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13.

Der Mediziner Georg Fischer sitzt in seinem Zimmerchen, »auf seiner Bude«, wie die Studenten sagen, und studiert in einem Buche, das er sich gestern aus der Universitätsbibliothek geholt.

Es ist ein enger, düsterer Raum, dieses Zimmerchen, und an Hausrat darin ist es auch nicht überladen. Ein Tisch, zwei altmodische, wackelige Sessel, ein Kasten, eine Bettstatt und ein Koffer, das ist so ziemlich, was es enthält, aber für einen anspruchslosen, bescheidenen Menschen, wie Fischer einer ist, reicht es vollkommen. Ein Mehr wäre der größte Überfluss, zumal er hübsch knapp leben muss, um mit dem Ertrage seiner Hofmeisterstelle bei der Bankierswitwe Stein ohne Defizit drauszukommen. Von seinem »Alten« hat er nichts mehr zu verhoffen, da sich dieser ohnehin schon tief über die Ohren in Schulden geritten, um ihn so weit auszuhalten, bis er sich selbst fortbringen und durch die Studienzeit durchfristen kann.

Da fängt die Stiege draußen zu knarren und zu ächzen an, und feste Tritte mischen sich darein, und bald nachher fliegt die Tür sprerrangelweit auf, und zwei Studenten treten ein.

»Na natürlich!« lacht der eine, ein kurzer, dicklicher Junge mit rundem Apfelgesichte, über das sich zwei Narben ziehen: der dicke Edi, wie er allgemein genannt wird. »Er kümmelt! Er kümmelt! Als ob einer zu sonst gar nichts auf der Welt wäre und das trockene Philistertum nicht noch früh genug anrückte!«

»Soll ich mich müßig hersetzen und mich langweilen?« entschuldigt sich Fischer gewissermaßen. »Übrigens will ich auch zur Zeit fertig sein.«

»Ah, bah!« macht es der andere, ein hochaufgeschossener Bursch mit lichtbraunem Bartanfluge: des Schönbergers Philipp. »Wir werden ein jeder fertig. Man ist am Ende froh, wenn man uns hinausbringt. Was kann den Leuten daran liegen, ob man den oder jenen Brocken ihrer Gelahrtheit behalten oder nicht? ...«

»Hast du Zeit?« fragt der dicke Edi geradeweg.

»Warum?«

»Wir gehen erst ein bissel in den Park, und dann verkriechen wir uns in unsere Bude. Bist du dabei? Übrigens habe ich meine begründete Ursache, in potu ein paar vernünftige Gedanken zu sammeln. Denke dir nur das scheußliche Pech: der lange Achim braucht Geld.«

»Was kümmert das mich?« meint Fischer und schnallt eine andere Krawatte um.

»Aber mich!« schreit der Dicke.

»Stehst du auf seinem Sündenregister?«

»Und wie! Aber so ein Schwindel ist einfach ... einfach unter jeder Kritik. Stehlen ist verboten, Falschmünzerei auch, ein Raubanfall ebenfalls und ... solche Schweinerei ist erlaubt.«

»Beträgt es vielleicht ... viel?«

»Es langt. Ein paar Gulden sind's weniger als dreitausend, und bekommen werde ich so um ... zwölfhundert herum haben.«

»Dann brauchst du auch nicht mehr zu zahlen ...«

»Meinst du?« lacht der Dicke spöttisch auf. »Er hat es schwarz auf weiß, und ich kann ihn im Grunde gar nicht fassen. Das ist eben noch das scheußlichste; er hat meine Unterschrift echt und rechtsgültig.«

»Und die gibst du, ein angehender Jurist?«

»Ja, leider Gottes bin ich es. Ein Esel bin ich auch noch dazu, wenn du willst, ein Esel zum Quadrat erhoben. Aber ... komm'! Mich dürstet. Das Gejammer nutzt nichts: ich werde meine Handschrift nehmen und dem Alten ein umfassendes Sündenbekenntnis ablegen müssen: pater peccavi.«

»Es wird am besten sein«, rät auch Philipp Seeböck, und dann gehen sie. Durch das Gehaste in den Gassen und Straßen schlendern sie gemächlich dahin und reden, plaudern und lachen, und über die breiten, gelbsandigen Pfade der Parkanlagen schlendern sie gerade so nachlässig und gemächlich dahin. Sie haben Zeit, was vielleicht nicht jeder von sich sagen kann.

Plötzlich bleibt Fischer stehen und langt in seine Joppentasche. »Weil es mir gerade einfällt«, sagt er. »Könnt ihr euch noch des andern Seeböck erinnern?«

»Welcher ... Seeböck?« sinnt der Dicke.

»Ja, du bist gar nicht mit uns am Realgymnasium in Dingsda gewesen. Nein, du kommst bei der Frage vollständig außer Betracht.«

»Was ist' mit dem?« fragt Philipp Seeböck eigentümlich beklommen und verlegen.

»Der ist unter die Dichter gegangen. Gabriel Seeböck! Nun ja; das klappt doch. Ihr seid ja, wie ich mich erinnern kann, Geschwisterkinder und Nachbarn: Was ist denn sonst aus ihm geworden?«

»Was wird denn aus ihm werden?« gegenfragt Philipp Seeböck geringschätzig. »Zimmermann ist er und, mir scheint, jetzt beim Militär. Das war ja vorauszusehen, dass er auf dieser Bahn früher oder später entgleisen musste. Wo nähme sein Alter auch das nötige Moos her?«

»Schade um so einen Burschen, wenn er nicht ein so kräftiges Talent besitzt, es unter allen Umständen zur Geltung zu bringen.«

»Na«, zweifelt Philipp Seeböck. »Zimmermann und – Dichter!«

»Bah! Zar und Zimmermann!« erinnert der Dicke.

»Der Anfang ist versprechend«, behauptet Fischer und breitet einen Zeitungsausschnitt auf der Decke seines Merkbüchels aus. »Da leset selbst und urteilt!«

 

Am Scheidewege

Zwei Pfade zieh'n, der eine hart beim andern,
Sich hin durch blum'ges, maiengrünes Land.
Zwei Menschenkinder einsam darauf wandern
Und eines drückt beglückt des andern Hand.
Es kommt die Nacht, des Tages Schein verblasset,
Erschreckt steh'n beide still, und Angst erfasset
Des einen wie des andern Herz. Es biegen
Die Pfade jählings ab. Ein dunkler Schleier
Verhüllet Ziel und Zug. Wohin nun wenden?
Wo führt der Pfad jetzt hin? Wie wird das enden?
Wird's wieder hell? Die Brust von Sorgen freier?
Was mag im Schoß der Zeit verborgen liegen?

Es heißt nun auseinandergeh'n und scheiden,
Und eine Frage nur ums Herz die Runde macht:
Ob wohl die Pfade jemals sich vereinen,
Ob sie sich weitab zieh'n durch ew'ge Nacht?

»Blutige Dilettantenarbeit«, urteilt Philipp Seeböck. »Zimmermannsarbeit.«

»Na, erlaube mal!« gegenredet Fischer eifrig. »Das Poem hat wohl seine Schwächen, die man ohne viel Suchen herausfindet, aber der Anfang ist vielversprechend. Bekanntlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und auch kein Poet ist mit einem Satze auf dem Parnass gestanden. Ein Talent sucht sich da Bahn zu brechen und geht gleich kurzerhand seiner eigenen Wege. Das ist meine Meinung, und ich bin wirklich neugierig, ob es sich zur vollen Geltung zu bringen vermag.«

»Talent steckt hinter dem Gedicht«, gibt auch der dicke Edi zu. »Aber so viel ich herausfinde, hat der Mann viel mehr Anlage zum Prosaiker, denn zum Lyriker. Der Gedankengang ist gut, aber des ledigen Reimes wegen muss er öfter einige unkommentmäßige Bewegungen machen. Eine zweite Arbeit würde wohl einen sicheren Schluss ermöglichen.«

Zwei junge Marssöhne hasten im Paradeschritt den Pfad daher, der eine stramm und steif wie ein Bergstock, die Nase und die glimmende Virginierzigarre hübsch hoch getragen, der andere mit eingedrücktem Brustkasten und vorgeneigtem Kopfe, fast einem im Paradeschritt daher stapfenden Fragezeichen ähnlich. Im Vorbeigehen streift der Stramme ziemlich unsanft an den Arm Philipp Seeböcks, so dass dieser einen halben Schritt zur Seite gerannt wird. Ob dies mit Absicht geschehen oder zufällig, lässt sich im Augenblicke nicht gut entscheiden, aber Seeböck reicht es zu einer Unmutsäußerung.

»Frecher Junge!« brummt er, und einige Augenblicke nachher wendet sich der Stramme kurz um und kommt zurück.

»Namen!« fordert er kurzweg und reicht gleichzeitig eine Namenskarte dar: Hans von Schildberg.

»Jurist Philipp Seeböck«, sagt Seeböck kurz und kühl. »Ich stehe zur Verfügung.«

Ein kühler, kurzer Gruß, und die Sache ist vorläufig erledigt.

»Eine Dummheit!« tadelt Fischer, als er das Merkbüchel wieder einsteckt. »Sich herumbalgen wie zwei kleine, unvernünftige Jungen, nur nicht so harmlos.«

»Den Kerl hau' ich zu Krenfleisch zusammen«, brüstet sich Seeböck. »Und wenn er wieder einmal seine Einjährigenkluft ausgezogen, dann kriegt er mir ein paar Schellen, dass er nimmer weiß, heißt er Hans von Schildberg oder Hans von Tappheim.«

»Ich bin dein Sekundant«, erbietet sich der dicke Edi. »Und liniert sollen die Seehunde werden, dass man Noten in ihr Gesicht schreiben könnte. Aber jetzt auf die Bude! Dieser casus muss begossen werden.«

Sie kehren um und gehen in die Kneipe der Markomannen, und der Dicke summt vergnüglich ein Studentenliedel vor sich hin.

Lieber als des Hofrat Lehren,
War mir stets der Schläger Klang.
Wer wird eitle Worte hören,
Den der Burschengeist durchdrang?
Wer wird in Kollegien schwitzen,
Wem empört's nicht die Natur,
Wenn die blanken Schläger blitzen,
Wenn begrenzt ist die Mensur?

Fast im Mittelpunkte der Stadt ist die Kneipe der Burschenschaft Markomannia. Bilder, Wappen und Farbenschilde schmücken die rauchdunklen Wände, eine lange Tafel reicht von einem Ende des Zimmers zum andern, und an dem Ende schließen sich Quertafeln an.

Es ist ein anheimelndes Gelass und himmelhoch verschieden von den Gaststuben der großen »Hotels«, wo die Langeweile und Ungemütlichkeit aus jedem Winkel und hinter jedem der mehr oder minder reichlich angebrachten Zieraten lugen. Aber freilich: Eine Burschenschaft richtet sich ihr Heim ein nach eigenem Geschmacke und lässt der Ungemütlichkeit keinen Platz darinnen.

Schon im Hausflur tönt ihnen ein voller Chor entgegen.

»So Mut und Kraft in deutscher Seele flammen,
Fehlt nie das blanke Schwert beim Becherklang.
Wir stehen fest und halten treu zusammen,
Und rufen's laut in feurigem Gesang:
Ob Fels und Eichen splittern,
Wir werden nicht erzittern,
Den Jüngling reißt es fort mit Sturmesweh'n
Für Schwarz-rot-gold in Kampf und Tod zu gehn.«

Ist ein Lied, das in harter, ernster Zeit entstanden sein mag und dem auch heute noch Befolgung gebührte. Aber ... andre Zeit, andre Leut', trotz derselben Lieder. Wie mancher mag das Lied hinausschreien nach Kräften, der ein paar Jährlein nachher vor jedem Stirnrunzeln des Prinzipals erschauert, der sich unaufhaltsam Bahn kriecht nach vorn und oben zu einem Amte oder zu einem höheren Amte und der schließlich alle möglichen Farbenverbindungen, schwarz-rot-gold und alles vergisst, wenn sein Knopfloch Sehnsucht nach einem farbigen Bändchen trägt oder solche Sehnsucht gar schon gestillt ist.

Sie treten ein.

Der Dicke ist ob seines so ziemlich allweg sprudelnden Witzes und seiner »Unverwüstlichkeit« eine sehr beliebte Persönlichkeit im Kreise der Markomannen, und als sich sein rundes Gesicht im Rahmen der Türe zeigt, hallen ihm schon Lachen und Zurufe entgegen, die den beiden anderen nicht gelten. Philipp Seeböck ist etwas hochfahrender, anmaßender und rechthaberischer Natur und Fischer zumeist zu ernst und haushälterisch für das durchschnittliche Gehaben und Gebaren der allweg übermütigen Gesellen.

»Wieder einmal eine Abwechslung«, berichtet nach kurzer Begrüßung der Dicke vergnüglich. »Diesmal gewürzt. Seeböck hat das Vergnügen, den ›Schildbürger‹ in die Pfanne zu hauen ...«

»Der ist ja doch zur Zeit Einjähriger«, wendet einer ein.

»Nun ja: das ist ja die Würze«, erklärt der Dicke. »Ich bin schon Seeböcks Sekundant ... Ft! Ft!« ahmt er das Schwirren der Schlägerklingen vergnüglich nach.

»Prost!« rufen einige und heben ihre Gläser. »Den Spaß müssen wir uns mit ansehen.«

»Jetzt heißt's die Zeit nützen und dich gehörig einpauken«, raten andere. »Ein Markomanne muss einen guten Hieb führen.«

So redet man hin und her, bis Spaß und Scherz endlich die Überhand erringen und den Zwischenfall in den Hintergrund drängen.

Am andern Tage aber finden sich zwei als Einjährig-Freiwillige dienende Techniker bei Philipp Seeböck ein und ersuchen um Nennung seiner Zeugen in Angelegenheit dieses »Ehren«-handels, um mit denen das Weitere vereinbaren zu können. Ein leichtes Unbehagen schleicht bei dieser Wendung um Seeböcks Sinnen, aber in aller Gemütsruhe nennt er den dicken Edi und – Fischer, nein, der ist hierzu nicht gut zu gebrauchen – einen gewissen Karl Schulze.

Die Sache scheint sich etwas dumm entwickeln zu wollen, das findet auch der dicke Edi, aber sie lässt sich nun einmal nicht anders beilegen. Eine Mensur wäre ein Hauptspaß, aber eine Forderung auf Säbel bis zur Kampfunfähigkeit ist – gelinde gesagt – ein Unsinn. Ein Burschenschafter darf überhaupt nicht auskneifen und ein Markomanne schon gar nicht, und noch dazu ist Seeböck seit einem Jahre Reserveleutnant. Er muss halt gehörig eingepaukt werden, und so ein Bürschchen wie den von Schildberg haut einer leicht in Stücke.

Ist halt einmal so: Ein Gerauf will manch' einer haben. Der Raufbold in der Dorfschenke muss sein Gerauf haben, und wenn es sich nicht fügen will, fordert er den Unfrieden gewaltsam heraus, und der Raufbold in Couleur, in Uniform oder im Spitzfrack bringt dasselbe auf seine Weise zustande, nur dass man »zivilisierter« Weise und von wegen der höheren Bildung die Ehre vorschützt. Und Ehre? Du mein'! Was wird darunter nicht alles gemeint? Und wenn es sich wirklich um richtige Ehre handeln sollte, ist diese wieder hergestellt, wenn der Beleidiger den Beleidigten durchwalkt oder gar aus der Welt schafft, oder wenn gegebenenfalls der Beleidigte seine »Ehre« mit einem Morde erkauft? ... Gerauft wird zum Schluss in der Dorfschenke und unter »gebildeten« Leuten, nur dass man in der Dorfschenke keine Sekundanten und keine Raufregeln braucht und dem Gegner selten vorsätzlich nach dem Leben trachtet. Aber das ist ein ganz gemeines Geraufe, über das gebildete Leute die Nase rümpfen. Der Unterschied aber? ... In der Dorfschenke gibt es raufende Christen und unter den gebildeten Leuten ebenfalls, für alle aber gälte das Gebot: Du sollst nicht töten! Und dies schließt auch die Forderung mit ein: Du sollst nicht raufen!

Aber trotzdem wird gerauft.

*

Zum Schönberger kommt eines Tages ein Bote aus Steinbrunn und überbringt gegen Bestätigung und Unterschrift eine Drahtnachricht.

»Philipp im Duell schwer verwundet. Sofort kommen! Fischer.«

Der Lipp starrt den Zettel eine Weile an und sein Weib ebenfalls, aber keins kann sich recht auskennen daran. Wo ist der Bub verwundet? Kommt er sofort oder sollen sie eins kommen? Fischer! Nun, das wär' am End' des Fischers von Waldzell Bub; aber was soll es mit dem sein?

Erst der Jakoberl vermag das Dunkel des Zettels zu lüften. Der Fischer hat den Zettel geschrieben, dass der Philipp schwer verwundet ist, und ein Duell ist's, wenn Herrenleut durcheinander raufen.

So? Gerauft hat er? Na, da muss schon gleich eins in die Stadt und muss nachsehen. Eins! Wenn der Lipp in so einem Falle fährt, ist's nicht viel anders, als wenn gar keines führe, und sie kennt sich in der Stadt nicht aus, weil sie noch nirgends hingekommen; so richten sich denn all zwei zusammen und fahren in die Stadt.

Der Weg bis ins Städtchen deucht sie schon eine Ewigkeit, trotzdem der Jakoberl fährt, was das Zeug hält, und die Postfahrt in die Kreisstadt ist noch ärger, zumal der Bäuerin auch die Gegend noch unbekannt ist und sie immer und immer wieder nach der Stadt ausschaut.

»Der Bub! Der Bub!« seufzt sie ein um das andere Mal und krampft die Hände ineinander. »Was braucht er denn zu raufen? Man meinet' doch, er hätt' schon so viel Verstand, dass er sich auf keine solche Torheit einließe.«

»Ob er nicht noch eingesperrt auch wird?« befürchtet der Lipp. »Darf gerad' nur er auch einen andern recht zugedeckt haben! Und er soll Gerichtsherr werden und kostet uns so viel Geld, so viel Geld. Am End' stellen sie ihn nachher nimmer an.«

Von der Kreisstadt aus fährt die Eisenbahn, und so schnell das Fuhrwerk geht, dürft' es für sie noch rascher fahren; sie wollen ja zu ihrem schwer verwundeten Kinde.

Ein paar Mitreisenden klagen sie ihr Leid, aber sie finden keine Teilnahme. Wer kümmert sich auch um fremder Leute Sorg' und Bedrängnis?

Endlich fährt der Zug in einen mächtigen Bahnhof. Alles aussteigen! Sie sind am Ziele ihrer Fahrt. Am Bahnsteige fragen sie einen Bahnbeamten, wo sie ihren Buben finden könnten, aber in so einer Stadt kennt fast ein Mensch den andern nicht. Was weiß der Beamte von ihrem Buben? Ob sie nicht etwa Straße und Nummer der Wohnung wüssten? Das schon: Gärtnerstraße 68. Nun, so sollten sie draußen vor dem Bahnhofe einen Polizisten oder einen Dienstmann fragen oder noch besser einen Einspänner mieten, der sie gleich an Ort und Stelle brächte.

Und so gehen sie hinaus, zwängen sich durch das dort herrschende Menschengemenge zu einem Fuhrwerke und sagen dem Lenker desselben, dass er sie dort und dorthin fahren möchte.

Zwischen langen, turmhohen Häuserreihen geht es nun dahin an rollenden und rassenden Fuhrwerken und hin- und herwogenden Menschenmassen. Alles ist gewandet wie am höchsten Festtage, in den prächtigen Auslagefenstern, an den Häusern und Menschen Prunk und Zier, und ihr Kind ist krank, schwer verwundet! Was mag hinter diesem Prunken und Gleißen noch alles versteckt sein an Not und Elend?

Der Wagen fährt bald rechts, bald links, aber endlich hält er doch stille; der Kutscher fordert seinen Lohn und deutet nach dem Hause, das die Nummer 68 trägt. Also doch einmal an Ort und Stelle!

Im Hause erfragen sie die Wohnung des Buben, aber – der ist im Krankenhause der Universität, sagt die Quartiersfrau.

Wie lange werden sie noch herumsuchen müssen in der fremden Fremde?

Die Frau geht mit und erzählt ihnen in währendem Gehen, was sie von dem Vorfalle weiß. Ein Unsinn wär' es gewesen, aber das sei so der Brauch unter den Studenten. Und hübsch arg und gefährlich sollt' es sein, habe sie sich sagen lassen. Der Zweikampf wäre nicht gerade zu Ungunsten des Buben vor sich gegangen, aber jählings sei der gerutscht und ausgeglitten, und das habe sein Gegner zu einem wuchtigen Hiebe benutzt. Die Schädeldecke wäre durchgehauen, und Leben und Tod hielten sich die Schwebe.

»Du rotgoldenes Jesulein!« jammert die Schönbergerin. »So ein ... so eine Roheit. Bei uns gibt es auch rohe Leut', aber das hört man nicht, dass sie einander gleich mit Säbeln ans Leben gingen.«

»In die Händ' wenn mir der Sakra fällt, hin muss er sein«, nimmt sich der Lipp in seiner Not und seinem Ärger vor. Erschlagen tu ich ihn wie einen wünnigen (wütigen) Hund.«

»Soll ein Offizier sein oder so was Ähnliches«, erklärt und stellt die Quartiersfrau vor.

»So?« schreit der Lipp hellauf. »Und für solche ... solche Kunden müssen wir zahlen? Ich weiß nicht, was ich noch anfang'.«

Endlich finden sie den Buben, aber ... der Tod hat sich kurz vor ihnen am Lager desselben eingefunden und mit Gewalt sein Opfer an sich gerissen, ein junges Menschenleben, das die Torheit der »höheren« Stände ihm als Opfer dargebracht.

*

Vom großen, großen Freithofe der Großstadt führt ein langer Zug von Wagen dem Häusermeer zu. Die Burschenschaft Markomannia ist vollzählig und in voller Wichs ausgerückt, die andern akademischen Vereinigungen haben Vertreter gesandt, der Lehrkörper der Hochschule ist vertreten gewesen, und eine Unzahl neugierigen und müßigen Volkes hat sich dem Zuge angeschlossen, und das alles hat die beiden Schönbergerleut' ein Weniges über die unabänderliche Wirklichkeit hinweggetröstet. Sie müssen ihn alle wohl leiden haben können, sonst wären ihrer nicht so viele zur Leiche gefahren und gegangen. So ein Leutgemenge! Solch' eine Leich' hat im Walde daheim gar keiner; die Wagen und die vielen, vielen Leute! Man hat keinen einzigen Verwandten in der Stadt und – doch!

Georg Fischer hat als Landsmann die Rolle des Führers und Trösters übernommen und fährt auch mit ihnen in demselben Wagen.

»Mein Lippel! Mein armer Bub!« jammert und flennt die Schönbergerin überlings wieder auf, da ihrem Sinnen das bissel Trost zu weichen beginnt. »Hart vor dem Fertigwerden muss er so einen Tod nehmen. O, wir unglücklichen Leut'! Einem Schuster wenn wir ihn in die Lehr' geben hätten, heut' lebet' er noch.«

»Wer weiß?« zweifelt Fischer. »Wissen Sie, Frau Seeböck, was ihm in einer anderen Lebensstellung zustoßen hätte können? Jeder muss einmal sterben, und das Wann ist ungewiss ...«

»Sel eh'«, nickt der Lipp. »Hätt' auf andere Weis' gerad' so ums Leben kommen können, wenn seine Stund' und Zeit abgelaufen. Man weiß halt nicht alles.«

»Schauen Sie!« fährt Fischer im Trösten fort. »Oftmals einer stirbt jählings ohne äußere Veranlassung dahin, der Schlag trifft ihn, oder es macht eine Störung des Organismus seinem Leben ein Ende. Und noch eins: Ihr Herr Sohn war Reserveleutnant. Die Okkupation Bosniens ist bereits beschlossene Sache, und wenn er hätte einrücken und vor den Feind müssen, wie leicht hätte ihm da etwas zustoßen können. Er hätte zum lebenslänglichen Krüppel gemacht werden können. Der Mensch kann eben über diesen Fall nicht hinaus.« Dass ein Reserveleutnant den bevorstehenden Feldzug unter normalen Umständen mitmachen müsse, glaubt Fischer selbst nicht, aber zum Troste muss alles herhalten.

»Krieg wird?« fragt die Schönbergerin hastig.

»Ja. Österreich muss den Aufstand in Bosnien niederwerfen, und ohne Kampf, Blutvergießen und Tod dürfte dies kaum abgehen.«

»Da hätt' ihm wirklich auch was zustoßen können«, redet sich der Lipp selbst Trost zu. »Und ich weiß nicht, was mich härter ankäm', dies oder das.«

»Da werden wohl auch viele Studenten fort müssen?« erkundigt sich die Schönbergerin.

»Sehr viele«, bestätigt Fischer.

»Na, vergelt's Gott, dass es andern auch nicht besser gehen wird!«

Und damit tröstet sich vorläufig die Schönbergerin. Hunderte von Müttern wird nun derselbe Schlag treffen, und sie ist nicht mehr allein auf der Welt mit ihrem Schmerze. Krieg! Vielleicht fordert er auch aus der Gemeine seine Opfer, und die und jene kriegt die Stunde zu fühlen, die jetzt über ihr lastet gleich einem wuchtigen Felsblocke.

In die Stadt zurückgekommen, melden sich ein paar Gläubiger, und trotzdem die Beträge nicht gar so hoch sind, kommt zwischen drei und viel Hundertern zusammen. Das also auch noch!

Den Verkauf der Bücher besorgt Fischer, da man im Schönbergerhofe mit solchem Zeug doch nichts anfangen könnte, und dann packen sie die übrigen Sachen zusammen und fahren heim, wie etwa einer heimgehen mag, der im Spiel alles verloren.

Soundso viel Geld hat der Bub gekostet all' die Jahre her, und jetzt hat er noch Schulden hinterlassen und ist tot. Er wäre des Ausgreinens und des Prügelns wert, und man muss ihn beweinen und betrauern. – Gerad' wie wenn auf dem Geld kein Segen läge, das der Mena von Rechts wegen gehörte und dessen Vorenthaltung man mit allen Mitteln betreibt und schürt. Ungefähr so denkt sich jählings einmal der Lipp, tut auch ein paar Mucker, seinem Weibe davon zu sagen, bricht aber gleich nach dem Anfange kurz ab. Das Geschehene lässt sich weder mit dem noch mit jenem mehr ungeschehen machen.

Nur das eine umfächelt wie linder Trosthauch beider Sinnen: Krieg! Während der Bahnfahrt reden da und dort ein paar Reisende mitsammen über die Brühe, die da beim Berliner Kongresse zusammengekocht worden, und im Amtsstädtlein wird schon von jedwedem Krieg geführt und darüber geschimpft, dass man seine Nase in Sachen stecken muss, die einem gar nichts angehen. Krieg! Es ist wirklich besser, der Bub ist vor dem Kriege gestorben, als wenn er im Felde einen martervollen Tod hätte nehmen müssen, und es ist gut, dass hundert andern zumindest dieselbe Trauer blüht.

Der alte Schönberger hat vom Jakoberl erfahren, was dem jungen Lipp zugestoßen, aber es hat ihn wenig gerührt.

»Wer raufen will, muss auf Hieb' gefasst sein«, hat er mitleidlos gesagt und dem hochfahrenden und hochmütigen Enkel im Stillen die Tracht Hiebe gegönnt, die er der Drahtbotschaft nach abbekommen haben soll. Erzogen muss einer werden, und geschieht das nicht im Elternhaus, so müssen dies fremde Leute besorgen. Vielleicht fruchtet die Lehre, und der Bub wendet sich in ein ander Gestapfe.

Wie aber die beiden Schönbergerleute heimkommen von dem schwersten und härtesten Wege, den sie bislang gemacht, und wie der Jakoberl die Kunde von dem Ableben des Bruders ins Leibtumstübel bringt, kommen ihm doch ein paar andere Gedanken, die er für den ersten Augenblick nicht recht auseinanderklauben kann.

Er geht hinüber in den Hof und will trösten, aber die Trostesworte sehen Vorwürfen auf ein Haar ähnlich.

»Was hab' ich nicht allweil' gesagt!« tadelt er. »Aber der Alte gilt nichts mehr im Rate. Wie ist denn die Geschicht' gerad' hergangen?«

Der Lipp öffnet schon den Mund, um alles haargenau zu erzählen, was sie von dem und jenem über die Angelegenheit erfahren, aber sein Weib schneidet ihm die Rede kurzweg' ab.

»So, vergunnen tätet Ihr uns den Schlag leicht auch?« schreit sie gellend auf. »Schaut nur dazu, dass da drüben alles geschieht, wie Ihr es haben wollt.«

»Na, ja!« macht es der Alte in der ersten Verblüffung, als sie aber zu neuer Rede ausholen will, kehrt er sich jäh ab und verlässt die Stube ... Da drüben! Da drüben! Zum Teuxel schon: so tut er halt einmal mit denen da drüben. Was liegt denn daran? Vielleicht haben die andere Reden für ihn als die herüben, denen er nichts als Guttaten erwiesen.

Ein Gefühl des Verlassenseins überkommt ihn trotz des Ärgers und Trutzes ob der gänzlich unbegründeten Abspeisung, eine Härte schleicht sich um sein Herz, und es wird ihm überlings, als müsse er sich irgendwohin setzen in einen stillen Winkel und seine Betrübnis herausweinen aus der alten Brust, in der das Leben noch allweil' nicht verglimmen will. Wenn halt der Mensch alt wird, nachher springt man so um mit ihm! Vielleicht lebt er auch denen schon zu lange, und sie wollen ihn gewaltsam zu Tode kränken und ärgern, um des Leibtumes los und seines Geldes habhaft zu werden, das sie am Ende gut brauchen könnten. Sollen schon hübsch ein paar Schulden auf dem Hofe lasten, wie er zufällig erfahren. So eine Abfertigung auf eine teilnahmsvolle Frage! Nein, keinen Tritt tut er der Wetterhexe mehr ins Haus, keinen Tritt. Und drüben richtet er, was von Rechts wegen gerichtet werden muss. Was geht es ihn an, wie sich die Mena gebettet? Von ihm muss sie ihr Erbteil kriegen, und sie wird's kriegen, hat er nun einmal so gesagt oder so. Die Zeiten ändern sich, und auch der Mensch muss sich nach ihnen richten. Das Trutzwort hat ehedem der Schönberger gesprochen, den jeder in der ganzen Umgegend als Mann gekannt und geachtet, aber der Schönberger von dazumal ist heut' ein Leibtummann, der im eigenen Hause nicht einmal mehr nach dem oder jenem fragen darf und der schon zu viel ist auf der Welt.

Wer selbst nichts mehr gilt, dessen Rede ... Nein ... Ja, doch tut er es und macht Richtigkeit mit dem Dirndl, wenn es sich gelegentlich schickt. Wird sich überlings eine Gelegenheit finden oder finden lassen, über die hin man sich schicklicherweise und ohne sich und seinem Trutze etwas zu vergeben, die Hände zur Aussöhnung reichen kann. Und nachher ... nachher kommt für ihn auch am Ende noch eine andere Zeit, die ein bissel Sonnenschein wirft in seine letzten Tage, in die Winterzeit des Lebens, da einer nur mehr auf der Ofenbank herumrücken kann ... so ist die Mena nicht wie der Lipp und wie das Band, sein Weib; sie ist in ihrem Trutze eine Schönbergertochter, und sie ist eine solche auch von ihrer anderen Seite aus.

So sinnt er vor sich hin, da er gen den Binkenberg hinaufschlendert, von Zeit zu Zeit verstohlens hinüberlugt zum Häusel, das ehedem das Geldweberhäusel geheißen und das Lästermäuler und auch andere Leute nur das Notweberhäusel nennen, sich über die ihm widerfahrene Kränkung ärgert und härmt und die Gelegenheit herbeisehnt, die den Weg in dieses Häusel ebnen soll. Er geht ihn nicht zuerst, er nicht, so viel Mann ist er allweil noch.


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