Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Eine breite, aber düstere Treppe führte zu den Bodenräumen des Zebliner Schlosses empor. Sie empfing ihr Licht allein durch ein kleines, halberblindetes Dachfenster, das zugleich einen Seitenkorridor notdürftig erhellte. Er lief als Galerie oben um den Treppenausschnitt und war links und rechts durch zwei halbmannshohe Türen verschlossen. Vor dem Herabfallen wurde der auf ihm Wandelnde durch ein Geländer aus niedrigen Latten geschützt, die hier und da Spuren roher Schnitzarbeit zeigten.

Der Himmel mochte wissen, zu welchem Zwecke diesen Korridor einst der Erbauer des Schlosses angelegt hatte. Zur Zeit diente er gar keinem, stand völlig leer und wurde niemals von einer lebendigen Seele außer etwa einer Maus aufgesucht.

Gerade das hatte Junker Ewald bewogen, sich ihn zu seinem »Rittersaal« einzurichten. Er hatte gehört, daß es in den Schlössern der Fürsten und reicheren Edelleute solche Säle gebe, wo man die Wappentafeln, Stammbäume, Ahnenbilder und vor allen Dingen Rüstungen und Waffen beisammen aufhinge. Nun gab es ja in Zeblin Bilder selig verstorbener Kleiste und derer hochadeligen Gemahlinnen in großer Anzahl, aber sie hingen überall an den Wänden der Zimmer, sogar der Vorsäle und stellten meist keine Ritter in Helm und Harnisch, sondern Offiziere in den verschiedensten Uniformen oder Kavaliere in Hoftracht vor. Und was noch bedauerlicher war: Rüstungen fehlten völlig, und Waffen waren nur durch zwei rostige Kürassiersäbel vertreten. Kurz, es war entschieden notwendig, daß zu Ehren der ritterlichen Vorfahren ein »Rittersaal« auf Zeblin angelegt wurde.

Mit Feuereifer hatte sich der Knabe an die Arbeit gemacht, den alten Korridor in einen solchen ehrwürdigen Raum umzuwandeln. Er schnitzte eine große Menge von Schwertern aus Holz und hing sie gekreuzt an die Wände. Er verfertigte Schilder von Pappe und Holz und bemalte sie mit allerlei Wappenemblemen, blauen, knallroten und weißen Rosen, dottergelben Lanzenspitzen und ziegelroten Füchsen, den Wappentieren seiner Familie. Alles das betrieb er übrigens mit der größten Heimlichkeit, keine Menschenseele wußte darum. Gerade war er dabei gewesen, einen Ritterhelm aus Pappe zusammenzusetzen, da hatte die Flucht seiner Daniela und ihrer kleinen Tochter seinen Gedanken eine andere Richtung gegeben. Er zog sich jetzt weniger in seinen Rittersaal zurück, sondern bevorzugte die Krähenhütte, die er sein Jagdschloß nannte.

Heute aber, als ihn die Frau Großmutter und auch der Vater so tief gekränkt hatten, beschloß er, sein Tuskulum im Bodengeschosse wieder aufzusuchen. Die Jungen des Dorfes hatten es für rätlich gehalten, nicht nur das Zimmer, sondern gleich das Schloß zu verlassen, und sein Bruder war ihnen nachgesprungen. Da durchzuckte ihn, während er trübselig auf dem Vorsaal stand, der Gedanke, er könne ja das erlegte Untier als Trophäe auf den Rittersaal hängen, wie es die Helden der Vorzeit sicher mit den getöteten Lindwürmern auch gehalten hatten. Das tröstete ihn sehr. Er ging sogleich daran und nagelte die Schlange so an die Wand, wie sie sich, wenn sie gereizt wird und beißen will, zu ringeln pflegt, worauf er sein Werk mit Stolz beschaute. Dann setzte er sich auf den niedrigen Holzstuhl, der an der Seite stand, lehnte seinen Kinderkopf an die Wand zurück und begann wachen Auges zu träumen.

Nach einiger Zeit schrak er auf. Sein Vater und sein Großvater kamen die Treppe herauf. Er war sehr verwundert darüber. Was mochten sie wohl auf dem Boden suchen? Vielleicht ihn selbst? Er sollte wohl gar Strafe bekommen, weil er die Schlange ins Zimmer gebracht oder weil er die feuchten Schuhe noch nicht ausgezogen hatte? Er duckte sich tief hinter die niedrige Balustrade und beobachtete durch ein Astloch mit gespannten Blicken, was die beiden wohl beginnen mochten.

Sie waren offenbar nicht gekommen, ihn zu suchen, denn sie schritten, ohne sich umzusehen, zu einem der großen Schränke, die an der Wand standen. Dort wühlte sein Vater in alten Schriften und Rechnungen herum, warf ganze Stöße heraus und fand lange nicht, was er suchte. Der Großvater stand erst eine Weile geduldig daneben, dann ging er langsam an der Wand hin und warf hie und da einen Blick in die dort stehenden Register und Regale hinein, bis er vor einem kleinen Wandschrank stehen blieb. Die Tür war angelehnt, da man den rostigen Schlüssel nicht mehr im Schlosse umdrehen konnte. Der alte Herr warf einen Blick hinein und fragte dann interessiert: »Was haben Sie hier drin, Herr Schwiegersohn?«

Herr von Kleist blickte auf, und sein Gesicht verfinsterte sich auffallend. »Gift«, sagte er scharf.

Sein Schwiegervater fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück. »Gift? Mon Dieu! Ich sehe nichts dergleichen. Nur Bücher.«

Kleist legte die Aktenstöße, denen er nunmehr ein umfangreiches Schriftstück entnommen hatte, sorgsam in den großen Schrank zurück und trat dann näher. Eine tiefe Falte war in seine Stirn eingegraben. »Ja, Bücher,« sagte er hart. »Darin steckt es eben, das Gift. Meine arme Marie hat es eingesogen und konnte nicht mehr davon loskommen. In ihrem letzten Jahre brütete sie darüber am Tage, oft noch bis tief in die Nacht hinein. Nichts hat so beigetragen zu ihrem beständigen Trübsinn und ihrer Exaltation; ich glaube, sie haben ihr mit zum Tode geholfen.«

Der Alte schlug die Tür heftig zu und legte dem jüngeren Manne die Hand väterlich auf die Schulter. »Ich weiß es, Sie müssen viel durchgemacht haben,« sagte er. »Unsere arme früh Verstorbene war schon als Kind so eigen, oft schwermütig, weinte manchmal ohne allen Grund und hatte sonderliche Gedanken. Sie stand wohl nie mit ihren zwei Beinen fest auf der Erde, träumte sich immer darüber hinaus. Weiß nicht, wie dieses Wesen in sie gekommen ist, von mir hatte sie's nicht, von meiner Frau noch weniger.«

»Das liegt nun alles dahinten,« erwiderte Herr von Kleist ruhig und freundlich. »Kommen Sie.«

Die beiden schritten die Treppe hinab. Kaum waren ihre Tritte verklungen, so tauchte Ewald aus seinem Versteck auf. Der Knabe war blaß vor innerer Erregung. Er hatte zwar nicht alles verstanden, aber das hatte er deutlich gehört: In dem kleinen Schranke war Gift. Und dieses Gift hatte irgendwie seiner Mutter geschadet, deren Bild er noch so tief in seinem Kinderherzen trug. Wie gräulich und wie interessant war das! Was mochte es wohl mit dem Gifte für eine Bewandtnis haben, und warum litt es der Vater überhaupt in seinem Hause?

Er schlich mit klopfendem Herzen zu dem kleinen Schranke hin und öffnete seine Tür mit zitternden Händen. Aber er erblickte nichts als zwei übereinanderstehende Reihen dicker, stark verstaubter Bücher.

Ja so, das Gift war in den Büchern drin. Das hatte der Herr Vater ja ausdrücklich gesagt. Mit noch stärkerem Herzklopfen streckte er die Hand aus und riß einen der schweren Bände so heftig heraus, daß er polternd zu Boden fiel. Erschrocken fuhr der Knabe zusammen, aber niemand hatte etwas gehört. Unten blieb alles ruhig. So ließ er sich denn auf die Knie nieder und schlug das Buch auf.

In großen geschnörkelten Buchstaben stand da zu lesen: »Die asiatische Banise oder das blut- jedoch mutige Pegu von Herrn Heinrich Anselm von Ziegler und Klipphausen.« Darunter befand sich ein Bild, das einen aus dem Königszelte tretenden Ritter vorstellte, zu dessen Füßen ein Weib auf den Knien lag.

Ewald warf das Buch nach allen Seiten auseinander, hob es empor und schüttelte es, aber nichts Verdächtiges kam zum Vorschein.

Da legte er sich der Länge nach auf den Fußboden hin, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Dann las er die zweite, die dritte und nun unaufhaltsam weiter. Außer der Bibel hatte er noch nie ein Buch in die Hände bekommen, hatte auch nie die Lust verspürt, eins zu lesen. Er hatte ja nicht geahnt, welch wunderbare, herrliche Geschichten die erwachsenen Leute in solche Bücher geschrieben hatten, sonst hätte er längst dem kleinen Schranke einen Besuch abgestattet. Denn was er da las, verstand er zwar nicht ganz, aber es schien ihm das Wunderbarste und Herrlichste zu sein, was er bisher vernommen. Was waren dagegen die Spinnstubengeschichten der Knechte und Mägde, denen er so manchmal mit atemloser Spannung gelauscht hatte!

Schritte auf dem Vorsaal unten schreckten ihn aus seiner Versunkenheit. Er sprang empor, drückte eilig den kleinen Schrank wieder zu und schlich auf den Fußspitzen, das Buch an die Brust gedrückt, nach seinem »Rittersaal« zurück. Dort las er, bis das rote Abendlicht durch das Fenster hereinfiel.

Damit begann für den Knaben ein neues Leben, eine andere Welt hatte sich ihm aufgetan. Noch weniger als sonst war er unter seinen Altersgenossen zu sehen, jede Viertelstunde, in der er sich frei machen konnte, brachte er droben zu, um zu lesen. Er las nacheinander alle Bücher, die der kleine Schrank enthielt, aber ein so schönes Buch, wie die asiatische Banise, fand er nicht wieder; er kehrte immer wieder zu ihr zurück, bis er fast am Ende der zweiten Reihe auf eines traf, das ihn noch viel tiefer ergriff, und über dem er glühende Tränen weinte. Das war die »Adriatische Rosemund des Herrn Philipp von Zesen«. Sie erzählte das herzbrechende Schicksal zweier unsäglich edlen Liebenden, die einander nicht heiraten durften, weil er Protestant, sie Katholikin war. Das ganze Buch ist voll der empfindsamen Reden und Gegenreden, der leidenschaftlichsten, dabei leider aber recht verschrobenen Gefühle, jedoch sehr geeignet, das Gemüt eines begabten und frühreifen Knaben gänzlich zu überwältigen. Ewald lebte ganz und gar in dieser Traumwelt. Seine Leistungen in den lateinischen Stunden wurden immer bedenklicher, und es war ein Wunder, daß sein Mentor und Präzeptor die Umwandlung, die sich im ganzen Wesen seines Zöglings vollzog, so wenig oder fast gar nicht wahrnahm.

Das hatte allerdings auch wieder seine guten Gründe, denn Herr Garbrecht lebte gleichfalls seit einiger Zeit in einer Traumwelt. Es war eine Pfarrstelle im Kreise aufgegangen und, gestützt auf das königliche Wort, hatte er sich um sie beworben. Irgendein Zweifel, daß er sie erhalten werde, war ausgeschlossen; denn wer hätte auch nur zu mucksen gewagt, wenn der König befohlen hatte! Darauf hatte sich der Kandidat hingesetzt und an das blondlockige Jungfräulein in Thorn geschrieben und nach geziemender Offenbarung seines Herzenszustandes bei ihr angefragt, ob die sein Herz erfüllenden Ströme reiner Liebe auch in ihrem Busen walleten, und ob sie demnach geneigt wäre, Freud und Leid des Lebens mit ihm zu teilen. Seitdem dieser Brief das Haus verlassen hatte, war er wie verwandelt und machte alle Qualen der Besorgnis und Erwartung durch, die einem Liebenden nun einmal nicht erspart bleiben. Er war fast so zerstreut wie seine Schüler, deren einer von den auszunehmenden Habichtsnestern auf dem Koppelberge, deren anderer von der Adriatischen Rosemunde träumte. Außerhalb der Unterrichtsstunden überließ er die Knaben fast ganz sich selbst.

So hätte Ewald wohl ungestört im »Rittersaale« seiner Lesewut frönen können, wenn er nicht eines Tages selbst zum Verräter seines Treibens geworden wäre. Zu den schönsten Stellen des himmlischen Buches gehört nämlich die Episode, wo die reizende Rosemund ihrem geliebten Markhold nachtrauert, der nach Paris gereist ist. Sie kleidet sich während dieser trüben Zeit in blaue Gewänder, sintemalen Blau von alters her unter liebenden Gemütern als die Farbe der Treue gilt. Die besonders zarte Nuance dieser Farbe, die sie sich wählt, bezeichnet sie mit dem wunderbaren Ausdruck »sterbeblau«. Nicht nur ihre Kleider, auch ihr ganzes Zimmer ist sterbeblau, sterbeblau sind die Möbel, sterbeblau sogar der Tisch und die Zimmerdecke, und an der Wand hängt ein Gemälde, aus dem ein sterbeblauer Ritter auf die seufzende Jungfrau herniederblickt.

Allsogleich beschloß Ewald, daß auch sein »Rittersaal« sterbeblau angestrichen werden müsse. Er schlich sich also mit einem umfangreichen Gefäß, das er halb mit Wasser gefüllt hatte, in die Waschküche, entwendete eine beträchtliche Menge Neublau und rührte es sorgfältig ein, um auf diese Weise die sinnige Farbe zu erzielen. Hochbefriedigt wollte er eben den Raum verlassen und sich nach oben begeben, als ein tückischer Zufall die alte Wöllnern seinen Weg kreuzen ließ. Diese Frau pflegte er sonst zu schätzen, weil sie ihm zuweilen Schwanke aus ihrem Leben erzählte und getrocknete Pflaumen schenkte. Jetzt aber sah er sie böser Ahnungen voll auf sich zukommen, und in der Tat, kaum erblickte die Alte die blaue Flüssigkeit, so kreischte sie auf, und mit dem Rufe: »Vertüwelter Jung, mien Neublau!« suchte sie ihm den Topf zu entreißen. Es gelang ihm zwar, mit dem kostbaren Gefäß zu entfliehen, aber die entrüstete Waschfrau verfolgte ihn mit lautem Geschrei die Treppe hinaus, und von dem Lärm aufgeschreckt, erschien Herr Garbrecht auf der Bildfläche.

Nun kam alles an den Tag. Der Rittersaal ward einer gründlichen Besichtigung unterzogen, und dabei fand sich auch die »Adriatische Rosemund«.

Der Kandidat war starr. Er hielt Romane und dergleichen Bücher für eine ebenso einfältige wie seelenvergiftende Lektüre, und nun mußte er hören, daß sein Zögling nicht nur einen, sondern mehr als ein Dutzend der gefährlichen Schmöker gelesen hatte.

»Jung, Jung, wie konntest du das tun!« brachte er endlich nach Luft schnappend hervor.

»Es hat mir's doch niemand verboten!« heulte Ewald.

Der Kandidat zuckte unwillkürlich zusammen. Diese Antwort machte es ihm mit einem Male klar, daß die Schuld an diesem Treiben nicht auf Seiten des Knaben lag, sondern auf seiner eigenen Seite. Er hatte zuviel an seine zukünftige Pfarrstelle und noch mehr an seine zukünftige Pfarrfrau gedacht und hatte darüber seine nächstliegenden Pflichten vernachlässigt. Allerdings wollte er sich ja demnächst von diesen Pflichten freimachen, aber das minderte nicht im geringsten seine Schuld, denn jetzt banden sie ihn ja noch. Durch seine sträfliche Unachtsamkeit war also die Seele des ihm anvertrauten Kindes, das er noch dazu sehr in sein Herz geschlossen hatte, in große Gefahr, vielleicht schon zu Schaden gekommen.

Ihm ward jämmerlich zumute. Mit Tränen in den Augen wandte er sich ab und sagte in ruhigem Tone, aber mit zitternder Stimme: »Gehe hinab in deine Kammer und kleide dich um. Du hast dir ja dein Wams mit der blauen Farbe über und über besudelt. Über die Sache reden wir später.«

Ewald enteilte mit schnellen Schritten, und langsam und mit gesenktem Haupte folgte ihm sein Erzieher. Er wollte sich zunächst auf sein Zimmer begeben und ruhiger werden, ehe er vor den Vater des Knaben hintrat. Denn der mußte alles aufs genaueste erfahren, das stand ihm fest. Freilich würde es da ein fürchterliches Donnerwetter geben; wie Herr von Kleist über das Romanlesen dachte, wußte er ja zur Genüge. Aber das half nun nichts, er mußte die Vorwürfe und harten Worte als wohlverdient hinnehmen.

Indessen waren seine selbstquälerischen Gedanken sofort vergessen, als er sein Zimmer betrat. Denn da lag auf dem Tische ein dicker, mehrfach versiegelter Brief – die Antwort auf sein Schreiben nach Thorn. Er bekam einen dunkelroten Kopf und riß ihn mit einem Sprunge an sich. Dann aber drehte er ihn unschlüssig hin und her, und sein Gesicht erblich vor Aufregung. Denn was dieses Schreiben ihm sagen sollte, das mußte entweder sehr glücklich oder sehr elend machen.

Endlich, nach einem kurzen Stoßgebete, öffnete er die Siegel und begann zu lesen. Dabei verklärten sich zunächst seine Züge immer mehr – es war ersichtlich, die Erwählte seines Herzens verhielt sich nicht ablehnend. Doch mußte noch ein Umstand sein, der ihm nicht gefiel, denn beim Weiterlesen verdüsterte sich sein Gesicht, er schlug mehrmals hart mit der Faust auf den Tisch und starrte, als er die Lektüre beendet hatte, mit einem Blicke vor sich hin, in dem sich Zorn und Angst mischten. Dann nahm er rasch die Blätter auf und schritt eiligen Ganges hinab in das Gemach, wo er Herrn von Kleist zu finden hoffte. Der Edelmann saß am Fenster und rauchte seine Pfeife.

»Was bringen Sie denn da?« fragte er bei Garbrechts Eintreten – er nannte den Kandidaten seit dessen Erlebnis mit dem König »Sie« – »Wohl die Vokation von dem allerheiligsten Konsistorium. Na, hören Sie mal, das braucht Sie doch nicht so aufzuregen! Die mußte doch kommen, aber Sie zittern ja ordentlich und sind ganz blaß!«

»Nein, nein, das ist es nicht. Von diesem Briefe nachher. Zuvörderst muß ich meinem Herrn von Kleist eine Beichte ablegen, wozu ich mir gütigsten Permiß erbitte.«

»Setzen Sie sich und legen Sie los,« sagte Kleist verwundert.

Langsam und oftmals stockend erzählte Garbrecht von dem sonderbaren Zeitvertreib seines Zöglings, von der Einrichtung eines Rittersaales und der Lektüre der Asiatischen Banise sowie der übrigen Bücher bis zur Auffindung der Adriatischen Rosemund. Zu seinem Erstaunen unterbrach ihn Herr von Kleist mit keinem Worte, die erwarteten Kernflüche blieben aus. Dagegen sah er, wie das Gesicht des Edelmannes blasser wurde, und wie er sich ein paar Schweißtropfen von der Stirne wischte.

Als er geendet hatte, entstand eine Stille. Herr von Kleist war aufgestanden und wanderte mit langen Schritten in der Stube auf und ab. Dann blieb er vor dem Kandidaten stehen und sagte ruhig und freundlich: »Sie sehen aus dem allen, daß wir den Jungens nicht gewachsen sind. Ich nicht und Sie nicht. Franz wird, wenn's so weiter geht, ein veritabler Bauernjunge und Gassenlümmel, und Ewald – pfui Deibel! – vielleicht ein Poet. Par conséquence – sie müssen aus dem Hause. Meine Schwiegermutter hat recht.« Wieder ging er ein paarmal auf und nieder, blieb dann aufs neue vor Garbrecht stehen und sah ihm mit einem trüben Blicke in die Augen. »Es tut mir leid, daß wir uns trennen müssen. Sie hatten mein Vertrauen gewonnen. Aber Sie wären ja ohnehin gegangen.«

Er seufzte und setzte dann mit gepreßter Stimme hinzu: »Es kommt mich auch hart an, meine beiden Jungens auf einmal wegzugeben und das Mädchen, die Liese, dazu. Aber das ist man bei allen Eltern so. Die Jungen werden flügge und fliegen aus, die alte Krähe bleibt im Neste zurück.«

Der Kandidat faßte seine Hand. »Behalten Sie die Kinder da und nehmen Sie sich einen anderen Erzieher, der's besser versteht als ich,« sagte er.

»Nee, nee,« erwiderte Herr von Kleist. »Sie waren schon gut. Aber die Bengels haben hier zu viel Freiheit, das taugt nicht. Es wird auch nie anders werden, denn ich habe zu viel zu tun, und meine Frau –« er brach ab und fuhr sich hastig über die Stirn. »Wann ist Ihre Ordination zu erwarten?«

»Wohl erst in vier Wochen. Aber ich bin gezwungen, meinen Herrn von Kleist zu bitten, meinen Kontrakt schon eher zu lösen, am liebsten gleich.«

»Warum?« fragte der Edelmann verwundert.

»Wichtige Umstände machen es nötig, daß ich sobald wie möglich nach Thorn reise.«

»Nach Thorn?« rief Kleist noch verwunderter. »Was wollen Sie dort? Da ist ja jetzt sozusagen der Deuwel los.«

»Wir haben von den Thorner Exzessen öfter gesprochen,« erwiderte Garbrecht, »aber was wir wußten, war wenig und entsprach nicht der wahrhaft greulichen Wirklichkeit. Hier aber habe ich einen Brief aus Thorn, der mir das Nähere meldet.«

»Nun sagen Sie, wie kommen Sie dazu? Sie haben doch keine Anverwandten dort, wenn ich mich recht besinne.«

Über das Gesicht des Kandidaten lief ein helles Rot, als er zur Antwort gab: »Ich habe meine Installierung als Pastor so gut wie in der Tasche, Sie wissen ja. So wollte ich mich denn ehelich versprechen mit einer Jungfrau, die ich von früher her kenne und die jetzt in Thorn lebt.«

»So ist's recht,« warf Herr von Kleist ein. »Erst die Pfarre, dann die Quarre.«

Aber der Kandidat ging nicht auf den Scherz ein, er fuhr vielmehr sehr ernsthaft fort: »Sie war im Hause eines Oheims, eines angesehenen Ratsherrn, ihres Vormundes, denn sie ist Waise. Dort wußte ich sie wohl geborgen in einer würdigen und behaglichen Position. Nun aber ist schwere Heimsuchung über das Haus gekommen, denn vor einigen Wochen ist polnisches Kriegsvolk in die Stadt eingerückt, und ganz plötzlich sind die vornehmsten Bürger verhaftet und in die Kustodie gebracht worden. Darunter der besagte Ratsherr. Herr Konsul Rösner ist gleichfalls im Kerker –«

Der Edelmann machte eine Gebärde des Schreckens. »Sie kennen ihn ja auch gut, den würdigen Mann. Was nun aus den Inhaftierten werden wird – Gott weiß es. Dort fürchtet man das Ärgste. Die Angehörigen der so schuldlos Inkriminierten haben sich an unsern König um Fürbitte gewandt.«

Herr von Kleist schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Unerhört!« rief er. »Weil der Pöbel, von den Jesuiten gereizt, eine Prozession stört, deshalb setzt man die Ratsherrn fest! Das ist ja eine schreiende Ungerechtigkeit. Wie kann das ein König zulassen, der früher selbst unseres Glaubens war?«

»Gerade deshalb muß er es zulassen,« versetzte Garbrecht. »Der starke August ist katholisch geworden, weil er König werden wollte. Nun muß er seine Gläubigkeit beweisen, indem er die Verfolgung der Protestanten zuläßt. Übrigens – wie wollte er sie auch verhindern? Seine Königsmacht in Polen ist ja nur ein Schatten.«

»Sehr wahr!« bestätigte Herr von Kleist. »Da drüben regiert nicht die Krone, da herrschen die Krummsäbel und die Kutten. In Preußen kann so etwas nicht vorkommen. Was wollen Sie denn aber in Thorn? Doch nicht etwa sich in ein Abenteuer stürzen, die Gefangenen befreien oder dergleichen?«

»Wo denken Sie hin?« rief der Kandidat.

»Na, zuzutrauen wäre Ihnen das schon, denn Courage haben Sie ja.«

»Nein,« sagte Garbrecht. »Will's Gott, befreit die Gefangenen das Fürwort unseres Königs. Ich will nur zu dem Oheim meiner Braut zu dringen versuchen und seinen Konsens erbitten für die Heirat. Dann will ich die Jungfrau aus der Stadt fort zu meiner Mutter bringen. Zuvörderst möchte ich morgen nach Köslin, um mir einen Paß ausstellen zu lassen, will mich auch mit dem Herrn Superintendenten besprechen.«

Der Edelmann drückte ihm kräftig die Hand. »Sie sind ein tapferer Mensch. Wann wollen Sie fort?«

»Am liebsten gleich morgen früh.«

»Ich lasse Sie fahren. Nein, halt, ich habe dort Geschäfte und werde also selbst mitfahren.«

Garbrecht erhob sich. »So werde ich jetzt meine wenigen Habseligkeiten zusammenpacken. Und um eins bitte ich Sie noch: Lassen Sie mich meinen Eleven selber und zwar erst beim Schlafengehen sagen, daß ich sie morgen verlasse. Ich möchte nicht, daß wir den letzten Abend in gedrückter Stimmung verleben. Denn es wird sie ja wohl betrüben, daß ich fortgehe, besonders Ewald.«

Herr von Kleist nickte. »Er war immer Ihr Liebling.«

»Er brauchte mich am nötigsten,« erwiderte Garbrecht. »Ach, sehen Sie zu, Herr, daß Sie ihn zu recht guten, liebevollen Menschen bringen, wenn Sie ihn nun fortgeben. Er wird sehr schwer leiden unter der Trennung von seiner Heimat, vom Grabe seiner Mutter, von uns allen. Denn er hängt allzu fest an dem, was er liebt, er kann sich davon nicht loslösen. Das ist nun einmal die Anlage seiner Natur. Darin wird er sich nie ändern. Und deshalb glaube ich, trotz seiner schönen und reichen Gaben wird ihm das Leben nicht leicht werden.«

Damit wandte er sich und verließ in tiefer Bewegung das Zimmer.

Am Abend, als die Knaben bereits in ihren Betten lagen, ging Garbrecht zu ihnen hinein, um wie gewöhnlich mit ihnen zu beten. Dann sagte er ihnen, daß er morgen ganz früh abreisen werde, und ermahnte sie, immer fromm und gut zu bleiben, dem Vater stets Freude zu machen, und bat sie auch, ihn nicht zu vergessen. Selbst der kühle Franz Kasimir reichte ihm unter Tränen die Hand zum Abschied, der kleine Ewald aber umschlang ihn mit leidenschaftlichem Weinen, und Garbrecht hatte die größte Mühe, ihn einigermaßen zu beruhigen. Er schluchzte noch lange in seine Kissen hinein und nahm sich fest vor, am Morgen wach zu werden, um seinen geliebten Lehrer noch abfahren zu sehen. Aber endlich kam doch die Müdigkeit über ihn, und er entschlummerte. Als Garbrecht in der Morgenfrühe, zur Reise gerüstet, noch einmal an ihre Betten trat, da lagen beide Knaben in tiefstem Schlafe. Der Kandidat machte das Kreuzeszeichen über sie und sagte leise: »Der Herr behüte euch und bewahre euch vor allem Argen.« Dann ging er hinaus und bestieg den Reisewagen.


 << zurück weiter >>