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19.

Der gesamten Arzneikunde Doktor Georg Fischer bewohnt vorläufig noch den ganzen Oberstock des Waldzeller Wirtshauses, bis das Wohnhaus des Fischergütls so weit umgebaut ist, dass der Doktor, der die »Wittib des Bankhauses Stein« geheiratet, darin »standesgemäß« wohnen und leben kann.

Wenn man Geld und Gut Glück nennen kann, dann hat Georg Fischer ein Mordsglück gemacht, denn Geld steckt im Bankhause Stein in Hülle und Fülle. Und alt ist das Weiberleut auch nicht ... Wenn sich halt oftmals etwas schicken will! Es ist auch manchmal, als wenn es sein und kommen müsste.

Von der Sechsten ab hat sich Fischer zum größten Teile selbst durch die Studienjahre geschlagen. Bis zum Austritte aus dem Gymnasium hat er Nachhilfestunden gegeben und hat sich manchmal mehr, manchmal weniger verdient, und bis ein Jahr vor der Erwerbung des Doktorhutes ist er »Hofmeister« gewesen bei einem Landgerichtsrate, einem Gerichtsbeamten, der solchen Titel geführt. Überlings aber ist der versetzt worden. Was nun gleich wieder?

Ein paar Tage hat er so dahin gezagt und dahin gezweifelt und sein Leid dem Professor Müller geklagt, der so etwas wie ein akademischer Stellenvermittler gewesen. Der Übermut hat den alten Mann auch die akademische Klatschbase genannt, aber ihm damit bitter Unrecht getan; er hat wohl fast von jedem gewusst, einem wie dem andern aber nur das Beste gewollt.

»Mm!« hat es der gemacht. »Der Kaffer hätte übrigens noch in Jahr hier bleiben können; aber es wird auch ohne ihn gehen. Fragen Sie einmal in drei oder vier Tagen nach!«

Und als er nachgefragt, hat der Professor auch schon eine passende Stelle ausgekundschaftet gehabt: Frau Hilde Stein braucht für ihren etwas zärtlichen und verzärtelten Buben einen Hauslehrer. Was will einer vorläufig mehr?

Er hat die Stelle angenommen, hat trotz der misstrauischen Beobachtung von Seiten der Mutter den schwächlichen, durch und durch verhätschelten Buben allmählich abgehärtet und mit der Zeit beider Zuneigung gewonnen. Er ist in kurzer Zeit nicht wie einer der geistigen Tagwerker gehalten worden, den man für seine Arbeit bezahlt und weiter nicht mehr ansieht; er ist wie ein Freund behandelt worden. Frau Hilde Stein hat seit dem Tode Max Steins, ihres seinerzeit aufgenötigten Gatten, sehr zurückgezogen und still gelebt, um den Klatschbasen keine Gelegenheit zu bieten, sich mehr als unumgänglich nötig mit ihr zu beschäftigen, und sie hat häufig den Hauslehrer ihres Buben zu einer kleinen Unterhaltung über den oder jenen Gegenstand gebeten. Als Tochter des Germanisten Paulus Weber hat sie sich einen Wissensschatz angeeignet gehabt, der manchem etwas leichten Doktoranden willkommen sein könnte, und an Unterhaltungsstoff hat es daher nie gemangelt.

Und das ist so geblieben, bis die Zeit der Abreise gekommen und er seinen Abschiedsbesuch gemacht. Die Stunde hat er gefürchtet wie das helle Feuer, aber ihr auszuweichen hat er schicklich nicht vermocht. Brauch und Sitte zwingen den Menschen öfters zu etwas, was er nicht gern tut.

Er hat dem Kleinen die Hand gereicht, ihm noch veschiedene Lehren gegeben und dann »Behüt' Gott!« gesagt zu ihm. Der Bub hat ihn mit weit aufgerissenen Augen ganz erschrocken angesehen. »Ja, warum gehen Sie denn fort von uns?« hat er herausgestoßen, und die hellen Zähren sind ihm über die Wangen herniedergekollert.

»Es muss sein. Deine Mama wird dir's schon erklären. Ich ... ich habe keine Zeit mehr dazu.«

Frau Hilde ist in der Fensternische gesessen, und in ihrem Gesichte hat es gezuckt und gerissen, als er vor sie hingetreten und mit schlichten, sichtlich erzwungenen Worten für jede Guttat gedankt, die ihm in diesem Hause geworden. Und zum Schlusse hat er um ein freundliches Andenken gebeten, wie es der Brauch ist. Wie ihm dabei zumute gewesen, kann er sich heute nicht einmal mehr annähernd vorstellen, wie es gezwickt und gestochen hat im Brustkasten drinnen. Und nur das eine hat ihn damals und lange Zeit schon vorher halbwegs zu trösten vermocht, dass er möglicherweise nicht der einzige ist, der eine stille, geheime und mit keiner Silbe verratene Liebe mit hinausnimmt ins öde Philistertum. Wäre sie nicht die steinreiche Wittib gewesen, er hätte vielleicht eine andere Rede gefunden als diese förmliche und abgenützte Abschiedsphrase.

Aber sie hat es nicht vermocht, so zu sein, wie er sich gegeben mit aller Mühe.

Hastig hat sie mit beiden Händen nach seiner zum Abschiede gebotenen Rechten gegriffen und sie krampfhaft umklammert. »Fischer!« hat sie unter stürzenden Tränen herausgestoßen, »Fischer, so können Sie nicht von mir gehen, so dürfen Sie nicht gehen. Haben Sie kein ander Wort für mich? Darf mir die Sonne nimmer scheinen zum Tage, zum Glücke? ... Tag um Tag habe ich geworben um Ihre Liebe, still und innig; Sie müssen es bemerkt haben. Tag um Tag habe ich mir vorgenommen, Gewissheit zu erlangen darüber, ob das langersehnte Glück nicht vor meiner Hand flieht wie ein trügerisch Irrlicht; ich habe nie den Mut dazu gefunden und immer auf ein Wort aus Ihrem Munde gewartet wie auf ... ich weiß nicht, wie auf was. Und nun wollen Sie von mir gehen wie ... ein Stockfremdes? ... Ich kann Sie nicht so ziehen lassen«, hat sie dann hell aufgeschrien in ihrer Verzweiflung.

Da hat er den Arm auf ihre Schulter gelegt und ihr ins tränenfeuchte Auge gesehen.

»Hilde, Sie sind mir gut? Sie wähnen nicht, dass ich in Ihnen die Wittib des Bankhauses Stein sehe?«

»Georg!« ...

Und so ist er aus der Universitätsstadt fort mit dem Doktorhute und einer Braut, und kaum ist die vorläufige Wohnung ein weniges hergerichtet gewesen, ist auch gehochzeitet worden. Der Menschen Lebenszeit ist so kurz, und das Glück muss eins fassen, während es daherrollt.

Die Leute in Waldzell haben teils gewundert, was der Mensch da für ein Glück gemacht, teils bewitzelt und teils beneidet, und der Kluiber hat in seiner derben Geradheit ein Sprichwort ins Treffen geführt, das manchmal ganz gut klappen mag: Die dümmsten Bauern kriegen die größten Erdäpfel. Aber was kümmert sich der junge Doktor um die Leute und deren Reden? Er hat nach Neigung geheiratet und so einen guten Fischfang gemacht im Meere des Lebens, dass er so ziemlich im Trockenen sitzt und nicht mehr völlig auf das Unwohlsein der Leute angewiesen ist.

In seinem Bücherschranke stehen die neuesten und teuersten medizinischen Werke, und in seinem Geräteschranke liegen die handsamsten und zweckentsprechendsten Werkzeuge, deren ein Arzt sich bedienen kann. Gehört gerade noch ein bissel Glück dazu, ein paar schöne Erfolge, und – er kann sich nicht mehr wünschen.

Der Anfang lässt sich übrigens nicht so übel an. Zweimal ist er schon nach auswärts geholt worden, und beide Male hat das Glück seine Hand geführt, und einen alten, an Armen und Beinen gelähmten Menschen scheint er mit Hilfe der Elektrizität wieder zusammenzurichten.

Gerade sitzt der wieder am Tische beim schnurrenden Induktor, während sein Sohn auf einem Stuhle daneben wartet und auf ihn achtet, und er, der Doktor, lehnt am Tische, tut von Zeit zu Zeit einen Zug aus seiner Zigarre, schaut den blauen Rauchstreifennach nach und zieht Folgerungen, die sich aus Ursache und Wirkung ergeben oder ergeben sollen.

Da klopft es draußen.

»Herein!«

Ein starker, grobschlächtiger Bursch schiebt sich unbeholfen durch die etwas schmale Türe, wünscht die Tageszeit und stellt sich dann wartend zur Seite: der Gaberl. So geht's oft: Sie sind mitsammen in ein und derselben Klasse gesessen, und der ist heut Doktor, während er ... Ah was! Wird sich dieser Tag' schon noch herausstellen, auf was für einen Ton die Geige eingestimmt ist, ob's ein Bauerntanz wird oder wieder ein Zimmermannsstampfer. Freud' hat er so viel wie gar keine mehr mit der Heiraterei.

»Sie wünschen?« fragt der Doktor.

»Um einen Rat möcht' ich fragen. Ich bin von jemandem geschickt ...«

»Bitte, einstweilen nur Platz zu nehmen, bis dieser Herr hier fertig ist«, nickt ihm der Doktor zu und deutet nach einem Stuhle, aber plötzlich wirft er ihm ein paar forschende Blicke zu, reibt mit den Fingern etwas an der Stirn und wendet sich ihm wieder zu.

»Erlauben: Heißen Sie nicht Seeböck?«

»Ja.« Und ein leichtes Lächeln gleitet über des Gabriels Gesicht. Er kennt ihn also doch noch.

»Gabriel Seeböck?«

»Ja.«

»Nun, das ist wirklich nicht übel!« lacht nun der Doktor auf. »Zwei oder drei Jahre auf fast ein und derselben Schulbank sitzen und einander kaum mehr kennen! So grüß' Dich denn Gott, altes Haus ... Du wirst schon erlauben, dass ich mich wieder in das alte Verhältnis versetzt wähne. Ah was! Doktor hin oder her!« ereifert er sich wider eine Einsprache des Gaberl. »Ein Doktor ist auch nichts weiter als ein Mensch, und ... weißt, alte Kameradschaft, alte Freundestreue! Nicht wahr? ... Darf ich dich vielleicht meiner Frau vorstellen?«

»Aber ...«

»Nun, wie du willst. Sie würde sich jedoch sicher freuen, einen meiner Studiengenossen und noch dazu den angehenden Dichter Seeböck kennen zu lernen. ... Jetzt liest man übrigens gar nichts mehr von dir ... Ach ja, ich stelle dich kurzer Hand und gewaltsam vor«, lacht er dann und greift nach dem Drücker der Tür.

»Sephi!« ruft er hinaus, und bald darauf erscheint ein dienstbarer Geist ... ah, wenn das nicht die Sephi ist, die selbes Mal in der Christnacht erfroren wäre in der Gred des Geldweberhäusels und die ... nicht geschrieben hat, trotzdem sie es versprochen, nachher soll einer gleich Habakuk heißen.

»Fragen Sie mal nach, ob die Frau zu einer Vorstellung Zeit hätte ... für einen Besuch, sagen Sie.«

»Ja.« Im Umwenden ersieht sie den Gaberl und jähe Röte schießt in ihr volles, gesundheitstrotzendes Gesicht. Ihre Augen flammen auf vor sichtlicher Überraschung und Freude wie zwei Sonnwend'feuer, und ihre Hand zittert ein Merkliches, die sie ihm zum Willkommgruße bietet.

»Du bist es, Gaberl? Ist vielleicht bei euch daheim ...?«

»Nein; die Basel ist krank, die Schönbergerin.«

»So? Seid ihr jetzt schon wieder gut?«

»Ihr kennt euch?« wundert der Doktor.

»Wir sind sogar ... so viel wie Ziehgeschwister«, erklärt der Gaberl etwas verlegen.

»Was ich da höre? Also, jetzt melden Sie das Aufgetragene meiner Frau, dann könnt ihr euch unterhalten, bis ich fertig bin.«

Sephi hastet davon, besorgt die aufgetragene Anfrage und kommt mit einem kurzen: »Die gnädige Frau lässt bitten!« zurück.

Trotz der Leutseligkeit der Frau Hilde und der Lotsendienste Fischers ist die Vorstellung und die anschließende Unterhaltung kein Vergnügen. Der Gaberl fühlt sich wie in einem Schraubstocke, und jede Silbe, die er redet, steht unter diesem Einflusse, und schließlich sehen die andern auch ein, dass die ganze Sache eigentlich auf eine Menschenquälerei hinausläuft und machen unter dem Vorwande, dass der Doktor nun wieder nach seinen Patienten sehen müsse, ein Ende.

»Beehren uns Herr Seeböck recht bald wieder mit einem Besuche!« lädt Frau Hilde in herzgewinnender Weise ein und verspricht auch in nächster Zeit einen Gegenbesuch, aber der Gaberl sagt einfach ja und denkt sich: wenn er nur für diesmal wieder draußen stände in der freien Gottesluft!

Im Vorraume wartet die Sephi seiner.

»Jetzt könnt ihr derweil ein bissel plaudern«, lächelt der Doktor und eilt ins Sprechzimmer.

»Wie kommst denn du hierher?« wundert der Gaberl und verwendet keinen Blick von ihrem Gesichte, und was die Jahre her verloschen und verglommen geschienen, lodert mit einem Male wieder hell auf, und der Widerschein davon strahlt aus seinen Augen.

»Mein'! Wie halt eins in der Welt herumgeschleudert wird! Im Gerichtsstädtlein draußen hat es mir nicht recht getaugt, und so bin ich kurz entschlossen in die Hauptstadt fort und hab' gleich einen recht schönen Platz bekommen bei unserer Gnädigen. Damals hat sie eigentlich noch Frau Stein geheißen. Ja, du, der hat einen Zug gemacht! Das größte Bankhaus in der Stadt gehört derweil ihr, bis der Edmund groß ist. Und ... ja, wie geht's denn dir?«

»Mein'! Gemeiniglich nicht so, wie man's haben möcht'.«

»Ins Bosnien hast nicht hinunter müssen?«

»Ja freilich. Verwundet worden. Des Kronwitternen Sepp liegt unten. Hast ihn ja gekannt?«

»Das glaub' ich. Und du auch verwundet? Aber hoffentlich nicht schwer? Man sieht dir auch gar kein Leiden mehr an ... Erfahren hat man aber auch nichts.«

»Man!« rügt er etwas anzüglich. »Wer hat nicht geschrieben? Du.«

»Ja, wenn du keine Adresse schreibst, kann dir eins doch keinen Brief schicken. An Gabriel Seeböck in ... in der Hauptstadt! Glaubst du, dass du den Brief kriegtest?«

»Ich?« sinnt er, und es kommt ihm vor, als könnt' es so sein, wie sie sagt.

»Hast die Zeitung kriegt?«

Derweil verlassen der Alte und sein Bub das Sprechzimmer, und der Doktor ersucht den Gaberl, den beiden etwas behilflich zu sein über die Stiege hinab, und dann ruft er ihn zu sich.

»Also: Wo fehlt's?«

Das und jenes ist ihm gesagt und aufgetragen worden, und so richtet er seine Botschaft aus.

»Ha die Frau die und jene Beschwerden?«

»Nein.«

»Fehlt es am Appetit oder da und da?«

»Da fehlt es überall, hör' ich.«

Eine Zeitlang sinnt und grübelt der Doktor, dann entschließt er sich. »Weißt du was?« sagt er. »Der beste und deutlichste Krankheitsbericht ist nicht das für einen Arzt, was die eigene Untersuchung ist. Die Sache scheint ernst zu sein, und bei mir handelt es sich für den Anfang um ein paar glücklich durchgeführte Behandlungen. Das wirst du wohl selbst verstehen. Ich geh' mit ...«

»Dafür hab' ich keinen Auftrag«, erinnert der Gaberl hastig. »Der Vetter ist übrigens so etwas wie ein Geizkragen.«

»So rechne ich ihm halt nichts«, entschließt sich Doktor Fischer. »Was liegt denn daran, wenn ich einmal einen Gang mache, den ich als Spaziergang rechnen muss? ... Sephi!« ruft er dann wieder.

Die Gerufene kommt wieder daher. »Was wünschen der Herr Doktor?«

»Mach' mir einmal die starken Schuhe zurecht! Ich geh' mit Herrn Seeböck hinüber auf den Schönberg. Und wenn jemand kommen sollte, sagst du, sie möchten in dringenden Fällen abends, sonst aber morgen wieder vorsprechen. ... Und du entschuldigst schon, dass ich dich ein Weilchen warten lassen muss?« wendet er sich im Hinausgehen der Form halber an den ehemaligen Schulkameraden.

»Grüß' mir alle recht herzlich!« trägt die Sephi auf. »Ich komm' übrigens selbst einmal wieder hinüber zu euch. Ja ... was mir gerad' einfällt: Was heiratet denn der Jakoberl für eine?«

»Der Jakoberl?« fragt der Gaberl ganz verwundert. »Mit der Red' überfragst mich haushoch.«

»Dieser Tag' hat's einer erzählt beim Wirt unten, dass er in Steinbrunn in der Kirchen gewesen wär' und einer, der Seeböck heißt, verkündet worden sei. Der Lipp ist doch gestorben?«

»Sel ... bin ich«, drückt er hart und mühsam heraus. »Ist aber ... das erste und letzte Mal gewesen ... weißt, ich mag nimmer weiter ...«

»Du?« Schier wie ein Aufschrei entringt sich diese Frage ihrer Brust, und ihr Gesicht überzieht für einen Augenblick fahle Blässe, um gleich darauf sich dunkelrot zu färben. »Ich hab's nicht anders glauben können. Was ... heiratest denn für eine?«

»Ich mag nimmer«, brummt er mehr für sich als für jemand andern hin. »Und gerad' einmal nimmer ... Ja, was es für eine wär'? Die junge Zäunerwittib ...«

»Sephi!«

Mit einem Rucke springt sie auf und davon, und er schaut so verschämt und verlegen vor sich hin wie ein Schulbub, der auf einer großartigen Lügnerei ertappt und überführt worden ... Nein, jetzt gerad' nimmer, ist's jetzt so oder so, ist's wahr, was der alte Zäuner gesagt, oder ist's nicht wahr.

Weiter kommt er nicht mit seinem Sinnen, denn der Gedanke dreht sich beständig um sich selbst wie ein nach seinem Schwänzchen haschendes Hündlein.

Dann kommt Doktor Fischer, und sie gehen.

»Du kennst ja mein Vaterhaus«, redet Doktor Fischer, da ihm gerade der Blick hinübergeglitten.

»Nein.«

»Schau, dort drüben! Siehst du es? Bis zum Herbste soll's niemand mehr erkennen. Die Schwestern sind ausgeheiratet, und der Bruder ist voriges Jahr gestorben, so muss es natürlich ich übernehmen. Und ich lasse mir's zusammenbauen, wie es für mich taugt ... A porpos! Hättest du keine Lust, die Zimmermannsarbeiten zu übernehmen?«

»Ich bin nur Geselle.«

»Nur Geselle? Mensch, ja, sind denn zum Zimmermannsgesellen zwei oder drei Realgymnasialklassen notwendig? Kannst du es nicht zum Meister bringen?«

»Können! Ich mein' ich nehm' mich noch darum an. Ich müsst' halt vier Winter die Werkmeisterschule mitmachen. Weiter wär' ja nichts daran, aber ... jetzt bin ich fast vierundzwanzig Jahre alt, und so ein alter Pelz soll sich unter das junge Gebursch' auf die Schulbank setzen? ... Ein Gelump' ist's, sag' ich dir, ein Gelump', wo ich es erwisch' und anfasse. Ich muss mich doch noch hinter einen landfremden Meister stecken und so das Gesetz umgehen oder ... die Wittib ...«

»Na?« forscht der Doktor, als der Gaberl plötzlich stockt. »Was ist's mit der Wittib?«

»Heiraten sollt' ich eine; bin schon einmal aufgeboten mit ihr, aber ... mir scheint, ich mag nicht. Gerad' tu' ich es nimmer«, stößt er dann heraus.

Der Doktor bleibt stehen vor ihm und sieht ihm so ins Gesicht, als forschte und suchte er nach dem Grunde einer Krankheit.

»Darf ich deinem Erinnern ein bisschen zu Hilfe kommen?« fragt er dann in seiner ausgesucht höflichen Weise.

»So viel du willst. Warum aber? Auf was soll ich mich erinnern?«

»Also merk' auf, ich werde dir ein Märlein erzählen ... Es war einmal ein Studentlein, das hat einer geärgert, weil er ihm Bettelei vorgehalten. Am Ufer eines Flusses ist's gewesen, der den Studentlein vorgekommen wie der größte Strom. Und ein paar Tag' nachher haben sich Ärger und Bitternis gelegt gehabt im kleinen Herzen des Studentleins, und es hat seinem Kameraden anvertraut, was es sich vorgenommen: Etwas recht Großes will es werden, und nicht früher ruhen und rasten ...«

»Hör' auf!« fällt ihm der Gaberl in die Rede. »Wenn alles so würd', wie sich's ein ... Kind zusammenreimt! Wie wenn einer einen ungebärdigen Schlitten zieht. Er will geradeaus oder nach rechts lenken, und der Schlitten geht nach links oder fällt ganz und gar um.«

»Gerade in deiner Lage und in deinen Verhältnissen hätte es eines festen, unbeugsamen Willens bedurft, um dich durchzuringen ...«

»Redest halt auch!« braust der Gaberl ärgerlich auf. »Da kann einer den Willen haben oder nicht haben, wenn es so ist, wie es bei mir gewesen, im selben Geleis' muss einer fort, wenn er nicht ein noch ärgeres erwischt.« Und er fängt an, ihm alles zu erzählen, was er die Jahre her gesonnen, gestrebt und versucht, was alles an Erfolgen sich eingestellt und was an Enttäuschungen und Misserfolgen, und eine Bitterkeit überkommt ihn dabei, da er so das erste Mal in seinem Leben gleichsam einen Buchabschluss macht: Soundso viel kommt da heraus, soundso viel dort, und soundso viel sind Passiven, die ... mit der Zäunerwittib gedeckt werden könnten.

»So geht's, wenn einer schier jeden Tag raufen und streiten muss mit dem Schicksal«, schließt er dann. »So einer hat natürlich leicht zu reden, der seine Lehrjahre auf der Schulbank absitzen kann und gleich fix und fertig als dies oder jenes ins Leben herausgeworfen wird ... Magst noch was sagen von einem festen, unbeugsamen Willen?«

»Ich gebe mich schuldig«, gesteht Doktor Fischer ernst und nachdenklich. »Ich habe es wohl nicht ganz so gemeint, wie du es auffassen magst, aber es soll eben einer nicht urteln, ehe er nicht auch alle Gründe kennt. Verleitet hat mich deine jetzige Unentschlossenheit zu dem Ausspruche.«

»Unentschlossenheit! Ja du mein'! Sag' mir du, wohin ich mich wenden soll und wo es besser ist für mich: rechts oder links!«

»Was kann da ein anderer raten? Warum willst du übrigens die Wittib nicht heiraten, trotzdem du schon aufgeboten bist mit ihr, wie du sagst? Schau', ich hab' meine Frau auch als Wittib geheiratet und ... bin jetzt der glücklichste Mensch.«

»Du hast halt ... eine Freud' mit ihr ...«

»Selbstverständlich. Du ... nicht?«

»Los': Weil wir schon so weit reden mitsammen, sag' und gesteh' ich dir alles. Mich freut's, dass du mir gegenüber noch der Alte bist und sein willst, der du als Student gewesen, trotzdem heut' ein himmlischer Unterschied ist zwischen uns ...«

»Sei so freundlich, und lass diese Tonart fallen!«

»Ist ja nicht anders, und sel freut mich aufrichtig, und deswegen vertrau' ich dir alles an, was mich drückt ... Die Sephi, die heut' bei dir als Dienstmädel ist oder als sonst was, die hat meine Vater einmal in einer Christnacht halb erfroren zusammengeklaubt auf unserer Gred und sie nachher im Haus behalten, bis ... sie die Not wieder vertrieben. Und nachher ist einmal eine Zeit gewesen, wo ... wir eins das andere recht gern gesehen haben, und eh' ich eingerückt bin, haben wir uns dies und das versprochen, wie das schon zwei solche Leut' tun, und es ist wieder ein Vergessen dazwischen gekommen, weil sie mir nicht geschrieben hat. Heut' sagt sie, dass ich ihr keine Adresse bekanntgegeben hätt', und es kann schon sein ...«

»Alte Lieb' ...«

»Kann eh' sein. Und da hast es halt so. Und noch dazu hab' ich vernommen, dass was im Spiele sein sollt', als wenn die ganze Heiraterei so eine abgekartete Sach' sein sollt' und ich verhandelt würde wie ... sagen wir ein Rindl Vieh. Was sagst dazu?«

»Was kann ich sagen und raten? Über das musst du dir selber hinweghelfen, so klug bist du schon selbst. Aber das eine möcht' ich dir noch sagen, dass ... nach dem, was ich von dir gelesen, Sünd' und Schade ist für dein Talent, wenn du es nicht nützest und verrosten und verkommen lässt.«

»Hm!« macht es der Gaberl und schupft die Schultern. »Wenn ich mir nicht jede Stund' dieses notigen Lebens erarbeiten müsst', nachher versuchet' ich's halt einmal, gerad' dass ich's sähe, ob ich zu halbwegs einem Ziel käm' oder nicht.«

»So heirate – sagen wir geradeweg – diesen Bauernhof samt der dazugehörigen Wittib. Primo vivere deinde etwas anderes. Du müsstest dir halt dann für ein verfehltes Leben vollen Ersatz in der Kunst suchen.«

»Hm!« macht es der Gaberl wieder, und je länger die Sache erörtert wird, und von je mehr Seiten man die Lage betrachtet, desto unschlüssiger wird er.

Über lauter Reden und Raten kommen sie in den Schönwinkel hinüber und in die Schönberger Höhe hinauf, und in der Boint oben bleibt Doktor Fischer stehen und betrachtet sich die Gegend, die sich vor ihnen dehnt und breitet.

»Hier bist du daheim?« fragt er.

»Ja, in dem Häusel dort. In dem Hofe oben ist die kranke ... Base.«

»Weißt du aber auch, dass diese Höhe ein wunderbares Örtel ist? Ein schönes, trauliches Häuschen hier haben, sinnend und träumend hinüberzuschauen bis zum Rande dieses prächtigen Landschaftsbildes und dann auf dem Rücken des Flügelrosses dahinschweben in die sonnigen Gefilde des Idealismus oder wie diese Gegend sonst heißen mag. Meinst du nicht auch?«

»Meinen! Wenn ich an ein Königreich im Monde denke, gilt's dieselbe Münze.«

»Na! Vielleicht reden wir noch einmal darüber ... Komm' einmal hinüber und sei zumindest einen Tag über mein Gast! Wir können dann über Verschiedenes in aller Gemütsruhe reden und schwatzen.«

»Kann sein«, verspricht der Gaberl, denkt sich aber, dass er solcher Einladung kaum nachkommen dürfte.

Ein kurzer Händedruck, ein herzliches Grüßen, und einer geht rechts, der andere links, der Gaberl seinem Vaterhause und der Doktor dem Schönbergerhofe zu.

Den Lipp geht nicht geringer Ärger an, als er einen ankommen sieht, der dieser Doktor sein könnte dem Aussehen nach. Er hat ihm noch eigens aufgetragen, den Doktor nicht zu bringen, sondern nur einen Rat, und jetzt hetzt er ihn richtig daher. O, das sind falsche, schadenstiftende Leut'!

Natürlich ist er's. Hätt' er nicht selbt hinübergehen können?

»Grüß Gott!« nickt Doktor Fischer schon von Weitem. »Merkwürdig, dass wir uns nur dann sehen, wenn ...wenn etwas nicht ganz in Ordnung ist.«

»Na, so schlimm ist's nicht«, brummt der Lipp verlegen. »Ich hab's dem ... Lackel ausdrücklich gesagt, er soll Euch nicht herübersprengen, weil's am End' nicht einmal dafür steht, aber was merkt so ein Kund' aufs Reden, und wie es einen andern ...«

»Er hat seine Botschaft so ausgerichtet«, fällt ihm der Doktor in die Rede. »Da fehlt nichts. Ich bin nämlich aus eigenem Antrieb gegangen, aus alter Freundschaft, wenn Sie wollen, und für so einen Gang rechnet einer nichts«, reicht er gleich als Trost dar, weil er den Grund der Missstimmung ahnen zu können vermeint.

»Ah! Nun ... nein«, lehnt der Lipp nun ab, und sein Gesicht hellt sich merklich auf. »Das verlangt einer nicht. Das kann einer gar nicht verlangen ... Nein, das gehört sich nicht, und ... wenn Ihr halt gar nichts verlangt, so muss Euch halt der Jakoberl heimfahren. ... So geht nur gleich zur Bäuerin! Gerad' was Ihr sagt zu der Krankheit.«

Und sie gehen in die Stube.

Eine Weile sitzt Doktor Fischer stumm und still am Krankenlager und hört den sich oft widersprechenden Berichten beider Bauersleute zu, und dann fragt er selbst, was er zu wissen nötig hat. Ein schwerer Fall von Vergiftung liegt vor, und es ist ein Glück, dass sich der Magen selbst des meisten Giftstoffes entledigt. Er rät sogar mit einiger Bestimmtheit, dass eine Vergiftung mit Arsenik vorliege.«

Ja, wie aber? Wer kommt zu Arsenik, und wie hat es die Bäuerin bekommen? Ein Verdacht beginnt im Kopfe des Doktors aufzudämmern und sich sichtlich breiteren Raum zu erstreiten: Wenn ein Verbrechen vorläge! Es wäre nicht der erste und nicht der letzte Fall, dass solches den Schlussakt bildete einer ländlichen Lebenstragödie. Und seine Pflicht wäre es dann, die Sache zur Anzeige zu bringen.

»Möchten Sie uns nicht ein Weilchen allein lassen?« wendet er sich an den Bauern.

»Was meint Ihr?« fragt der, da er diese höfliche Umschreibung eines kerndeutschen »Geh' hinaus!« nicht recht versteht. »O ja, o ja«, willigt er dann ein, als es ihm deutlicher gesagt wird, und geht eilends hinaus. Er soll sich nur mühen, der Doktor. Wenn er für den Gang nichts verlangt, wird er fürs andere auch nichts begehren.

»Bedrückt Sie nicht etwa häuslicher Kummer?« forscht hierauf Doktor Fischer von Weitem herum.

»Z'wegen was?« gegenfragt die Bäuerin verwundert ob der sonderbaren Frage.

»Ich meine nur so, denn ich möchte und muss alles wissen, was Ihren Gemütszustand beeinflussen könnte. Ärger haben Sie wohl auch keinen, sagen wir, mit Ihrem Manne?«

»Das zählt nicht viel«, meint sie geringschätzig. »Und nachher bin ich das schon gewohnt.«

»Zu Zerwürfnissen kommt es wohl kaum?«

»Niemals.«

Dann springt er wieder auf die Krankheit über, um nach einigen diesbezüglichen Fragen wieder nach irgendeinem Verdacht auszutasten, aber ohne jedweden Erfolg. So fragt er nachher überlings einmal ganz unvermittelt, ob solches Gift wohl im Hause wäre.

»Hyderer (Arsenik)?« fragt die Kranke.

»Ja.«

»Mir scheint nimmer«, bescheidet sie verlegen und etwas zurückhaltend.

»Aber gehabt haben Sie solches.«

»J ... ja. Ein ... paar Russen hab' ich wollen aus dem Haus räumen, aber ... ich bitt' Euch: sagt nichts dazu! Nicht einmal meinem Mann.«

»Und da haben Sie davon unversehens erwischt? Sehen Sie, Frau Seeböck, das kommt von solchen Sachen. Wie leicht hätte da noch größeres Unheil geschehen können? Die ganze Familie hätte draufgehen können. Ich sollt' das eigentlich anzeigen ...«

»Um Gottes willen: Nein!«

»Ich werd' es auch nicht tun. Denn Sie sind ohnehin gestraft genug für die Unvorsichtigkeit.« Und dann gibt er Verhaltensmaßregeln, verspricht eine wirksame Arznei und tröstet, so viel er kann. Aber dem Lipp vertraut er vor der Abfahrt noch, dass die Bäuerin kaum mehr so werden würde, wie sie bislang gewesen.

Die sinnt und ohrt indes langmächtig dahin, wie denn dies habe geschehen können, und als die Kleindirn einmal in die Stube kommt, fragt sie, ob sie die dem Ähnl zugedachten und geschickten roten Eier auch wirklich ins Leibtumstübel getragen.

»Freilch«, versichert das Dirndl. »Gleich wie Ihr sie mir gegeben, hab' ich sie hinübertragen, aber der Ähnl hat sie nicht genommen ...«

»Nicht genommen?« schreit die Bäuerin schier entsetzt auf.

»Nein, er hat gesagt, er hat selbst genug. So hab' ich sie wieder herübergetragen, und weil Ihr gerade in der Stube gewesen seid, zu den andern gelegt, wo ihr sie weggenommen.«

»So!« Und ein Schütteln überkommt ihren ganzen Körper wie heftiger Fieberfrost. Nicht schlecht! So fein hat sie die Sache ausgetüftelt und ausgesponnen, um sich schließlich selbst im eigenen Garn zu fangen und zu verwirren. Dem Alten wär' das eine Ei vermeint gewesen, und dann hätt' man sagen können, ein paar Tag' vorher hat man ihm das Geld für die ... die Mena gegeben, und wo es hingeraten, wüsste man nicht und könnt' es nicht wissen, und derweil geht's so.

In ihrer Brust beginnt es zu reißen und zu stechen, ihr Kopf droht zu zerspringen, Zorn, Reue, Angst und dies und jenes tun sich zusammen zur schrecklichen Folterqual, und dazwischen durch schleicht sich ungedenks einmal wie eine abscheuliche, giftige Natter ein seltsamer Gedanke: Wer andern eine Grube gräbt ...


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