihnen schon sagte, rein vergessen. Doch Sie sind auch uneingeladen willkommen und nicht nur, weil ich Sie einführe. Kleist hat mit Interesse Ihren »Freigeist« gelesen, und für einen jungen Mann, der noch studiert, wie Sie, ist das Drama in der Tat eine sehr respektable Leistung. Aber nun, mein Wertester, nehmen Sie Ihren Überrock, denn es regnet.«

Er hing sich seinen Mantel um und war eben im Begriff, das Licht zu löschen, als an der Tür gepocht ward. Auf sein Herein traten drei Herren in das Zimmer, deren einer in feierliches Schwarz gekleidet war, während die beiden anderen die Tracht vornehmer Studenten trugen.

»Ah,« sagte Lessing, »das ist aber liebenswürdig von Ihnen. Sie wollen uns gewiß zu Herrn von Kleist abholen. Darf ich die Herren miteinander bekannt machen? Dies hier ist Herr von Brawe, dessen Namen Ihnen ja wohl bekannt ist, weil bei Nicolais Preisausschreiben sein Drama rühmende Erwähnung erhielt. Dieser Herr hier, der sich wie ein Prediger zu kleiden liebt, ist mein Freund, Herr Christian Felix Weiße, den Sie, lieber Brawe, ja aus seinem Streite mit Gottsched kennen. Er hat seinen Telemach mitgebracht, den Herrn Grafen von Geyersberg. Und endlich dieser junge Herr ist Herr von Thümmel, der fast jedesmal von seinem Rittergute Schönefeld zu unseren Dichterabenden herüberkommt. So, das wäre gemacht. Und nun auf zu Kleist!«

»Nein,« sagte Weiße, »wir sind eben zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, daß aus der Versammlung heute abend nichts werden kann.«

»O! Warum?«

»Herr von Kleist ist verhindert.«

»Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«

»Nein, aber er hat Besuch erhalten. Ein Prediger war bei ihm, Garbrecht oder so ähnlich war sein Name. Er kam aus seiner Heimat und hat ihm wohl eine unangenehme Nachricht gebracht – es scheint sich um Familienangelegenheiten zu handeln. Herr von Kleist sah ganz ergriffen aus. Ich glaube, einer seiner Verwandten ist gestorben. Um einen Todesfall handelte es sich sicherlich.«

»Ach,« rief Lessing. »Dann ist es gewiß sein Bruder. Das wäre ja eher zu wünschen als zu beklagen, denn der arme Mensch war unheilbar schwermütig. Immerhin wird es Kleist, der alle seine Verwandten zärtlich liebt, sehr herumreißen, und ich will sogleich zu ihm.«

»Er läßt Sie bitten, erst morgen früh zu ihm zu kommen. Bis elf Uhr sei er frei. Einstweilen sendet er Ihnen ein Gedicht, das er schon für Sie zurechtgelegt hatte, ehe wir kamen.«

Lessing nahm das Kuvert, das Weiße ihm hinreichte, erbrach es und trat an das Licht heran. Während er las, prägte sich immer mehr eine tiefe Bewegtheit in seinen Zügen aus, und als er das Blatt sinken ließ, erglänzten Tränen in seinen Augen. Alle blickten erstaunt auf ihn, denn den kühlen, ironischen Mann, der selten jemanden in sein Herz blicken ließ, hatte noch keiner so gesehen.

»Freunde,« sagte Lessing, nachdem er sich gesammelt hatte, »dieses Gedicht müßte man eigentlich bei einem Glase alten Rheinweines genießen. Da ich aber nicht weiß, was unsern Kleist betroffen hat, so habe ich keine Stimmung dazu, heute noch in einen Keller oder in eine Wirtschaft zu gehen. Sie werden wohl alle ähnlich denken. Doch will ich Ihnen dies Gedicht nicht vorenthalten und werde es Ihnen gleich vorlesen. Hören Sie es an mit dem Bewußtsein, daß Sie etwas Unsterbliches hören, das so sicher auf die Nachwelt kommt, wie ich Gotthold Ephraim Lessing heiße. Denn hier ist alles Wahrheit, alles erlebt und in einer wunderbaren Weise der Geist abgespiegelt, der den edelsten Kern des preußischen Heeres beseelt.«

Er ergriff das Blatt und las mit der feurigen Lebendigkeit, die ihm eigen war:

Ode an die preußische Armee.

Unüberwundenes Heer, mit dem Tod und Verderben
In Legionen Feinde dringt.
Um das der frohe Sieg die goldnen Flügel schwingt,
O Heer, bereit zum Siegen und zum Sterben!

Sieh, Feinde, deren Last die Hügel fast versinken.
Den Erdkreis beben macht,
Ziehn gegen dich und drohn mit Qual und ew'ger Nacht;
Das Wasser fehlt, wo ihre Rosse trinken.

Der dürre schiele Neid treibt niederträcht'ge Scharen
Aus West und Süd heraus,
Und Nordens Höhlen spein, so wie des Osts,
Barbaren Und Ungeheur, dich zu verschlingen, aus.

Verdopple deinen Mut! Der Feinde wilde Fluten
Hemmt Friedrich und dein starker Arm,
Und die Gerechtigkeit verjagt den tollen Schwarm,
Sie blitzt durch dich auf ihn, und seine Rücken bluten.

Die Nachwelt wird auf dich als auf ein Muster sehen;
Die künft'gen Helden ehren dich,
Ziehn dich den Römern vor, dem Cäsar Friedrich,
Und Böhmens Felsen sind dir ewige Trophäen.

Nur schone, wie bisher, im Lauf von großen Taten
Den Landmann, der dein Feind nicht ist!
Hilf seiner Not, wenn du von Not entfernet bist!
Das Rauben überlaß den Feigen und Kroaten!

Ich seh', ich sehe schon – freut euch, o Preußens Freunde! –
Die Tage deines Ruhms sich nahn.
In Ungewittern ziehn die Wilden stolz heran,
Doch Friedrich winket dir – wo sind sie nun, die Feinde?

Du eilest ihnen nach und drückst in schweren Eisen
Den Tod tief ihren Schädeln ein
Und kehrst voll Ruhm zurück, die Deinen zu erfreun,
Die jauchzend dich empfahn und ihre Retter preisen.

Auch ich, ich werde noch – vergönn' es mir, o Himmel! –
Einher vor wenig Helden ziehn.
Ich seh' dich, stolzer Feind, den kleinen Haufen fliehn
Und find' Ehr' oder Tod im rasenden Getümmel.

Ganz in sich versunken stand Lessing noch eine Weile da, als er geendet hatte. Auch von den andern brach niemand das feierliche Schweigen. Dann legte er das Blatt auf den Tisch und sagte: »Das ist Kleists größtes Gedicht. So redet ein Held. Ich denke, Freunde, wir stören den großen Eindruck nicht durch Worte und sagen uns für heute Gute Nacht.«


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