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2.

Am nächsten Morgen ziehen die Geldweberleute ihr Sonntagsgewand an und richten sich, der Rosel ihren Ehrentag zu feiern. Ist wohl eine von der Not aufgezwungene Feier, aber der Mensch muss sich in allen Lebenslagen das Bessere denken. Wer sähe sein Kind nicht lieber lebend als tot? Aber wenn es nun einmal so ist, so kann eins auch nicht darüber hinaus, und es ist am besten, er fügt sich gutwillig und ergeben in den unerforschlichen Ratschluss des Ewigen.

»Heut' kommst eh' wieder zum Pfarrer hinein; red' mit ihm!« sagt die Mena in währendem Anziehen.

»Über was?« fragt der Christoph zurück. Er kann sich für den Augenblick gar nicht denken, worüber er mit dem Pfarrer zu reden hätte.

»Wegen dem Gaberl.«

»Ja, so! Ich mein' aber, es wird schad' sein um jedes Wort. Und etwas anfangen, das einer nicht fertig bringt, sel tut ein Halbnärrischer. Wenn wir nimmer dran denken, wird's gerad' so warm sein.«

»Eine Frag' steht jedem Narren frei«, erinnert die Mena. »Gerad' wie es wär', und was er sagt. Braucht ja deswegen noch allweil nicht zu werden. Wenn es halt ging ...«

»Wenn!«

»Darf ich nicht zum Pfarrer hineingehen?« fragt der Gaberl, und das wird ihm mit einem kurzen Ja erlaubt, da die Trägerinnen schon über die Gred hereinkommen, jede barhäuptig und mit einem grünen, unnatürlichen Kranz auf dem Kopfe und einem Rosmarinstrauß am Busen. Das sind die Brautweiserinnen der Rosel, die heut ihre Leich' und ihren Hochzeitstag hat, wie die Leut' im Walde zu lindem Troste der Eltern sagen.

Dann kommen die Nachbarn daher, die der verstorbenen Mitschwester das letzte Geleit dorthin geben wollen, wo sie selbst einmal sich zu friedlicher Ruhe sammeln, und auch der alte Kalmann kommt, aber im Werktagsgewande, weil er kein anderes hat. Nur vom Schönbergerhofe kommen gerad' die zwei Buben und das Inweib.

Die Leute raunen sich allerhand zu, aber die Mena beißt die Zähne übereinander und blinkt ein paar Male mit den Augenlidern. Es kommt sie unsäglich hart und schwer an, dass dem armen Kindlein nicht einmal der Großvater und der Vetter auf die Leiche gehen, trotzdem dies schon ein paar Male vorgekommen, aber kein Wort findet deswegen den Weg über ihre Lippen, und kein Tränlein darf dieserhalb in die Augen sickern. Sind halt Schönberger, und sie ist auch eine Schönbergerin.

Der Lerchecker betet ein paar Gebete vor, dann wird der Deckel auf das Särglein genagelt, die Trägerinnen schwenken es in Kreuzesform über der Türschwelle, weil ein Christenmensch im Zeichen des Kreuzes ein- und ausgehen soll in einem christlichen Hause und weil sich der ganze Lebensweg vom ersten bis zum letzten Gange im Scheine und im Zeichen des Kreuzes hinziehen soll, und dann steigt man die Hänge hinab. Die Mena flennt, und die Kinder flennen, und der Christoph fährt und wischt sich auch alle Augenblicke mit der Hand die Augen, aber das ist bei jeder Leiche so. Wer verliert, der reuset (nachjammern).

Nach dem der Beerdigung folgenden Gottesdienste nimmt der Christoph seinen Buben bei der Hand und geht mit ihm in den Pfarrhof.

»Was bin ich schuldig, Herr Pfarrer?« fragt er, trotzdem dies schon vorgestern ausgemacht worden; aber eine Anrede muss sein.

»Drei Gulden haben wir vereinbart«, bescheidet der Pfarrer. »Ich mein', das wird nicht zu viel sein.«

»Eh' nicht«, nickt der Weber, langt in den Beutel und legt drei Silbergulden auf den Tisch. »Um fleißigen Dank!«

»Wofür denn? Wo man zahlt, braucht man nimmer zu danken«, lehnt der Pfarrer den Dank ab. »Es tut mir nur leid, dass wir nicht so viel Gehalt haben, um auf diese entwürdigenden Entlohnungen verzichten zu können. ... Da ist ja der Gaberl!« wendet er sich an den Buben. »Hast wohl recht geflennt um das Schwesterl, gelt? Aber tröst' dich: einmal kommt ihr ja doch wieder zusammen, und dann reißt kein Tod mehr auseinander!«

»Er hat dieser Tag her schon so viel geflennt«, erzählt Christoph. »Er hat schon so halbwegs seinen Verstand und ein recht weiches Herz, und die zwei sind schier närrisch gewesen mitsammen.«

»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; sein Wille geschehe. Das weißt ja, Gaberl, gelt? So musst dir auch denken. Und was treibst denn allweil, da du den Sommer über von der Schul' befreit bist? Schaust denn doch dann und wann in ein Büchel?«

»Das glaub' ich«, bekräftigt der Christoph das verschämte Nicken seines Buben. »Und seit ich ihm vorgestern vom Studieren was erzählt hab', ist er gerad' närrisch.«

»Hätt' er eine Lust?«

»Das glaub' ich! ... Wie läg' denn die Geschicht' gerad' auf, wenn ich fragen dürft', Herr Pfarrer? Gerad' dass ich darum wüsst'. Geht's recht ins Geld?«

»Das Studieren meint Ihr? Geld und Talent und Talent und Geld, das sind die Hauptstück' dabei; manchmal geht's auch ohne Talent, aber Geld muss allweil sein.«

»Das verdonnerte Geld!« entrüstet sich der Weber. »Schaut einer hin, wo er hinschauen will, allweil stiert ihm das Teufelsgeld entgegen, und jedes Radel treibt es am ganzen Gespiel übereinander. Ging dann das heutzutag' nimmer, dass einer arm studiert, wie die Leut' so sagen? Von oft einem hab' ich es schon reden hören, dass er so studiert hätte.«

»Die Sache ist so: Wenn einer in der Stadt wär', wo die Schulen sind, da ist es nicht des Redens wert, was das Studieren kostet. Kost und Wohnung hätt' er daheim, und das ist eben für den Auswärtigen das teuerste.«

»Und wie teuer wär' sel?«

»Rund genommen: fünfzehn bis zwanzig Gulden im Monat. Manche zahlen mehr.«

»Hölls ... eiten!« fährt der Christoph empor und kraut sich hinter den Ohren.« Da dürft' einer einen hübschen Bauernhof haben, dass ihm allweil der Zwirn langte. Unsereins muss sich schon denken wie derselbige Fuchs, dem die Weintrauben zu sauer gewesen. Ist nicht anders, Herr Pfarrer.«

»Wenn aber das Kostgeld wegfiele und ...«

»Wie das: wegfallet?« unterbricht ihn der Christoph.

»Ich mein', wenn sich Guttäter fänden, die dem Buben das Mittagsmahl gäben – Kosttage nennt man dies – dann würde es mit vier bis sechs Gulden im Monat gehen. Wären des Jahres über vierzig bis sechzig Gulden, weil die Schul' nur zehn Monate dauert.«

»Das ging«, sinnt der Weber vor sich hin. »So viel kunnt' ich am End' schon zusammenrackern, und ... ich ließ mich ein. Versuchen könnt' man es.«

»Wär' ja nicht viel verspielt dabei«, meint auch der Pfarrer. »Und wenn es um und um fehlen würde, wenn er nicht aushalten könnte oder aushalten wollte bis zu Ende, so wär' es auch nicht arg weit gefehlt. Das schadet heutigentags keinem Menschen, wenn er ein bissel mehr gelernt hat als sein Nachbar.«

»Gar nicht«, stimmt der Christoph bei. »Und wie müsst man die Geschicht' anfassen, damit sie gleich auf die Füß' zu stehen käm'?«

»Wenn das Schuljahr anfängt, fahrt Ihr mit dem Buben in die Stadt und führt ihn zur Aufnahmeprüfung und tragt den Professoren gleich Euer Anliegen vor. Die werden Euch schon sagen, ob es auf die Weise geht oder nicht. Geht's, lasst Ihr den Buben dort, und geht's nicht, nehmt Ihr ihn wieder mit heim. Da ist kein Zehner hin.«

»So dank' ich recht schön für den Rat«, sagt darauf der Christoph und richtet sich zum Gehen, aber der Gaberl hat während des Gespräches die vielen Bücher des Pfarrers ersehen und kann kein Auge davon verwenden. Über sein Gesicht hat sich etwas wie ein leichtes Lächeln gelegt, und seine Augen glänzen und funkeln, als ob sich der Strahl der Sonne widerspiegelte. So viele Bücher und so schöne Bücher! Jeder andere Gedanke muss dem weichen.

»Nun, so geh' doch, Gaberl!« fordert und mahnt der Christoph und zieht ihn an der Schulter herum. »Was schaust denn gar so närrisch? ... Hinkommen ist er halt noch nirgends, und bei uns oben auf der Höh' sieht man nichts solches ... Behüt' Gott, Herr Pfarrer!« Und er zieht den Buben mit hinaus.

»Vater, ich werd' auch ein Pfarrer«, sagt der Gaberl, als sie draußen vor dem Pfarrhofe sind, und fasst den Christoph bei der Hand. »Die schönen Bücher gefallen mir.«

»Wenn's auf die Weis' geht, nachher sollst deinen Willen haben«, erklärt der, und sie schreiten dem Wirtshause zu, wo der übliche Leichtrunk gehalten wird.

Ist wohl nicht für jedes Gemüt, vom Grabe weg und ins Wirtshaus zu gehen, und manchem merkt man es an, dass es lieber in einer Dornstaude säße zu solcher Zeit als unter den Leuten am Wirtstische, wo einige über Behörden und Regierung greinen, andere einen Viehhandel einleiten und wieder andere einen Nachbarn von der unguten Seite betrachten; aber es ist so der Brauch, und die Träger oder Trägerinnen wollen schandenhalber einiges bewirtet sein.

Die Mena, die Geldweberin, sitzt auch mit dem Dirndl noch vor dem vollen Glase und schaut so drein, als wenn sie überall lieber wäre als gerade da, als ihr Mann und der Gaberl in die Wirtsstube kommen. Sie schaut einen um den andern an, als könnte sie von den Gesichtern ablesen, was geredet und ausgemacht worden, als sie aber das Lächeln in des Buben Gesicht sieht, hellt sich ihr Geschau ein Merkliches auf.

»Ist denn der alte Schulmeister nicht hereingegangen?« fragt Christoph, als er ein Zeitlein rundum geschaut und den alten Graubart nicht ersehen.

»Er hat gesagt, er hat noch einen Gang, und dann wartet er uns ein Örtel im Gehänge«, bescheidet die Mena. »Er sagt, er mag kein Bier.«

»Ein spaßiger Kund'«, sagt der Lerchecker. »Eine gute Zeit hindurch schaut er kein Bier an und keinen Schnaps, aber bald seine Zeit kommt, mag er alles und findet drei, vier Tage und oftmals auch noch länger nicht heraus aus seinem Rausche.«

»Ist aber eh'zeit nicht so gewesen«, erinnert der alte Zacher. »Ich denk' ihn noch, wie er Schullehrer worden ist in Steinbrunn, aber ich kunnt' mich auf nichts erinnern. Erst wie ihn die Neuschul' verdrängt hat, ist er so worden.«

»Der hätt' noch wie lange Schullehrer bleiben können«, meint der Kronwitterne. »Wir langen ein jeder an dem, was wir bei ihm gelernt haben, und sel kann heut nimmer jeder sagen. Aber weil andere geprüft gewesen sind, hat er weg müssen. Geht halt so.«

»Wer kann darüber hinaus?«

»Wisst ihr was Neues?« fragt der Wirt dazwischen.

»Ja und nein«, meint darauf der Zacherl. »Was gestern noch nicht gewesen ist, sel ist heut neu; aber was du weißt, sel können wir am End' nicht wissen.«

»Denkt auch gar nicht daran«, behauptet der Wirt. »Eine Post kriegen wir und einen Telegraphen, und in ein paar Tagen fährt eine Eisenbahn durch unsere Gegend.«

»Die Post ist nichts Unrechtes. Aber was soll denn ein Telegraph sein und eine eiserne Bahn?« So der Wagner im Gereut.

»Der Telegraphist ein Eisendraht, und in dem gehen die Brief' auch fort, aber so geschwind, dass du es nimmer geschwinder wünschen kannst«, erklärt der Wirt. »Der Pfarrer und der Doktor haben gestern so geredet, und so viel ich vernommen, wüssten sie, sagen wir, in der Kreisstadt, schon nach einer Viertelstund', was du hier in den Brief geschrieben. Und die Eisenbahn ist ein Wagen, der auf eisernen Tramen dahinfährt, keine Rosse braucht und wie der leibhaftige Schinder dahinsauset, zwei Meilen in der Stunde.«

»Geh'! Geh'!« macht es der Lerchecker enttäuscht, während der Zacherl mit halbgeöffnetem Munde lost und schaut und augenscheinlcihe nicht weiß, was er dem Wirte zur Antwort geben soll auf seine Leut'fopperei. »Wenn dir einer unterkommt, der dreimal Hans heißt, dem erzählst solche Sachen. Bei uns findest noch keinen Glauben für deine Wahrsagerei.«

»Meiner Treu!« beteuert der Wirt. »Gestern haben sie so geredet.«

Der Christoph und sein Weib reden nicht viel mehr wie nichts, und niemand nimmt es ihnen übel. Die Schönberger reden ohnehin nicht mehr als gerade vonnöten, und diesem Falle dürft' man ihnen jedes Wort abkaufen. Als aber die Trägerinnen Anstalten machen, aufzubrechen und heimzugehen, zahlt er seine Zeche, und sie gehen auch.

Vor dem Dorfe draußen bleibt die Mena stehen. »Was hast gerichtet?« fragt sie langsam und bedächtig.

»Mit dem Studieren?«

»Ja. Geht sich's aus?«

»Meinst denn, dass er studieren sollt'?«

»Geht sich's aus?« fragt sie nochmals, aber etwas ungeduldiger und rascher.

»Ausgehen würd' sich's, wenn es auf die Art geht, wie der Pfarrer sagt. Soundso kunnt' es gehen und soundso auch.« Und er erzählt alles, was geredet worden.

»Nachher wagen wir's«, entschließt sich die Mena kurz und bündig. »Hin- und hergeohrt (gesonnen) hab' ich die Tag' her schon und hab' keinen besseren Weg nicht funden. Er soll studieren und soll ein Pfarrer werden, wenn das ganze Häusel daran muss. Bald die Zeit vorbei ist, steht er als ein Mann in der Welt, und wenn er einmal eine eigene Pfarr' kriegt, kann er die Line zu sich nehmen, und für uns wird er auch ein Platzel finden.«

»Wie er halt wird. Der Steinfuchsen-Pfarrer vom Sägwinkel hat seine Leut' nicht zu sich lassen ...«

»Den hat man eh' nur allweil schänden (schimpfen) gehört. Es kommen schlechte Erdäpfel vor, es gibt schlechte Leut' und auch schlechte Pfarrer; deswegen muss aber der unsere nicht schlecht werden. Ich mein', wir wagen es.«

»Vorgenommen hab' ich mir's ja auch: Gewagt wird's.«

Dann gehen sie schweigend und sinnend weiter, und die Mena wähnt den Buben bald so weit, dass er vor dem Altare steht und Messe liest, und die Line werkt als seine Haushälterin im Pfarrhofe und ist auch versorgt.

Im Gehänge oben auf einem Feldraine liegt der alte Schulmeister, der Kalmann, und lauscht dem leisen Pulsschlag der Natur, der wie ferne Engelmusik über den Wald hinzittert. Jeder hört ihn nicht, weil er nicht achthat darauf, aber der alte Kalmann hört ihn, wenn er nicht gerade seinen Vierteljahrsdusel hat, weil er darauf achtet und das Losen gewohnt ist.

In einem schon dem Pfarrarchiv einverleibten Bande des Taufbuches steht eigentlich, dass er bei der Taufe den Namen Karlmann erhalten, aber die Leute hat das »r« zu viel gedäucht, und sie haben es seit jeher ausgelassen. Kommt übrigens auf eins hinaus, ob sie Karlmann sagen oder Kalmann. Sein Vater hat vom Rosenhof abgestammt und ist ein Schuster gewesen, weil nicht jeder ein Bauer werden und sein kann, und er hat nicht einmal zur Schusterei eine Zuneigung gehabt, sondern hat allweil und allerorten in einem Fetzen Buch gelesen, wo er eins erwischen hat können. So hat ihn der damalige Schulmeister als Lehrburschen und Gehilfen genommen, und später ist er selbst Schulmeister geworden, als des Alten Stund' und Zeit geschlagen. Da hat er sich versorgt gewähnt für Lebenszeit, aber es ist das neue Schulgesetz gekommen, und die Neuschule hat ihn vom Katheder gestoßen. So vagabundiert er halt in der Gegend herum, bis einmal einer kommt und ihn in die Grube stößt. Gibt ja für jeden Weg einen Markstein.

Als er die Geldweberleut' daherkommen hört, richtet er sich auf.

»Ich lad' mich wieder einmal bei dir ein, Christoph«, sagt er. »Ist's dir recht?«

»Die Frag' könnt Ihr Euch ersparen«, bescheidet der. »Ihr wisst, bei uns seid Ihr allemal gern gesehen.«

»Das brauchst wieder du mir nicht schriftlich in die Hand zu stellen«, lächelt der Alte. »Ich kenn' meine Pappenheimer alle, die ich als Kinder so oder so viele Jahre in der Schule gehabt hab'. Kennt sich einer dort schon aus, wenn er achtgibt, was aus dem oder dem Pflanzel für ein Kraut oder Unkraut wird. Ich sag' dir's auch heut' schon von deinem Buben. Ist ein Schönberger, aber ein eiserner, keiner aus Kies. Kommt halt noch darauf an, in was für eine Schmied' er kommt. Kommt er auf den richtigen Amboss, lässt er nach und wird weicher, kommt er aber von der Hitz' ins Wasser, wird er stählern und bricht lieber, als dass er sich biegt. Ganz eine eigene Mischung.«

»Diesmal versteh' ich Euch schon nicht«, meint die Mena und schüttelt bedächtig den Kopf. »Was meint Ihr, dass der Bub ...!«

»Ich werd' ein Pfarrer«, erzählt der jählings dem Alten, doch der schaut ihn eine Weile baumfest an und kann sich nicht klar werden darüber, ob ihn der Bub zum Besten hält oder ob er vielleicht irgendein Grund unter der Rede.

»Mhm!« macht er es nachher, und das kann einer nehmen, wie er es will oder braucht, als Zustimmung oder als ungläubiges Ablehnen.

»Im Sinn' hätten wir's«, bestätigt der Christoph. »Ob es gehen wird oder nicht, sel kann eins heut' noch nicht sagen.«

»Den Daumen solltest halt hübsch rühren können, nachher tät' nichts fehlen. Und der Alte hätt' so viel Geld! Muss ihm doch ich einen Tritt geben ...«

»Nachher sind wir fertig miteinander«, fällt ihm die Mena in die Rede. »Ich will nichts und brauch' nichts von ihm, und auch der Gaberl braucht nichts. Ihr wisst ja eh', z'wegen was er mir den Vater aufgesagt und das Haus verboten. Ist's leicht was Schlechtes gewesen, dass ich da herüber geheiratet zu uns? Hat er deswegen so erbittern brauchen? Und wenn er bloß gegreint und geschimpft hätte, wenn er mich am End' durchgebläut, heut' wär' alles, wie wenn es gar nicht geschehen wär'. Aber so einen Kopf aufsetzten! Da hab' ich nachher auch den meinen; hat er kein Kind mehr, das Mena heißt, hab' ich keinen Vater. So bin ich. Und ... und heut' bei der Leich'! Fremde Leut' sind gangen, die nicht. Und da soll einem auch sein, wie es sich gehört?« Sie hat sich in die Hitze und in Ärger geredet, und bei den letzten Sätzen zittert und bebt ihre Stimme gerade vor Erregung.

»Wir brauchen nichts«, sagt der Christoph, und damit hat dieser Schwatz wieder ein Ende.

»Wart', da muss ich dich eine Weil' in Zaum und Zügel nehmen, nachher bist ihnen gescheit genug, wenn du hinkommst«, redet der Kalmann nun zum Gaberl. »Und nachher werd' ich dir auch noch lernen, wie man schaut und loset und wie einer sehen kann, auch wenn er die Augen zumacht.«

»Ein bissel Nachhilf' schadet nicht«, nickt die Mena. »Und bis ins Dorf hinunter muss er nicht alle Tag' rennen, wenn es nicht sein muss. Nehmt ihn nur ordentlich beim Schopfe; wir werden schon gleich werden wegen selbem.«

Als sie hinaufkommen ins Geldweberhäusel, macht sich die Mena am Ofen zu schaffen, und der Christoph versorgt die Kuh, und der alte Kalmann setzt sich derweil unter den großen Kirschbaum hinaus und liest ein Zeitungsblatt, das er sich vom Doktor erbeten. Hier und da soll der Mensch doch erfahren, was in der großen Welt draußen vor sich geht. Hat aber noch gar nicht viel gelesen, so fährt er schier mit einem Rucke auf von dem frischgrünen Rasen und stapft eilig über die Gred hinein.

»Christoph, Christoph!« schreit er in den Stall. »Weißt was Neues?«

»Steht's leicht gar schon in der Zeitung?« fragt der zurück. »Nachher kunnt' doch was Wahres daran sein. Ich hab's nicht geglaubt, und die andern haben auch nur gewitzelt darüber.«

»Da gibt's kein Witzeln mehr«, sagt der Kalmann ernst. »Wenn sie einmal die Gewehr' in die Hand nehmen, nachher ist's mit Spaß und Scherz aus.«

»Die Gewehr? Ja, was haben sie denn bei so einem Fuhrwerk mit den Gewehren zu tun?«

»Fuhrwerk hin oder her: Preußen und Frankreich haben Krieg.«

»So ja, so ja. Ich hab' gemeint, Ihr redet von dem Briefdraht und von dem Wagen ohne Ross'. Was geht aber sel uns an, wenn sich die eine Weil' zausen. Wird ja wohl wieder ein bissel Neid oder sonst ein Laster die Ursach' sein.«

»Eine Tugend ist's niemals, die den Grund gibt zu einem Kriege«, redet der Alte mehr mit sich selbst als mit dem Christoph. »Aber so viel ich kenn' in meiner Einfalt, steckt die Wurz tiefer. Wart' einmal, ob man an den dürren Worten kein grünes Aug' finden kann, aus dem einem ein Blättlein herauswächst, wo einer kennt, welcher Art der Baum ist.«

Er setzt sich auf das Gredbänkchen und vertieft sich in den Wortlaut der kurzen Zeitungsmeldung.

»Berlin, 17. Juli. Nachdem König Wilhelm am 13. ds. Mts. die Forderung des französischen Gesandten Benedetti, dass weder gegenwärtig noch in Zukunft ein Prinz aus dem Hause Hohenzollern für den spanischen Thron kandidieren werde, zurückgewiesen, hat er in Anbetracht der Stimmung in maßgebenden französischen Kreisen sofort die Mobilmachung der gesamten norddeutschen Armee befohlen, der am 16.ds. Mts. zusammengetretene Bundesrat hat sich damit einverstanden erklärt, und noch am selben Tage befahlen die süddeutschen Fürsten die Mobilmachung ihrer Truppen.«

So! Um eine Throngeschichte handelt es sich also, und das ist schier dasselbe, wie wenn ein Bauer seinen Buben in einen ledigen Hof einheiraten möchte und ein anderer auch, nur dass es hier die Völker ausmachen müssen. Die Völker! Teuxel noch einmal! Die Geschicht' lässt sich am End' von einer andern Seiten betrachten. Was sie im achtundvierziger Jahr nicht zuwege gebracht haben, scheint jetzt zu blühen: Süddeutschland tut mit Norddeutschland, als ob es kein Sechsundsechziger Jahr gegeben hätte, und wenn es so bleibt und wenn die Blüte keine taube ist, kann doch einmal der vielbesprochene und vielbegehrte Traum der deutschen Einheit zur Wirklichkeit werden. Er, der alte Kalmann, hat ihn mit geträumt im Achtundvierziger Jahre, da er das schwarz-rot-goldene Band um seine schmale Brust gebunden und mit ein paar Gleichgesinnten gen die Hauptstadt gezogen ist, mit der »Nationalgarde« für den Traum zu streiten. Wie ein Traum in lauschiger Maiennacht kommt ihm heute dieselbe Zeit vor, aber sie haben müssen auf halbem Wege umkehren, da man einstweilen den schönen Wahn mit rauer Hand zerstört. Und jetzt erblühte er ungedanks wieder und will zur Tatsache werden ...

So sinnt er in seiner Weise, als der Christoph sein Geschäft im Stalle beendet und sich zu ihm setzt auf das Gredbänkchen.

»Wie ist die Sach' also?« fragt der.

»Eine neue Zeit bricht an«, redet der Alte wie im Traume. »Mir scheint, ich darf noch erleben, für was ich ehedem mein Leben gewagt hätte, im Achtundvierziger Jahre. Hat eigene Launen, das Schicksal. Nöten lässt es sich halt einmal nicht, gerad' wie ein Weiberleut. Überlings mag es, und nachher geht's. Eine neue Zeit bricht an, sag ich.« Und er redet und erzählt, was man einstmals gewollt und was jetzt allem Anscheine nach werden wird, und dann führen die zwei Krieg auf dem Bänkchen, lassen Schlachten schlagen, gewinnen und verlieren und schließen Bündnisse, wie sie wollen und wie sie wünschen. Und der Gaberl schleicht sich herbei, lehnt sich an das raue Gezimmer des Hauses und lauscht den Reden und schmückt sich seine ganze Welt aus mit den Farben, die der Schulmeister so herauslobt, mit schwarz, rot und gold.

Dann bringt der Christoph allmählich die Rede auf die andere Neuigkeit, die der Wirt erzählt, und der Schulmeister erklärt die Sache, so gut und schlecht er sie versteht. »Unmöglich ist nichts, kein Briefdraht und kein Fuhrwerk ohne Rosse«, sagt er. »Wer weiß, wie vieles der Herrgott den Leuten neben ihren Weg gelegt, aber suchen und finden müssen sie es, und sel ist oftmals eine hübsche Kunst.«

Am nächsten Morgen nimmt er den Gaberl in Zaum und Zügel, liest, schreibt und rechnet mit ihm, und als dessen genug getan, geht er mit auf die Weide hinauf und erzählt allerhand Geschichten und Märlein und versucht es, dem Buben das Sehen mit geschlossenen Augen zu lehren. Die Kuh rupft und beißt an dem saftigen Grase, und sie reden und schwatzen mitsammen von dem und jenem, und der Alte versteht es, die Saite im Brustkasten des Buben klingen zu lassen, die er anschlägt. Der Bub will ein Pfarrer werden, und ein solcher muss ein Herz haben wie eine Orgel. Jede Tonart muss zu greifen sein und gespielt werden können darauf, sonst ist er nicht, was er sein soll, ein Freund und Führer in allen Lebenslagen. Wer sich starr an den toten Buchstaben halten wollte, derselb ist kein Pfarrer, und wenn er Bischof ist. Ein Mensch muss einer zuerst sein, nachher wird auch ein Pfarrer aus ihm, und zwar einer, der auf seinen Platz taugt. Wie hat der Herr gesagt? Weide meine Lämmer! Ein Hirt muss so einer sein, ein Hirt mit dem Herz und dem Gemüt eines echten Hirten, sonst taugt er nicht für sein Amt.

Lächelnden Gesichtes und mit hellleuchtenden Augen lauscht der Bub den Reden und Geschichtchen des Alten, und eine Stimmung überkommt ihn, wie wenn er mutterseelenallein wäre auf der Weide und über Blumen und kleines Gevieh nachsänne, eine zarte, duftige Märchenstimmung.

Plötzlich aber hält der Alte in seinem Reden inne und horcht ein Weilchen.

»Hast du nichts gehört?« fragt er

»Ich? Nein. Was denn?«

»So ein Brummen! Bum! Bum!«

»Gar nichts!«

»Und mir scheint, ich hab' mich doch nicht getäuscht. Unmöglich wär' es gerade nicht, dass der Erdboden den Hall herübertragen tät von der französischen Grenze, wo sie jetzt schon Krieg führen und mit Kanonen schießen werden. Los' nur recht leis'lich.« Des alten großdeutschen Achtundvierziger Herz ist eben draußen in der weiten, weiten Ferne, wo vielleicht die ersten Schüsse fallen mögen und das erste Blut rinnt, das als Mörtel dienen soll für eine Feste, von der er als junger, leidenschaftlicher Fant geträumt: Großdeutschland.

Sie horchen und losen, aber sie hören kein Brummen und kein Gewehrknattern. Nur im Geäste des Tannes säuselt der Wind und singen die Vögel.


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