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21.

Dieser Tag jährt sich bald das dritte Mal, und es fehlen nur mehr ein paar Wochen zur Völle. Mein', die Zeit vergeht, eh' eins recht weiß, wohin sie gekommen, und wenn gleich Wochen und Jahre ein stiller Kummer umdüstert wie ein leichter Nebel den sonnigen Herbsttag, sie vergeht doch, und wenn eins rücklings schaut, weiß es manchmal nicht, wie sie nur so rasch entfliehen gekonnt.

Recht lustig ist's im Geldweberhäusel nie nicht gewesen, aber die letzte Zeit ist's fast so still wie im schweigenden Hochwalde zur Winterszeit, nur wenn ab und zu einmal die Line herüberkommt mit ihrem kleinen Schreihalse, zieht ein bissel Leben ein. Was werden denn drei alte Leute für einen Lärm schlagen, besonders wenn sie ihr Lebtag nie übermäßig viel geredet? Der alte Schönberger, der herübergezogen, als der Tod seine Hauserin genommen, redet den ganzen Tag über kaum zehn Worte, und nur, wenn die Line kommt, hellt sich sein Geschau auf, ein welkes Lächeln zittert über sein runzeliges Gesicht, und er fragt angelegentlich nach dem und jenem. Die Line ist jetzt sein Liebling, weil sie einen Verstand hat und gefolgt. Der andere, der Dickschädel! Es wird der Name eh' nicht genannt, wenn es nicht gerade sein muss, aber er hört ihn selbst da recht ungern. Er ist keiner und wird keiner.

Da bringt einmal die Bötin einen Brief daher und so ein kleines Packel, und beide sind an Christoph Seeböck in Schönberg gesandt. Von wem denn?

»Das ist dem Gaberl seine Schrift«, mutmaßt die Mena, und etwas wie der Widerschein eines Sonnenstrahls huscht über ihr Gesicht. Trotzdem man auf seinen Brief, der er bald nach seiner Abreise geschrieben, nicht geantwortet, schreibt er doch wieder.

Hastig reißt sie den Umschlag auf und beginnt den Brief zu lesen, während der Christoph das kleine, unversiegelte Päckchen aufmacht und demselben ein schön gebundenes Büchel entnimmt.

»Des Lebens Höhen und Tiefen. Novellen von Gabriel Seeböck.« Er schlägt den Deckel zurück, und ein mühsam verhaltenes Gröhlen entringt sich seiner Brust. »Unser Bub!«

»Wo?« hastet die Mena heraus und unterbricht das Lesen.

»Da schau!« Die helle Freude zittert und jauchzt aus den zwei Worten.

»Meiner Treu! ... Vater, der Gaberl!«

»Lasst mir meinen Fried'!« brummt der. »Wer weiß, was er angestellt hat, dass sie ihn ... im Kalender bringen?«

»Das Büchel ist von ihm«, erklärt der Christoph, und das Bändchen zittert in seiner Hand. »Was ... schreibt er denn?«

Die Mena will den Brief nicht aus der Hand lassen und schaut doch immer und allweil an dem Bilde, das ihr das Gesicht des Buben zeigt, aber nach einem Weilchen erobert sich der Christoph doch das Blatt und liest, und wie er die letzte Zeile gelesen, schlägt er mit seiner hageren, knochigen Hand auf den Tisch, dass ihn all zwei fast erschrocken ansehen.

»Recht hat er gehabt«, stößt er heraus. »Und die Narren sind wir gewesen.«

»So sagt man?« tadelt der Alte. »Nicht schlecht für ... einen Vater.«

»Los' nur!« Und er liest den Brief laut vor.

»Liebe Eltern! Trotzdem ich auf meinen früher gesandten Brief keine Antwort von Euch erhalten, drängt es mich, Euch doch wieder zu schreiben. Wem auf der ganzen Welt soll man seinen Kummer klagen ...«

»Aha!« macht es der Alte, aber der Christoph fährt unbeirrt fort.

» ... und seine Freude mitteilen, wenn nicht in erster Reihe den Eltern. Ich weiß, was Ihr alles für mich getan, und ich werde es zeitlebens nicht vergessen. Es mag teilweise unrecht gewesen sein von mir, dass ich Euch nicht gefolgt habe, aber ich konnte wirklich nicht anders. Es drängte mich auf einen andern Weg, ich bin ihn eigensinnig und trotzig gegangen und bin heute am Ziele, wenn ein Mensch mit seinem Hoffen und Planen überhaupt früher am Ziele sein kann, bis sein Weg, sein Hoffen und Planen die Markung zwischen hier und dort überschritten. Ich habe in der Stadt einen Meister gesucht und gearbeitet, geknausert, gespart und gedarbt, um den Winter über die Gewerbeschule besuchen zu können. Aus Gnade und Barmherzigkeit hat man mich meiner Vorstudien wegen in den zweiten Winterkurs aufgenommen; ich habe gelernt und geübt und dann und wann ein bissel geschrieben. Ich habe Enttäuschungen erlebt und Freuden, und es ist trotzdem immer besser und besser gegangen, und meine Arbeiten sind gezahlt worden. Heute zähle ich zu den ständigen Mitarbeitern des hauptstädtischen Tageblattes, und mein Name hat schon halbwegs einen Klang. Doktor Sebald Meier, der Hauptredakteur des Blattes, hat ein paar meiner besten Arbeiten zusammengesucht, einen Verleger gefunden und das Bändchen mit einem Geleitworte versehen. Das erste Büchel, das ich in die Hand bekommen, schicke ich Euch, und auch Ihr möget urteln, ob ich etwas kann oder nicht. Außerdem habe ich dieser Tage meine Prüfung als Zimmer- und Maurermeister gemacht. Ich bin nämlich mittendrin auch einen Sommer über mit den Maurern gegangen. Es ist spät geworden, bis ich mir halbwegs eine Stellung errungen, aber ich habe sie errungen, und ich meine: So gut dürfte ich auch daran sein, wie wenn ich Zäunerbauer geworden wäre. Was meint Ihr? Und nun richte ich an Euch eine große, große Frage und Bitte: Wir sind in Ärger und Zerwürfnis auseinander gegangen, ich habe Euch nicht gefolgt, vorsätzlich und absichtlich nicht, aber ich habe die ganze Zeit her gearbeitet und gestrebt, Euch zu zeigen, dass dies nicht unrecht gemeint gewesen. Könnt Ihr mir verzeihen, und darf ich wieder heim zu Euch? ...«

»Aber: ja«, stößt die Mena hastig heraus, und der Christoph nickt zur Bekräftigung, liest aber weiter.

»Wenn ich heim dürfte, und wenn Ihr mir das Häusel geben wolltet, ich tät' es mir wunderschön umbauen, schier ein Schlössel richtete ich her auf der Schönberger Höhe; ich täte mein Meisterstück ausführen daran, und die Leut' sollten schauen an dem Notweberhäusel. Und Ihr habt Euch die Ruhe auch schon verdient. Was ich noch fragen wollte: Ist die Line verheiratet, und wie geht es ihr, und lebt der Großvater auch noch? Und jetzt bitte ich Euch zum Schlusse noch einmal: Verzeiht mir und schreibt, ob ich heim darf zu Euch! Ich käme dann schon nächste Woche. Indem ich Euch alle herzlichst grüße, verbleibe ich Euer ewig dankbarer Sohn Gebriel.«

Der Christoph legt das Briefblatt auf den Tisch nieder, und in seiner Augenwimper zittert ein helles Tröpflein. »Ich mein ...«

»Heut schreibst ihm noch!« fällt ihm die Mena hastig in die Rede und schaut nachher wieder an dem Bilde des Buben. »Und recht ausführlich schreibst ihm, dass er sich auskennt. Er soll nur kommen. ... Ist er nicht gut troffen?« wendet sie sich dann an den Alten.

»Mm ja«, macht es der. »Aber schlecht sieht er aus, verzweifelt mager.«

»Mein', wenn einer so viel durchmacht.«

Und dann setzt sich der Christoph zum Schreiben zurecht, aber es fällt ihm vor lauter Gedanken nichts ein, was er dem Buben schreiben sollte, und seine Hand zittert. Er muss nun vorläufig absehen davon, und so setzen sie sich zusammen um den Tisch, und eins sinnt her und das andere hin, und zeitenweise fällt wohl auch ein Wort oder eine karge Rede, und sie reicht überall hin. Das Glück macht sie stummer, als sie sonst sind.

Erst gegen Abend kommt der Christoph so weit, dass er schreiben kann.

»Lieber Gabriel! Dein Brief hat eine Freude in unser Häusel gebracht, wie ich, wie wir sie nimmer verhofft haben in unseren alten Tagen. Sogar der Großvater ist schier außer sich vor Freud'. Er ist jetzt bei uns herüben, seit seine Hauserin gestorben, und die Line ist verheiratet, und es geht ihr recht gut. Und das andere ist alles vergessen; komm nur recht bald! Wir haben die Sach' mit der Zäunerbäuerin die letzte Zeit eh' schon ganz anders angeschaut; wer weiß, hättest Du die Rübe so groß ausgezogen an ihr. Sie hat den Hof wieder zurückfallen lassen und ins Ebental hinübergeheiratet. Soll aber nicht die beste Ehe sein. Man hört allerhand, und sie soll eine Beißzange sein, wo man eine hinbraucht. Die Mutter meint, dass vielleicht auch ihr Mann viel Schuld haben könne, dass sie sich so ausgewachsen und dass Du am End' ein ganz ander Leut aus ihr hättest ziehen können, aber wer kann sel wissen? Es hätt' so werden können und so auch. Heut ist die Zeit vorüber, und es ist gut so. Einem Großbauern stehst am End' auch gleich mit Deiner Stellung. Sel hab' ich ja schon vor langen Jahren gesagt. ... Aber wozu einen Haufen zusammenschreiben, wenn wir eh' bald reden können mitsammen? Komm nur recht bald! Und die herzlichsten Grüße von uns allen Dreien!«

Gen Abend aber, während er so schreibt, rennt die Mena mit dem Büchel in den Schönbergerhof hinüber und zeigt das Bild ihres Buben und erzählt, was alles er geworden, und dass er nun bald kommt, und sogar bis in den Hof in der Grashilm treibt es sie hinüber. So schaut der Bub jetzt aus, und in allen Bücheln haben sie ihn aufgemalt, ihn, ihren Buben. Aber auch der Christoph nimmt Brief und Büchel mit, als er am nächsten Tage den Brief zur Post nach Steinbrunn trägt. Soll sich einer melden, dessen Bub es weiter gebracht!

Wer ihm in den Weg läuft, dem erzählt er, was sein Gaberl nun geworden, oder zeigt ihm wohl auch dessen Bild, und wenn da und dort einer bauen oder umbauen wollte, er sollt' sich nur auf den neugebackenen Meister verlassen.

Und als er den Brief zur Post gegeben, geht er dem Pfarrhofe zu, damit auch der Pfarrer von der Sache erfahre, weil er eh'zeit soundso gemeint, als ob es nicht ginge, als wenn der Bub nicht ganz den Kopf hätte dazu oder dergleichen.

»Kennt Ihr ihn?« lächelt er selig, als er dem alten Herrn das Bild zeigt. »Troffen ist er gut, aber mager ist er, elendig mager.«

»Der Gaberl«, nickt der Pfarrer und rückt sich sein Augenglas zurecht. »Da schau! Also hat er doch sein Wort gehalten ...«

»Wort?« sinnt der Christoph. »Wie meint Ihr das?«

»Wisst, das ist so, Weber: Als er selmal die Heirat hat rückgängig gemacht, hab' ich ihm den Kopf ein bissel gewaschen wegen seines unmännlichen Gehabens ...«

»Hat ihm aber auch nicht anders gehört selmal.«

»Gar nicht anders. Und da hat er mir anvertraut: Das und jenes hätt' er im Sinn, und es käm' auf Biegen oder Brechen an. Recht ernst hab' ich die Red' nicht genommen, weil ich ihn kennt hab': Heut das, morgen sel, keine Beständigkeit, wie man sagt. Aber jetzt hat er seinen Mann gemacht, wie ich sehe. ... Novellen von Gabriel Seeböck«, liest er. »Mit einem Geleitworte von Doktor Sebald Meier ... Na, schön. Wenn Ihr erlaubt, werd' ich mir die Sachen in aller Ruhe durchlesen.« Und er will nach dem Büchel langen, aber der Christoph zieht es ihm hastig weg.

»Hochwürden Herr Pfarrer!« stößt er heraus. »Ein anderes Büchel muss Euch der Bub geben, wenn er kommt, aber ... das nicht. Das ist mir um keinen Hunderter feil, wirklich wahr. Es ist das erste, schreibt der Bub. Da leset selbst!« Und er reicht ihm den Brief dar.

Als aber der Pfarrer gelesen und ihm die Hand hinreicht und ihn beglückwünscht, fängt er zu weinen an.

»Aber warum weint Ihr denn?« staunt der.

»Mein'!« würgt er unter Schluchzen heraus. »Schaut, Herr Pfarrer! Wir haben Kümmernisse gehabt mit ihm, mehr am End' ... gar keiner mehr in der Gemein', wir haben Not und Sorg' gehabt, wir haben eine Weil' gerad' nur vom Hafer gelebt und Hunger genug gelitten, und alles hat mich nicht gerührt, aber das hat keinen Platz mehr in mir, die Freud' ...«

Und in währendem Heimgehen fallen ihm immer und immer wieder des Pfarrers Glückwunschworte ein, und er wähnt kaum die Erde zu berühren, so leicht geht er dahin und so gehoben und getragen fühlt er sich von eitel Glück und Freude ... Er kann sich freuen für und für und stolz sein auf den Buben und dies und jenes. Stolz ist er nicht, nein, sel nicht, aber freuen tut er sich schier unmäßig. Wenn er nur schon da wär'! Aber in drei, vier Tagen kann es sein, und dann – ah, dann wird die Holzhütten dort oben bald anders ausschauen. Ein Schlössel baut er, wie er schreibt. Stünd' nicht schlecht oben, und die Leut' sollen nur sehen, was er kann. Maurer- und Zimmermeister! Sel ist das Richtige; da kann er alles angreifen, und das Geld wird nur so haufenweise ins Haus gerollt kommen ... Und sein Sinnen und Planen reißt ihn wieder einmal mit sich fort über alle Grenzen des Wahrscheinlichen hinüber und macht ein paar Tänze mit ihm auf einem Boden, der entschieden im Gebiete der sogenannten frommen Wünsche liegt. Nicht einmal das Pfeifen des Dampfrosses unten im Tale und das Pusten und Schnaufen eines talaufwärts ziehenden Lastzuges beirrt ihn darin oder bringt ihn ein Zeitlein aus dem Geleise, wo doch diese Geräusche immerhin noch etwas ziemlich Ungewöhnliches sind im Walde, denn die Bahn ist erst im Spätherbste dem Verkehr eröffnet worden. In diesem Punkte bleibt er der Christoph, solange er lebt.

Aber selbst die allweg nüchterne und – wie man sagt – hausbackene Mena reißt die Freude dann und wann ein Örtel weiter, als sie all ihr Leben lang gekommen. Dies und jenes spiegelt ihr Wunsch und Hoffen vor, und sie glaubt es.

Wenn er nur schon da wäre! Na, morgen und übermorgen wird's am Ende noch nicht sein können und nicht sein, aber gleich darauf wär's schon möglich.

So langsam sind schon lange keine Tage mehr am Geldweberhäusel vorbeigegangen wie diese. Heut' könnt' er kommen, heut' auch oder spätestens morgen, und es will langmächtig nicht morgen werden. Der Christoph geht aufs Geratewohl einmal zur Bahn und wartet, ob der Bub nicht etwa mit dem Nachmittagszuge ankomme, aber es steigen nur ein paar fremde Viehhändler aus.

Hat er denn das Schreiben nicht erhalten? Wenn's noch ein paar Tage ansteht, nachher muss er noch einmal nachschreiben, und dann gibt er aber den Brief mit Schein auf, dass er nicht verloren gehen kann.

Als er so vom Bahnhofe nach Steinbrunn zurückstapft und hin und her sinnt, kommt ihm der Fischerdoktor von Waldzell entgegen.

»Grüß Gott, Herr Seeböck!« ruft der schon von Weitem. »Meine herzlichsten und aufrichtigsten Glückwünsche zu dem wunderschönen Erfolg Ihres Sohnes! Das war einmal ein Wurf, der durch den ganzen Blätterwald dahinhallt. Wissen Sie, was die Zeitungen schreiben? ...«

»Ich?« Er kennt sich nicht aus an den Reden des Mannes.

»Schon lange ist kein Buch mehr erschienen, das sich dieser Novellensammlung zur Seite stellen könnte. Ein Ereignis auf dem Gebiete der Erzählkunst. Wissen Sie, was dies heißt? ... Ist er schon daheim?«

»Nein. Geschrieben hat er, und wir warten alle Tag'; gerad' komm' ich vom Bahnhof her, aber er kommt nicht. Hat er denn den Brief nicht bekommen, oder ist's sonst was ...?«

»Er kann dieser Tage immer noch kommen. Gestern hab' ich einen Brief bekommen von ihm und ... am Ostermontag kommen wir alle hinauf zu Ihnen.«

»Ihr?« wundert der Christoph.

»Warum nicht? Wir sind auf fast ein und derselben Schulbank gesessen, und ... heut' ist er so, dass ich meinen Besuch zuerst mache bei ihm.«

Der Christoph schaut groß und klein und findet keine Rede darauf, und derweil nickt Doktor Fischer einen kurzen, herzlichen Gruß und hastet seines Weges weiter. Im Bahnhofe hätt' er einen Kranken, sagt er entschuldigend.

Und nun gibt es wieder Neues zu sinnen für den Christoph. Er kennt sich zwar alleweil nicht recht aus, wie er des Doktors Reden nehmen soll, aber dass sie ein Lob seines Buben sind, das kennt er doch. In Steinbrunn fragt er auf der Post, ob nichts angekommen für ihn oder die Gemeine, und unter einigen Amtssachen ist auch eine Postkarte vom Gaberl ... »Komme morgen mit dem Abendzuge.« Morgen erst? Ja, wann hat er denn eigentlich geschrieben? Du verzwirnte Wichs! Das bedeutet ja heute. Nun, so endlich! Aber da geht er wirklich schon nimmer heim; steht gar nicht dafür. Die paar Stunden kann er schon irgendwo verbringen, und dann bringt er ihn gleich mit heim.

Er geht zum Binder, um ein weniges zu plauschen und die Zeit zu verbringen, aber es duldet ihn nicht lange. Eine Unruhe herrscht ihn, wie schon lange nimmer, und er kommt sich fast vor wie ein Quecksilbertröpfel, das es nirgends recht dulden will. Er geht zur Bahn hinaus und setzt sich auf ein Bänkchen nieder und wartet, aber es will nicht Abend werden. Dann kommt Doktor Fischer einmal an ihm vorbeigehastet, und da er schon ein paar Schritte vorüber ist, kehrt er mit einem Rucke um.

»Kommt der Herr Sohn vielleicht heute schon?« fragt er.

»Mit dem Abendzuge, schreibt er.«

»Ich fahre ebenfalls mit diesem Zuge heim. Da können wir ein bissel plaudern derweilen. Es ist ja noch Zeit.« Und er nötigt ihn in das Zimmer des Bahnhofsvorstandes, dessen Kind sich bei einem Fall über die Stiege den Arm gebrochen, und dort reden und schwatzen sie mit ihm, als wär' er ein Herr, einer Ihresgleichen, und sein Herz geht ihm über und macht ihn, den schweigsamen Schönberger, gesprächig.

Das Tageslicht beginnt mählich zu verblassen, und es rückt endlich die Zeit heran, wo der Zug kommen soll.

Sie gehen ins Amtszimmer und nach dem Zeichen auf den Bahnsteig, und endlich fährt das schwarze Ungetüm heran, und die zwei roten Laternen glotzen in die Dämmerung wie glühende Augen, aber dem Christoph kommen sie vor wie leuchtende Sterne. Das Ungetüm fährt seinen Buben daher.

»Steinbrunn! Eine Minut'!«

»Behüt' Gott bis zum Ostermontag!« sagt Doktor Fischer zum Abschiede und hastet dem Zuge zu, aber vor dem einen Wagen, dessen Türe aufgerissen wird, bleibt er ein Weilchen vor einem stehen, und dann kommt dieser daher: der Gaberl.

»Bist es?« jubelt der Christoph hell auf.

»Grüß Gott, Vater! Habt Ihr die Karte doch bei Zeiten erhalten?«

»Gerad' vorhin. Wenn ich nicht schon zum Nachmittagszug herunterkomm', weiß ich nichts davon. Und ...grüß' dich Gott! Nein, von den alten Sachen reden wir heut' kein Wort!« wehrt er dann ab, als der Gaberl davon anfangen will.

Und dann stapfen sie schweigend nebeneinander dahin, bis dem Christoph überlings einmal einfällt, dass der Bub allerhand mitgenommen, aber nichts zurückbringt.

»Dein Zeug hast in der Stadt lassen?« fragt er.

»Nein, das hab' ich als Fracht aufgegeben.« Dann fällt wieder kein Wort, bis sie außerhalb Steinbrunn sind und der Weg in die Hängen ansteigt.

Leute andern Schlages würden sich da in Fragen nicht genug tun können, und die zwei fragen und antworten auch, aber es muss zuerst jede Frage und jeder Bescheid im Stillen betrachtet sein, bis wieder eine Rede fällt, und der Gaberl ist überhaupt wortkarger als der Alte und als er früher gewesen: ein richtiger Schönberger.

Auf den Höhen hat es leicht angezogen, und die Schritte hallen weit hinaus ins Gelände und in die ruhige Nacht, und als sie von ungefähr einmal jemand anruft, schweigen sie ganz und gar. Wozu brauchte auch der oder jener zu hören, was sie mitsammen reden?

Am nachtdunklen Himmel glitzern und flimmern die Sterne, und von der Schönberger Höhe herunter glüht ein rötlich Lichtpünktchen fast auch wie ein Stern: das hell erleuchtete Fenster im ehemaligen Notweberhäusel, das nun wieder seinen alten Namen führt, Geldweberhäusel. Dort sitzt die Mena am Tische und liest des Buben Buch, und dann und wann vermeint sie irgendeinen zu kennen, der in den Geschichten vorkommt: den alten Kallmann mit seinen Eigenheiten, den närrischen Zenz, den der Herrgott unlängst als Kostgänger ins Himmelreich berufen nach seinem Worte: Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich, und den und den. Und über lauter Lesen und Sinnen wird sie der Ahnung nicht los: Heut' kommt er; der Christoph bringt ihn.

*

Es ist Ostermontag, aber es schaut gerade so her, als ob Sankt Martin mit seinem Schimmel vor der Türe stände. Die Gegend ist düster und trübe, am Himmel jagen die ledigen Schneewolken hintereinander dahin, und ein eisiger Wind streicht über Höhen und Hänge. Ist nie eine Zeit wie die andere, und im Leben mag's oftmals auch so sein: Es können die Ostereier an der Sonne gegessen werden, aber auch hinter dem Ofen.

Bei so einem Wetter aber ist der Ofen der beste Freund, wenigstens denkt sich der alte Schönberger so und rührt sich nicht weg von der Ofenbank, während die Mena, der Christoph und der Jakoberl am Tische sitzen und den Bauplan anschauen und anstaunen, den der Gaberl für das neue Häusel entworfen und nun erklärt.

»Das wird aber Geld kosten«, mutmaßt der Christoph. »Und ...«

»Um dritthalb Tausender stell' ich es fix und fertig her, und wer weiß, ob ich das Geld alles brauche. Wird sich schon ausgehen. Verdienen tu' ich mir ja auch wieder etwas. Und dann schaut er wieder zum Fenster hinaus. »Heut' kommen sie nicht«, rät er dann.

»Wer?« fragt der Jakoberl, der eigentlich ein mordsmächtiger Jakob geworden und hübsch knapp vor der Hochzeit steht.

»Der Fischerdoktor von Waldzell soll kommen. Aber wie gesagt: Heut' zähl' ich ihn nicht.«

»Na, gar so arg wär's nicht«, hofft die Mena. »Sie kunnten allweil noch kommen.«

Und dann redet man wieder hin und her, über dies und jenes, über Neuigkeiten, die während der drei Jahre vorgekommen, und recht schlaunt (vor sich gehen) dem Schönbergern das Reden nicht, einem wie dem andern. In drei Jahren geht allerhand vor sich, und wenn eins nur das Wichtigste erzählt, kommt Verschiedenes heraus, selbst wenn diese Zeit an einem so ruhigen, stillen Winkel vorübergegangen.

Da trampelt plötzlich etwas auf die Gred draußen: Die Doktorsleute. Und selbst der alte Fischer ist mit.

Mit einem Rucke springt der Gaberl auf, jähe Röte schießt in sein Gesicht, und er rennt hinaus, den Ankömmlingen entgegen.

»Ich geh' derweil ... fort«, brummt der Alte auf der Ofenbank. »Das Herrengeschmeiß übereinander! Mir scheint, ich hör' gar Frauen ...«

»Vater!« stellt die Mena vor. »Macht keine Sachen! Es geht unsern Gaberl an, und – wie lang' werden sie sich denn halten?«

Da kommen sie schon in die Stube.

Begrüßen hin und her, und gar der Alte auf der Ofenbank muss da mittun.

»Wohl der Großvater unseres Dichters?« fragt Doktor Fischer und mustert ihn mit den Blicken des forschenden Arztes.

»J ... ja.«

»Wie alt sind Sie schon?«

»Den Einundneunziger krieg' ich halt.«

»Und gesund dabei.«

»J ... ja. Hat mir soweit noch nichts gefehlt.«

»Wie haben Sie gelebt?«

»Mein!« macht es der Alte verdrießlich ob der Fragen. »Fischer, wie lebt denn unsereiner?« wendet er sich an den alten Fischer. »Schlecht essen und gut arbeiten, gelt?«

»Grüß Gott, Ähnl!« Und das ist die Sephi, die ihm nun die Hand reicht, ein kräftiges, gesundes Weiberleut, und er nickt mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund. Hält sich nicht schlecht, das Ding, das der Christoph einmal sozusagen vom Wege aufgelesen. Ist ein gutes Werk geschehen selbes Mal.

Man setzt sich um den Tisch herum, und die Mena trägt ein bissel was auf, das sie des Besuches halber mehr gerichtet, und dann plaudert man hin und wider, und die Schönberger stechen mit ihrer kargen, langsamen Rede gar seltsam ab gegen die gesprächigen Gäste.

»Du folgst wohl auch meinem Beispiele?« fragt Doktor Fischer einmal den Gaberl.

»In wieferne?«

»Du siedelst dich auch im Walde an?«

»Ja. Ich habe sogar schon einen Plan zum neuen Hause fertig.«

»Wacker. Weißt, es gibt nicht leicht ein schöneres Fleckchen Erde, als das die Sonne unserer Kindheit beschienen. Man denkt, man fühlt sich vereinsamt, wenn man einmal ein ander Leben gesehen, und man muss verbauern. Was heißt verbauern? Muss ich? Nein. Und vereinsamt? Schau'! Meine Frau ist in der Hauptstadt aufgewachsen inmitten des farbenprächtigen und lebensfrohen Getriebes, das die Alma mater gleich einem Ziergärtlein umgibt, und heute sitzen wir heraußen in der Einsamkeit und der Stille des Landlebens, und wir haben uns noch nie gelangweilt. Was, Hilde?«

»Kein Viertelstündlein«, versichert Frau Hilde tiefernst. »Wir sind uns selbst genug.«

»Also siehst du: Wir sind uns selbst genug. Kann dies oftmals ein anderes im nervenzerrüttenden Getriebe der Stadt auch sagen?«

»Für immer hätte ich nicht in der Stadt sein mögen«, erklärt der Gaberl. »Ich habe mich immer in Gedanken in den Wald zurückversetzt fühlen müssen, wenn ich geschrieben habe, und ich glaube auch, es hat diese Sehnsucht nicht die geringste Schuld am Gelingen der Arbeit.«

»Das mag schon sein«, gibt Frau Hilde zu. »Aber wissen Sie: Ihren Novellenband habe ich dreimal hintereinander gelesen, und Fräulein Sephi hat einmal ... Na, ich verrate nichts weiter«, lächelt sie, als das Dirndl hastig die Hand auf der Herrin Arm legt und so rot wird wie das ledige Blut.

»Hast du für ein Wörtchen Zeit?« fragt Doktor Fischer den Gaberl, und sie gehen dann hinaus auf die Gred.

»Eine Frage als Freund!« fängt Doktor Fischer an.

»Bitte!«

»Wie steht es ansonsten mit dir? Kannst du dich noch erinnern, was du nach deiner Ankunft in der Stadt der Sephi geschrieben? Wenn die warten will, mag sie warten, aber du rätst ihr weiter nicht so und nicht so. Sie hat gewartet ... das Mädchen ist recht«, fährt er nach einer kleinen Pause fort, da der Gaberl nichts sagt und keinen Bescheid gibt. »Meine Frau hat sich alle erdenkliche Mühe gegeben, ihm nicht nur einen hübschen Schliff, sondern auch eine gewisse, mitunter ganz gründliche Bildung beizubringen. Selbstverständlich ist es keine reiche Partie, aber eine tüchtige, zukünftige Hausfrau. Und ... wenn du gerade für den Anfang schnöden Mammons bedarfst, du weißt, das Bankhaus Stein ...

»Nicht!« stößt der Gaberl hastig heraus. »Unter uns gesagt: Ich wäre dieser Tage ohnehin zu euch gekommen. Ich habe kein anderes Ideal, aber ... soll ich gleich rennen und meine Buckerln machen? Bin ich ein Weibernarr? Ein Trumm von den Schönbergern hab' ich ja doch in mir.«

»Also gut. Dann ist die Sache erledigt. ... Ja, noch eins! Fräulein Sephi hat mir unlängst ihre Jugenderlebnisse erzählt, und ich bin incognito hinüber in ihre Heimat und habe Nachforschungen angestellt. Ich habe sogar ihren Taufschein. Die Familie ist nicht die beste, das ist wahr, aber was kann sie dafür? Der Vater ist im Rausche in einem Bache ertrunken, die Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, einer ihrer Brüder hat sich eines Verbrechens wegen über das große Wasser flüchten müssen, und der andere ist Feldwebel, ein ganz ordentlicher, tüchtiger und strebsamer Mensch. Ich glaube, dass du vernünftig bis und keinen Anstoß nimmst daran.«

»Sie kann nicht dafür.«

»Das meine ich auch. Also sind wir diesbezüglich im Reinen.«

Und sie gehen wieder hinein, und Doktor Fischer kramt in seiner weltmännischen, leichten Weise Studentenerinnerungen aus, kommt auf den und den zu sprechen und auch auf Philipp Seeböck.

»Weißt du nichts von Schildberg?« fragt er dazwischen. »Ein Bekannter hat mir einmal geschrieben, dass er Techniker geworden und unter ... die Dichter gegangen.«

»Dichter!« sagt der Gaberl mit eigentümlicher Betonung und schupft die Schultern. »Einer der Redakteure des Tageblattes hat mir einmal etwas erzählt, aber nicht in der lobendsten Weise, und bald darauf hat das Blatt die Nachricht gebracht, dass er sich einer Spiel-›Affäre‹ wegen erschossen. Sic transit ...«

»So gehört sich's«, meldet sich der Alte hinter der Ofenbank. »Ich hab' den Lipp nicht recht leiden können, aber so gehört sich's.«

Dem Jakoberl wird die sich auf ihm fremden Boden bewegende Unterhaltung auch etwas ungemütlich, und er hebt sich, um zu gehen.

»Wie geht es der Frau Mutter?« erkundigt sich Doktor Fischer.

»Na, es geht schon«, bescheidet de Bursche. »So ist sie halt nimmer wie früher, aber wenn sie nur den Tisch versehen kann.«

»Von der Arbeit kriegt sie eh' bald einen Fried«, spielt die Mena an. »Nach einer alten Bäuerin kommt allemal eine junge ins Haus.«

»Behüt' Gott!« stößt der Jakoberl verlegen heraus und wendet sich ab und geht.

»Ein tüchtiges Mannl«, erklärt der Christoph, »aber halt geschämig.«

»Das macht gar nichts«, lächelt der Doktor und kaut ein Weilchen an seinen Bartspitzen. Dann aber wendet er sich hastig der Mena zu.

»Den da werden Sie halt auch bald in die Ehe zwängen müssen, sonst verknöchert er, und verknöcherte Junggesellen ...«

»Von mir aus schon«, lächelt die vergnüglich. »Alt genug ist er.«

»So gehen wir die Angelegenheit gleich an.«

»Wissen Sie ihm vielleicht gar eine?«

»Selbstverständlich.«

Da springt die Sephi hastig auf und geht hinaus.

»Was hat denn das Dirndl?« wundert der Christoph. »Wird ihr doch nicht etwa ... schlecht worden sein? Und so bieberrot ist sie.«

»Wär' ja der Arzt hier«, schmunzelt Frau Hilde, die den Grund wohl errät.

»Also: Ich weiß eine, die für ihn so gut passt, wie nicht leicht eine andere«, fängt Doktor Fischer wieder an. »Sind Sie einverstanden?«

»Na, wissen sollt' man halt doch ...«

»Die Sephi ist's«, sagt der Gaberl geradeweg heraus. »Der Doktor weiß halt darum und ...«

»Die Sephi!« Die Mena und der Christoph dehnen dies schier zu gleicher Zeit heraus, und ihre Gesichter verdüstern sich zusehends.

»Das Mädchen ist recht in jeder Beziehung«, versichert Frau Hilde.

»Ein ganz richtiges Leut'«, versichert auch der alte Fischer.

»Sel kann ja alles sein, aber ... weiß er sich denn gar keine andere mehr?« ärgert sich die Mena sichtlich.

»Na, na, na!« macht es Doktor Fischer. »Wir meinen ihm sicher nichts Unrechtes, und wenn es sein Wille ist, lasst ihm den Willen!«

»Nein«, rät auf der Ofenbank hinten der Alte. »Jede ...«

»Frau Seeböck«, müht sich Frau Hilde. »Sehen Sie: Ich bin eine sehr große Verehrerin des Schriftstellers Gabriel Seeböck, Ihres Herrn Sohnes, und ich riete keinesfalls dazu, wenn ich nicht wüsste, dass Fräulein Sephi ein rechtes Mädchen ist. Das Glück geht nicht immer Hand in Hand mit dem Gelde ...«

»So nimm sie dir!« entschließt sich der Christoph. »Aufs Geld stehst heut nimmer so arg an, und ... wir reden dir nimmer drein. Wie du dich bettest, so schläfst!«

»Na, meinetwegen auch«, sagt die Mena nach einem Weilchen. »Wie du meinst.«

»Jetzt hol' sie dir aber schnell«, rät Doktor Fischer lachend. »Tracht' aber, dass du keinen Korb daherbringst!«

Und der Gaberl steht auf und geht hinaus.

»Auf diese Erklärung wäre ich wahrhaftig neugierig«, meint Frau Hilde. »Ein Dichter freit ...«

»Ah, da bin ich nicht im mindesten neugierig«, fällt ihr Dokor Fischer in die Rede. »Die besten Poeten sollen in den Stücken die unbeholfensten Prosaiker sein, habe ich einmal sagen hören. Aber ... soweit man mit Menschenverstand urteln kann, ist da nichts verfehlt«, vertröstet er die Geldweberleute.

»Nun ja«, gibt der Christoph zu. »Sein kann's ja, und ... er soll seinen Willen haben. Hat er es ohne Geld so weit gebracht, bringt er es mit gutem Willen auch wohl weiter.«

»Übers Wasser hat er sich schon gearbeitet, er braucht sich nur mehr zu rühren.« ...

In der niedrigen Stube dehnen sich mit einem Male die Schatten aus den Ecken und Winkeln heraus über Wände und Raum, und vor den Fenstern draußen wirbeln die Vorboten eines Aprilgestöbers zur Erde, aber als der Gaberl und die Sephi nach einem Weilchen in die Stube treten mit geröteten Gesichtern und freudestrahlenden Augen, ist's, als ob ein Strahl lichten Ostersonnenscheins sich durch das düstere Schneegewölke zwängte und seinen Weg in die schattenbeherrscht Stube suchte.

 


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