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5.

Es ist der Tag vor Allerheiligen, und über den Höhen des Waldes liegt der schönste Herbsttag. Vom schier wolkenlosen Himmel leuchtet die Sonne in ungetrübter Helle, kein Lüftchen regt und rührt sich, und über die Fluren ziehen die Spinnweben in trägem Fluge dahin. Die Obstbäume in den Gärten, das Gestrüppe auf Rain und Flur und die Birken in den Vorwäldern stehen kahl und leer da, und kein Flüstern geht durch die blattlosen Kronen, und kein Vogel singt im Geäste. Wie tot und abgestorben ist die ganze Natur ringsumher, nur die Menschen schafften und taten, als würde für sie nicht auch einmal solch eine Zeit.

Durch die Birkenberge hallt Wagengeklapper und Fuhrwerken, und mitunter mischt sich auch frohes Lachen dazwischen.

Einige Tage hindurch hat ein starker Ostwind das letzte Laub von den Zweigen geweht und Laub und Streu getrocknet, und die Leute nutzen nun die Zeit und rechen nun zu Stallstreu zusammen, was Frühling und Sommer hindurch sich in den köstlichen Waldeslüften geschaukelt und was der Menschen Auge durch sein Grün erfreut zu jeglicher Zeit.

Auch im Schönbergerhofe ist alles mit dem Einheimsen der Streu beschäftigt, nur die Bäuerin fegt und putzt im Hause herum, weil es morgen Feiertag ist, und der Jakoberl hütet in der Boint unten das Vieh, damit es sich noch die letzten Grashälmchen zusammensuche, die in Schnee und Frost des Winters nutzlos verkommen würden.

Eben haben sie einen Wagen voll Streu in die Streuschupfe geräumt, und der kleine Sepperl ist derweil um den Ähnl herum gezappelt, aber da dieser nun wieder gen Berg fahren muss mit dem Gespanne, richtet er ihn über die Gred hinein zur Bäuerin, die am steinernen Röhrbrunnentroge steht und emsig am Holzgeschirre reibt und scheuert.

»Ähnl wieder fort gegangen«, berichtet der Sepperl und bemüht sich, einen Zuber ins Rollen zu bringen, was ihm nach einiger Anstrengung auch gelingt. Aber der Zuber kollert dahin, bis er über die Gred hinunter plumpst auf den Misthaufen.

»Du Malefizkörper!« greint die Bäuerin. »Erst reib' ich das Geschirr rein, und nachher rollt er mir's wieder auf den Misthaufen, dass ich nie fertig werd' mit meiner Arbeit ... Such' dir dein Ross und deinen Wagen und tu' auch Streu fahren!«

Und der Sepperl sucht sich sein Fuhrwerk und fährt auch Streu in seiner Weise. Er schreit und fuhrwerkt, was er aus dem Halse bringt, und sie lässt ihn gewähren, weil sie sich nicht umzusehen braucht nach ihm, solange er spielt.

Er füttert auch die Rosse, und derweil die fressen sollen, holt er in einem Blechtöpfchen Wasser aus dem Brunnentroge zur Tränke und findet Gefallen an dem Herumwascheln, so dass er schließlich an dem Brunnentroge stehen bleibt und nur mehr einschöpft und wieder ausschüttet. Die Bäuerin greint ein Weilchen, dass er seine ganze Gewandung tropfnass mache, aber da diese schon nass ist, lässt sie ihn gewähren.

Als sie mit dem Geschirre fertig ist, lehnt sie es zum Abseihen auf und geht hinauf in den Obstgarten, die dort zum Trocknen aufgehängte Wäsche von der Stange zu nehmen und ins Haus zu tragen.

Derweil aber entgleitet den kleinen Händchen des Sepperl das Blechtöpfchen und beginnt auf dem Wasser herumzuschwimmen, und der Bub lacht dazu und jubelt, aber als er es wieder haben will, kann er es nicht mehr erreichen und erlangen. Er hängt sich mit den Händchen an den Rand des Brunnentroges, zieht und strampelt den dicken, plumpen Körper nach, und als er oben ist, verliert er das Gleichgewicht und fällt ins Wasser. Ein unterdrückter Aufschrei, ein paar Zappler noch im eisigkalten Wasser, und dann sinkt er nieder auf den Boden und rührt und regt sich nimmer.

Als die Bäuerin mit einem Arm voll trockener Wäsche zurückkommt auf die Gred, streift ihr Blick zufällig den Brunnentrog, da sie nach dem Buben ausschaut, und während sie einen weithin gellenden Schrei ausstößt, schleudert sie die Wäsche nur so nieder und reißt den Buben heraus. Aber der ist wie ein vom Reif versengtes Blümlein; das Köpfchen hat keinen Halt mehr, und Arme und Füßchen sind wie gebrochen. Sie schüttelt und stürzt das Kind, um das in die Brust gedrungene Wasser herauszubefördern, sie schreit und bittet zu Gott und allen Heiligen um das junge Leben, aber es nutzt und fruchtet alles nichts mehr.

Derweil fährt der Lipp mit einer Fuhre Streu zur Schupfe, und da er das Schreien und Kirren seines Weibes hört, lässt er Ochsen und Wagen im Stiche, wirft dem Kleinknecht die Peitsche hin und rennt über die Gred hinein.

»Was gibt's denn? Was hast denn? ... Himmel-Herrschaft!« stößt er dann heraus. »Was ist' denn mit dem Buben?«

»In den Grand ist er gefallen«, berichtet sie unter stürzenden Tränen. »Sepperl! Sepperl! Ich bitt' dich: Noch einmal tu' deine Äuglein auf und schau' mich an ... Du rotgoldenes Herrgottl! Ich kann's nicht glauben, dass der Bub kein Leben mehr in sich haben sollt', ich kann's nicht glauben, ich glaub's nicht.«

»Ein Dirndl mit fünf, sechs Jahren wenn ich zu dem Kinde gestellt hätt', es würd' jetzt nicht tot sein; du hast nicht so viel Zeit, dass du achtgeben hättest«, beschuldigt der Lipp sein Weib. »Sepperl! Kommst denn gar nimmer zu dir?« Er will das Kind von ihren Armen nehmen, aber sie reißt es weg und geht damit in die Stube, wo sie es aufs Bett legt, davor hinkniet und die Hände ringt und flennt und jammert.

Erst als der Kleinknecht und das Inweib daherkommen und bemitleiden und bejammern, steht sie auf und schafft ihren Ärger über Lippens Rede Raum.

»Ich bin daran schuld, ich hab' das Kind umgebracht«, schreit sie grell und schneidend. »Niemand anderer hat die Schuld ...«

»Aber Bäuerin!« redet das Inweib ab, da es meint, der Schmerz über den Verlust des Kindes rüttle an ihrem Verstande. »Was redest denn jetzt daher? Wenn es geschehen hat müssen, hättest das Büblein im Arm halten können, und es wär' dir dort verstorben ...«

»Sagt's ja der ... der Lipp«, schreit die Schönbergerin hinaus.

»Ich hab' nichts gesagt«, verwahrt sich der Lipp und rennt die Stube auf und ab wie einer, der nicht gleich aus und ein weiß. Das Kindel ist tot, aber was lässt sich dawider tun und machen? Er sinnt, ob ihm nicht etwa dies oder jenes Mittel einfiele, das man allenfalls versuchen könnte, aber auch wenn er je von einem solchen gehört, so fiele ihm augenblicklich keines ein. Und das Leut bildet sich überdies noch einen Zorn und Groll ein wider ihn, weil er auch etwas gesagt! Da könnt' einem schon so werden, dass er auf alles pfeift, auf die Wirtschaft, auf das Weib und auf das Leben. Es wird ihm erst leichter, als der Alte daher kommt und in seiner rauen, kurzgebundenen Art eine Weile greint und jammert und dann wieder sich selbst anklagt.

Wenn er das hätt' verhoffen können, hätt' er das Bübel mit in den Birkenberg hinüber genommen, hätt' es auf den Wagen gesetzt oder auf dem Arm getragen. Aber wer zählet' denn, dass einem solches daheim bevorstehen könnt'?

Das Inweib muss in den Zacherlhof hinüberrennen, damit dort ausgeläutet werde, und da es am Geldweberhäusel vorbeihastet, springt die Mena heraus und fragt, was denn geschehen wäre drüben im Schönbergerhofe, weil man vor einer Zeit so schreien gehört und weil es, das Inweib, jetzt so fortrenne.

»Das kleinste Bübel ist in den Grand gefallen und ertrunken«, berichtet das Inweib. »Einesteils muss man sich denken, dass es eine Nachlässigkeit ist von der Bäuerin und andernteils, dass es so hat sein müssen.«

»Uns sind schon mehr verstorben«, meint die Mena leichthin. »Jedes muss halt das Seine tragen. Da wird übermorgen die Leiche sein?«

»Ich mein' schon.« Und sie hastet ihres Weges weiter.

Die Mena schaut eine Weile hinüber gen den Schönbergerhof, der einmal ihre Heimat und ihr Vaterhaus gewesen, und etwas wie stille Befriedigung schleicht um ihr Herz und um ihr Sinnen. Dass doch auch diese einmal ein Unfall trifft und dass ihnen ein Kind wegstirbt!

In der Stube erzählt sie das Gehörte in kurzen Worten dem kaum zuhorchenden Christoph und verrichtet ihre Arbeit nach wie vor, während die Line mit dem Spulrade so einen Lärm zu machen weiß, dass selbst redlustige Leute auf jede Unterhaltung verzichteten.

Der alte Kalmann ist nimmer bei ihnen; seit der Gaberl fortgezogen, ist auch er fort. Was täte er auch jetzt noch bei diesen Leuten, die selbst nichts Übriges haben?

Da morgen ein Feiertag ist, macht der Christoph ein bissel früher Feierabend, als bis ihn gerade die Nacht von der Arbeit jagt, und da raten sie dann, ob wohl eins zur Totenwache gehen solle, weil es in nächster Nachbarschaft ist und weil von drüben auch immer das kleine Gebursch' herübergekommen.

»Kunnt' die Line gehen«, meint der Christoph, aber sie verneint hastig.

»Die Line? Die findet in der stockfinsteren Nacht nimmer herüber. Zur Leiche kann sie gehen. So ist's rückgezahlt genug. Sie sind unsere Freund' nicht und wir nicht die ihren.«

Und so geht aus dem Geldweberhäusel niemand zur Totenwache, und zur Leiche geht nur das Dirndl, die Line.

Die Schönbergerin hat niemals daran gedacht, dass es einem nicht recht sein oder schwerfallen könnte, wenn es ein Totes im Hause hat, und dies oder jenes verweist ihm nicht die letzten christlichen Liebesdienste. Nun es sie selbst trifft, schaut sie mit Luchsaugen umher, wer zur Totenwache kommt und nicht kommt und wer sich zum Leichenbegängnisse einfindet. Als sie von den Nachbarsleuten nur das Dirndl kommen sieht, gibt es ihr gerade einen Stich durch und durch. Die wären die nächsten Freund' und schicken so einen Unverstand, den kein Mensch für jemanden rechnen kann!

Sie hat bislang nur am Zorn der Schönberger durcheinander teilgenommen und am Getrutze, weil der nun einmal vorhanden und sie zur Familie gehört, denn ihr kann es ja so weit ganz und gar gleichgültig sein, wen die Schwägerin geheiratet und ob sie eine schöne oder eine Missheirat gemacht, und sie hat an diesem Zorne und diesem Getrutze mitunter ein bissel geblasen und geschürt, damit er nicht verlösche und verglimme und damit der Mena Heiratsgut nicht ausbezahlt werden müsse, aber jetzt fühlt sie sich persönlich beleidigt von diesen Leuten, und sie nimmt sich vor, sich bezahlt zu machen, wenn immer sich Gelegenheit böte. Aber auch der Lipp und der Alte empfingen es peinlich, dass von den Leuten keines zur Leiche gekommen, und sie denken im Augenblicke nicht daran, dass auch aus dem Schönbergerhofe noch kein Erwachsenes zu einer Leiche ins Nachbarhaus gegangen.

Die Schönbergerin flennt und schreit wie fast närrisch, als man ihr auf solche Art ums Leben gekommenes Kindel aus dem Hause trägt, sie weint auch noch die Gehänge hinab und schreit am offenen Grabe, und kein Mensch hält ihr den Schmerz für übel. Wenn einem sein Kind auf solche Weise ums blühfrische Leben kommt, das kränkt und härmt sich schon ab. Aber auch des alten Schönbergers Wangen rieselt dann und wann ein großer, heller Tropfen hinab. Der Bub ist sein Liebling gewesen.

Und während man das Kind in die Erde bettet, knien der Geldweber und sein Weib an der alten Schönberger Grabe und verrichten dort ihr Gebet. Es ist Allerseelen, und da sucht eins mehr denn je die Stätten auf, wo jemand schläft, das mit jener Himmelskraft mit ihm verbunden, die das Licht der Welt und der Glorienschein des Kreuzes ist. Beim Magnete, dem toten, kalten Metalle, ziehen sich die ungleichen Pole an, beim Menschengeschlechte, dem von Gottes Odem belebten Abbilde des Höchsten, zieht die aus Himmelshöhen stammende Kraft das Gleiche zum Gleichen, das Ähnliche zum Ähnlichen und Blut zum Blute. Und gerade am besuchsvollen Freithofe zeigt sich die Gemeinschaft aller christgläubigen Seelen, der noch im Sonnenlichte Wandelnden und der schon zur stillen Ruhe Eingegangenen und im Herrn Schlafenden am deutlichsten.

Sie haben es die ganzen Jahre her, seit die alte Schönbergerin verstorben ist, schon so im Brauche, dass sie nie zu dem Grabe gehen, wenn von den Schönbergerleuten eins dort kniet, und als diese nachher hinkommen, stehen sie hastig auf und gehen an ihrer Kinder Gräber und an die Ruhestätten der verstorbenen Geldweberleute vorüber, und fremder denn je stehen sie sich fortab gegenüber.

Der alte Schönberger sieht das Grab seines Weibes mit grünem Moose belegt, sieht drei Kreuzlein aus roten Vogelbeeren darein geordnet und drei Kerzlein dabei stecken und weiß, dass von den Schönbergerleuten heute keines Zeit gefunden, sich um das Grab zu kümmern. So wird es die Mena getan haben. Und der Gedanke leuchtet durch sein düsteres Sinnen wie ein Sonnenstrahl durch trübes Regengewölke: Wenn die ... die nicht daran gedacht hätte, wär' heute das Grab vielleicht das verwahrloseste. Und es ruht doch eine darinnen, die mit ihm Hand in Hand durchs Leben gegangen durch gute und böse Tage, bis der Knochenmann dazwischen gefahren mit seiner Sense. Was müsste die für ein schweres Herz kriegen, wenn sie merkte, dass niemand mehr Ihrer gedenkt? Niemand? Derweil denkt schon er noch an sie, und wenn er selbst einmal nichts mehr schaffen und anordnen kann, um sel ist ihm jetzt nimmer, dass das Grab ungeschmückt ist zu Allerseelen; die Mena hat ein Herz. Ob sie aber auch sein Grab einmal mit Moos belegt, mit Kreuzlein und Kerzen zieret und mit Tränen benetzt? Unsinn! Hat sie einen Vater?

In dem Augenblicke, wenn ihn einer bei der rechten Seite fasste, er wäre empfänglich für ein rechtschaffen, ehrlich Wort, und er würde am Ende über alles Gewesene hinüber die Hand zur Aussöhnung bieten. Aber wer weiß den Augenblick, und wer tut es?

Nach dem üblichen Trauergottesdienste für alle abgestorbenen Christgläubigen gehen die Schönberger mit ihren Leuten zum Leichentrunke ins Wirtshaus, und die Geldweberleute stapfen heimzu. Der Kronwitterne, ein grobschlächtiger, wildbärtiger Kund', gesellt sich zu ihnen, und sie reden von allerhand, was ihnen halt gerade einfällt.

»Der Ster-Bockel möcht' haben, dass wir uns zu einer eigenen Gemeine zusammentun sollten«, erzählt der Kronwitterne. »Wär' soweit nicht das Unrechteste, und für uns allsamt würd' es viel handsamer in jedem Stück. Wenn d' jetzt was brauchst vom Bürgermeister, musst bis ins Dorf rennen und hinüber und herauf verträgst über zwei Stunden ...«

»Ich hab' nicht viel zu tun«, meint der Christoph gleichgültig. »Gerad' wenn die Steuer ist, hab' ich zum Bürgermeister zu gehen, sonst nie nicht. Von mir aus tun sie, wie sie wollen. Ich sag' wie sie allsamt sagen, ja oder nein.«

»Ich werd' auch nimmer viel Guttaten erleben von der eigenen Gemein«, mutmaßt der Kronwitterne. »Ich werd' halt doch noch abdrucken, wenn ich verkaufen kann. Der Bruder schreibt gut über gut, und wenn es dort drüben in der neuen Welt halb so gut ist, wie er schreibt, langt es auch. Mir schon.«

»Wer weiß denn?« zweifelt die Mena. »Wenn eins oftmals wüsst, wo sein Glücksblümel wächst, nachher fänd' jeder Narr dorthin, wo es am besten geht. So muss eins gerad' raten: erwisch' ich das rechte Trumm oder nicht.«

»Rat' mit!« versucht der Kronwitterne. »Raten wir alle zwei. So, wie es dir herüben geht, so kann's dir am End' drüben auch gehen, wenn es sich schlecht anlässt, und ein guter Handwerker, mein' ich, hat drüben noch mehr Gelegenheit zum Reichwerden.«

»Ich saget' gleich nicht ab, wenn ... wir den Buben nicht in der Studie hätten«, wendet der Christoph ein. »Weniger als wie ein Kappentausch könnt' nicht herausspringen.«

»Für den würd' drüben auch ein Platzel sein.«

»Wer weiß? Jetzt hab' ich es so schon gerichtet für ihn, jetzt, mein ich, mach' ich schon keine Zerwirrnis mehr drein.«

»Jetzt soll er nur seine Sach' fertig machen«, sagt auch die Mena und eilt in ihrem Sinnen der Zeit um ein jahrelanges Trumm voraus und wähnt des Weges zu sein zu ihres Buben Primiz. Wie sie ihr an dem Tage neidig sein werden, die Nachbarinnen und Bekannten ringsumher, und wie sie sich hinzudrängen werden, den ersten Segen zu erhaschen, den er spenden wird im Namen des Herrn!

Ihre Einbildungskraft malt ihr Bild um Bild vor die Seele, und sie erfreut und ergötzt sich an dem Wahne und den Trugbildern, und als sie heimkommen und ihre Arbeit verrichtet haben, setzt sie sich an den Tisch, stützt den Kopf in die Hand und stiert träumerischen Blickes vor sich hin. »Du, ich fahr' die nächsten Tag' in die Stadt«, fängt sie an ... »Ich muss sehen, wo du den Buben untergebracht hast und wie alles geht und steht.«

»Geh' lass dich auslachen!« widerredet der Christoph. »Bringst eine Menge Geld an mit dem Herumfahren, und was wirst sehen? Zu Weihnachten soll er sich einen Urlaub nehmen von den Professoren und auf ein paar Tag' kommen, so haben wir doch alle etwas, und in ein paar Tagen kann er uns erzählen genug.«

Ein Weilchen sinnt sie vor sich hin, dann nickt sie zustimmend und sehnt die Weihnacht herbei, die den Buben heimbringen soll.

*

Um dieselbe Zeit stehen die Schönbergerin und ein langer, hagerer, bleichgesichtiger Mann, der einem Schneider täuschend ähnlich sieht, aber ein Weber ist, auf dem Dorfplatze und reden eifrig mitsammen.

»Den Sackzwilch brauch' ich zu allererst«, besteht die Schönbergerin. »Es ist kein guter Sack mehr im ganzen Haus, und bald das Dreschen losgeht, geht's um die Säck' her.«

»Gleich wird's nicht sein können«, wendet der Weber ein. »An einer Schäften sind die ganzen Maschen von dem Mausgeflickert zerfressen, und mit drei Schäften kann man keinen Zwilch wirken.«

»Mach' dir neue Maschen, kauf' dir eine neue Schäften oder borg' dir eine aus; ich will den Sackzwilch haben«, besteht die Schönbergerin. »Und wenn du es nicht machen kannst, muss ich um einen andern Weber umschauen.«

»Es wird schon«, verspricht der Weber. »Ich schau' heut noch, dass ich ein gutes Zwilchzeig kriege, und morgen könnt Ihr das Garn schicken. Kommt gleich in den Stuhl.«

»Hast am End' eh' nichts zu arbeiten?«

»Wenig ist's«, lächelt der Weber. »Aber es geht alle Jahr so: Wenn die Leut mit dem Spinnen fertig sind, rennen sie zum Weber, und der soll nachher mit der Maschin' arbeiten ...«

»Zieht zu uns herüber«, rät sie hastig. »Vielleicht findest mehr Arbeit.«

»In Euer Inhäusel?«

»Da können wir keinen Weber brauchen, wir müssen Leut' zur Arbeit haben; aber da und dort hat einer ein leer stehendes Häusel, weil sich heutzutag' keins mehr halten will auf den Höhen, wo alles weit und schwer hinzubringen ist. Brauchst gerad' einmal umzufragen.«

»Ist eh' der Geldweber herüben«, wendet der ein. »Und heutzutag' gehen bei unsereinem die Geschäfte nimmer so, dass ihrer zwei fett würden in einer Gemeine.«

»Wenn du für die Elle einen Kreuzer weniger nimmst, hast mit einem Zuge dem Nachbar all' seine Kundschaft weggenommen. Ich red' dir selbst ein gutes Wort, wo ich kann, denn solchen Leuten muss eins zu Gefallen tun, was es tun kann ... Siehst! Heut ist unser Bübel begraben worden, sie ist meinem Mann seine Schwester, aber meinst, dass eins von ihnen zur Leich' gangen ist? Das Dirndl haben sie geschickt, das Narrerl. Wirst mich verstehen, was ich sagen will.«

»Ich mein'«, nickt der Weber und lächelt still vor sich hin. »Und es kunnt am End' nicht einmal so weit gefehlt sein, wenn ich Euch folgen tät«, sagt er. »Ich überleg' mir's, und bald wir wieder zusammenkommen, reden wir wieder darüber.«

»Und tracht', dass du ein Zwilchzeug kriegst!«

»Wird schon werden«, verspricht er und geht dem Schönwinkel zu.

Der Talwinkel, der sich von Steinbrunn nordwärts in die Berge hineinschiebt, heißt allgemein der Schönwinkel, und auch die Häuser und Gehöfte, die auf den Hängen herumliegen, rechnet man dazu, während der Abhang des Schüsselsteines der Schönberg heißt.

Der Weber, der im andern Tal drüben daheim ist und allgemein der Hofweber oder der Isidori genannt wird, steigt die Hänge hinan und stapft schnurgerade dem Geldweberhäusel zu.

Der Christoph sitzt schon wieder im Webstuhl und klampert Faden um Faden zum schöngemusterten Leinengewebe und ist im Sinnen und der Arbeit so vertieft, dass er des Zunftgenossen erst gewahr wird, als der sich schon an den Garnbaum gelehnt und zu reden anfängt.

»So ein Zeug verlangt eine Aufmerksamkeit«, grinst der Isidori. »Und wenn einer nicht aufpasst wie ein Haftelmacher, nachher fehlt's gleich um drei, vier Fäden.«

»Na, sel gerad nicht gleich, aber man sinnt und strubelt halt so dahin und schaut nicht um und nicht auf. Bist auch wieder einmal des Weges?«

»Auch ein bissel«, nickt der Isidori. »Bei einer Hochzeit und bei einer Leich' sieht man die Leut' gern, und wo man eins gern sieht, dort muss man hingehen.«

»Bist bei der Leich' gewesen?«

»Freilich ... Um einen Gefallen käm' ich, wenn du mir aushelfen könntest«, legt er nach einer kleinen Pause los.

»Wenn's sein kann, recht gern.«

»Einen Sackzwilch soll ich machen, und in meinem Zeug ist ein Schäften zerrissen und zerfressen. Kunnt'st mir nicht das deine derweil leihen?«

»Für recht lange wohl nicht, aber ein Zeitlein kannst es schon haben ... Mena, geh, hol' es vom Boden herunter.«

Und die Mena holt das Zeig, und der Isidori schaut und sucht nachher eine Weile daran und kann sich nicht recht auskennen, wie die Schäften angefasst sind, wie sie an die Schemmel zu hängen. Der Christoph mag merken, was der Zunftgenosse nicht kennt, und er erläutert es ihm.

»Die zweite und die dritte Schäften sind verwechselt, damit sich einer mit dem Treten leichter tut«, erklärt er. »Die Schäften ziehen der Reihe nach, und treten musst ein-drei, zwei-vier. Verstehst das?«

»Wär' doch nicht schlecht«, grinst der Isidori und legt das Zeug wieder zusammen. »Ich hab' ja noch bei einem alten Meister gelernt. Aber kein Wunder wär's, wenn man es vergessen täte. Kommt einem ja selten mehr eine Arbeit vor, an der man ein bissel strubeln muss. Was besseres Zeug ist, wird schon alles im Kaufladen gekauft. Die Weberei ist ein Handwerk, das am Einschlafen ist. Na, meinetwegen auch! Unsereiner wird sich schon noch durchschlagen damit durchs notige Leben, und einem Buben lässt man es eh' nimmer erlernen. Mir ist schon so.«

»Ist uns auch so«, bestätigt die Mena. »Wir haben den unsern in die Studie gegeben, dass er ein ander Leben kriegt. Es wird uns wohl nicht leicht halten durch soundso viele Jahre, aber wenn es überstanden ist, hat er sein Auskommen, und für uns, mein' ich, ist auch gesorgt in unseren alten Tagen.«

»Sel ist die beste Spekerlation«, lobt der Isidori. »Ich wann mich rühren kunnt', ich wär' auch auf diesem Weg. Alles trachtet heutzutag' vorzu, und auch unsereiner muss sich danach richten. Nur vorzu, vorzu! Fragt einer beim Wettrennen, ob es dem zweiten recht ist, wenn er ihm vorrennt? Kann er fragen, wenn er vorrennen will? So ist's auch im Leben und beim Geschäft. Und da ist es am allerbesten, wenn man den Kindern was erlernen lässt, wo sie keine Fabrik zu fürchten haben ...«

Und so reden und schwatzen sie, bis in den Winkeln und Ecken der Stube die Schatten sich ansiedeln und die mahnende Nacht verkünden.

Da sagt der Isidori »Gute Nacht!« nimmt das Zwilchzeug unter den Arm und geht. Langsam und gemütlich stapft er die Trift hinan, um über die Schönberger Einsattelung ins andere Tal hinüber zu gehen, und in währendem Gehen sinnt er, welche Vor- und Nachteile eine Übersiedlung in den Schönwinkel wohl haben könnte. So viel Arbeit dürfte es herüber auch geben für ihn wie drüben, und am Ende blieb ihm die Kundschaft von drüben treu, wenn er nicht zu weit hinunterzöge gen Tal. Einen Kreuzer weniger an Weberlohn nehmen, hat die Schönbergerin gemeint, und derselbe Rat könnt' nicht so uneben sein. machen es die Kaufleut' auch so und verkaufen und gewinnen mehr, als wenn sie mehr Nutzen verlangten. Auf den Geldweber könnt' er da keine Rücksicht nehmen; jeder muss vorzu trachten. Übrigens kann über die Sache schon noch geredet werden, und zum Überlegen ist auch noch Zeit genug vorhanden. Zu Georgi ziehen die Leut' im Walde um, und bis dahin ist noch ein halbes Jahr.

Ja aber! Wird er mit dem den Wettlauf wagen können? Der Christoph ist ein Weber, der sich überall sehen lassen kann, und er ... kennt sich doch nicht überall so recht und richtig aus. Selbst darf sich einer dies ja gestehen, wenn nur der Kundschaft kein Gedanke daran kommt. Wie denn, wenn er zu Zeiten einmal hinginge und da und dort herumtastete und von ungefähr fragte, bis ihm Bescheid und Antwort geworden? Aber dies müsste noch den Winter über geschehen; wenn er einmal drüben wäre, hörte sich das Fragen hübsch von selbst auf.


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