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4.

Ein wonnig klarer Herbstmorgen geht über den Höhen auf, und im Tale unten und im Flachlande draußen liegt der Nebel wie ein lichtgraues Meer. Lichte Röte eilt der aufgehenden Sonne voraus, über den Höhen und Hängen breitet sich ein rötlicher Schein, und die Nebel drunten widerspiegeln ihn, und es bekommt die graue Fläche das Ansehen einer rotglühenden Masse, die im Wellen erstarrt, und deren Wellentäler graugrünlich gefärbt.

Um dieselbe Zeit stehen sie im Geldweberhäuschen von der Morgensuppe auf, die zwei Geldweberleut', die zwei Kinder und der alte Kalmann, und beten gemeinschaftlich das Dankgebet nach Tische. Es ist ein Werktag wie jeder andere, aber der Geldweber und sein Bub haben doch das Sonntagsgewand an.

Es geht in die Studie ... wenn sich in der Stadt drinnen alles so schickt, wie man sich's ausgerechnet.

Hastig ziehen sie ihre Joppen an und machen sich reisefertig.

Der Mena Augen werden mit einem Male nass, und die hellen Zähren beginnen über die Wangen hernieder zu kollern. Trotzdem es sich zu brennheißem Wunsche ausgewachsen in ihrem Herzen, dass der Bub einstmals eine sorglose und geachtete Stellung einnehmen soll in der menschlichen Gesellschaft, ihnen zur Freude und allenfalls zur Stütze des Alters, so beschleicht ihr Herz ein bitteres Weh, da sie ihn nun von sich ziehen lassen soll in die weite, fremde Welt, wo eins nicht weiß, was für Leute und Verhältnisse seine Wege kreuzen und was seiner an Ungemach wartet und lauert.

»Behüt' dich Gott und bleib' mir gesund!« schluchzt sie, und das ist ihre ganze Rede.

Der alte Kalmann aber gibt noch die und die Lehre, und als sie draußen stehen vor der Haustüre und der Schein der aufgehenden Sonne des Buben Gesicht mit hellem Glanz umstrahlt, deutet er auf das Nebelmeer hinunter und dann auf die sonnenbeschienenen Höhen ringsumher.

»So ist auch das Leben«, sagt er. »Es hat seine Tiefen und seine Höhen, und glücklich derselbe, der sich auf so ein einsam Plätzchen in der Höhe hat retten können. Im Tal unten ist unfreundliches, nasskühles Düster, und man wird kaum zwanzig Schritte vor sich aussehen. Die Wiesen unten sind saftiger und die Felder ergiebiger, aber hart daneben liegen Sümpfe und Hilmen (Pfützen), und überlings kann einer drinnen stecken bis in die Knie; auf den Höhen aber sieht einer weit und weit um sich, weil er im Tageslicht wandelt. Die schönste Rosenstaude drunten im Genebel führt denselben Tag ein jämmerliches Dasein; aber das armselige Kienholz auf den Höhen oben schwelgt gerade im Sonnenscheine. Wirst mich derweil noch nicht verstehen, aber denk' oftmals daran, was ich dir jetzt sag', und bald du auf deinem Wege in Nebel kommst, erinner' dich an meine Rede von des Lebens Tiefen und Höhen und wend' dich gleich bergwärts!«

Der Bub versteht ihn nicht und denkt auch weiter nicht nach; seine Gedanken und sein Sinnen sind schon weit voraus auf dem Wege, auf dem sie eben den ersten Schritt tun.

»Viel Glück und Gottes Segen auf die Reis'!«

Und dann stapfen sie die Hänge hinab, und bis sie in den feuchtkühlen Nebel hinunterkommen, fällt kein Wort.

»Ist dieser Nebel auch in der Stadt?« fragt da der Gaberl, den ein lindes Grauen angeht ob des Gedankens, dass dort draußen in der fernen Stadt vielleicht tagtäglich solches Düster herrschen könne.

»Kann eh' sein«, gibt der Christoph zu, und sie stapfen wieder zu.

Man kommt ins Dorf und geht am jenseitigen Ende wieder heraus, immer weiter und weiter in die Nebelwildnis hinein, bis um halben Vormittag herum der Nebel sich zu heben beginnt und die Häuser und die darüber hinausragenden zwei Türme des Gerichtsstädtchens sichtbar werden im grauen Dunste.

»Ist das die Stadt?« fragt der Gaberl hastig, aber der Vater widerneint. Dies wäre erst das Städtchen, und die Stadt, wo er hinkäme, wäre nicht gute acht Stunden davon weg, und sie müssten mit der Post fahren.

Die Post! Von der hat er auch noch nichts gehört und gesehen, aber das Fahren in dem gelbangestrichenen Kastenwagen gefällt ihm, und er hat gerade zu tun mit lauter Schauen, um nichts von dem zu übersehen, woran sie vorbeischaukeln.

In den ersten Nachmittagsstunden fahren sie endlich durch das graudüstere Tor der Stadt, wo die Studierschule ist, und rechts und links türmen sich die Häuser auf, so dass man vom Postwagen aus keine Dächer mehr ersehen kann und ein Hin- und Herwogen von Menschen umgibt sie mit einem Male, geradeso, wie wenn in Steinbrunn Wallfahrt ist.

Ob das alle Tage so ist oder nur heute? Ob ...? Des Gaberl Gehirn kann nicht einmal die Fragen so schnell stellen, als die Eindrücke und vollständig neuen Wahrnehmungen wechseln.

Im Posthause steigen sie aus und fragen nach der Schule, wo man auf einen Pfarrer studieren könne, und ein Mann in Uniform nennt ihnen Straße und Nummer und zeigt auch die Richtung, nach welcher sie gehen müssen.

In einem Bäckerladen, an dem sie vorbeikommen, kauft Christoph zwei Wecken, einen für sich und einen für den Buben, und in währendem Gehen und Suchen essen sie. Dann kommen sie überlings vor ein großmächtiges Haus, über dessen Türe eine schwarze Tafel hängt, auf der geschrieben: K. k. Realgymnasium.

Das wird die Schul' sein; so hat der Mann im Posthause gesagt. Allerlei Männer und Herren mit großen und kleinen Buben gehen aus und ein, und sie treten auch ein und fragen einen im Hausflur stehenden Herrn, wo der Oberlehrer zu finden wäre.

»Oberlehrer gibt's bei uns nicht«, bescheidet der kurz. »Sie werden wahrscheinlich einen Studenten bringen, und da müssen Sie zum Direktor in die Kanzlei. Professoren und einen Direktor haben wir, kleiner Herr. Über die Stiege hinauf und dann nach rechts gerad'aus!«

Und sie steigen bedächtig und scheu über die Stiege hinauf und klopfen beim Direktor an. Ein schon etwas graubärtiger Mann sieht sie durch die hellen Augengläser ein Zeitlein an, da sie unschlüssig an der Türe stehen bleiben, und fragt nachher nach Wunsch und Begehr.

»In die Studie möchte' ich den Buben geben«, fängt daraufhin der Christoph an und tritt näher. »Ein Pfarrer möchte' er werden, und unser Wunsch wär' es auch, aber ... am Geld fehlt es hübsch arg. Mit unserm Pfarrer hab' ich einmal so geredet über die Sach', und der hat mir soundso geraten.« Und er erzählt, was der alles gesagt.

»Haben Sie das Schulzeugnis mit?« fragt der Direktor entgegen.

»O ja. Lauter Einser hat der Bub.«

Der Direktor schaut erst das Schulzeugnis an und sieht nachher eine Weile zum Fenster hinaus.

»Wissen Sie was, Herr?« fängt er später an. »Wenn der Bub wirkliches Talent hat, dann werden wir tun, was wir vermögen. Wir werden trachten, dass er trotz Ihrer Mittellosigkeit sein Ziel erreichen kann, aber nur, wenn er ein wirkliches, ausgesprochenes Talent hat. Geistiges Proletariat zu züchten, dazu möchten wir uns nicht gerne hergeben. Wissen Sie was? Sehen Sie sich um eine ordentliche Wohnung für den Buben um, wo er auch Frühstück und Nachtmahl bekommt – solche dürften schon zu fünf, sechs Gulden für den Monat zu haben sein – und das Übrige besorgen wir, wenn wir den Ausfall der Aufnahmeprüfung gesehen haben. Machen Sie es aber vorläufig so aus, dass die Abmachung erst gültig ist, wenn wir nach dem Ergebnisse der Aufnahmeprüfung Ihnen mitteilen, dass der Bub hier bleiben kann. Die Prüfung ist morgen früh acht Uhr im Lehrerzimmer ›1 a‹. So, und jetzt sehen Sie sich um die Wohnung um.«

»Sind wir nachher derweil fertig?«

»Vorläufig schon. Also morgen!« Und er macht sich wieder über seine Arbeit.

Der Christoph schiebt den Buben vor sich zur Türe hinaus und sinnt in währendem Hinunterstapfen über die Stiege, wie und wo er so eine Wohnung erfragen kann in der großen, fremden Stadt. Von Haus zu Haus gehen?

Da steht eine alte Frau vor dem Eingangstore des Schulgebäudes und redet sie an, ob sie schon eine Wohnung hätten.

»Gerad' gehen wir eine suchen«, gibt der Christoph zur Antwort.

»Ich hätt' einen Platz frei«, trägt die Frau an. »Zwei Studenten hab' ich schon, und für drei ist Platz im Zimmer. Der Herr, der im vergangenen Sommer weggekommen ist, studiert jetzt auf der Universität und war die ganzen acht Jahre über bei mir. Da kann wohl die Wohnung nicht so schlecht sein. Nur ein bissel abseits gelegen ist sie, am entgegengesetzten Stadtende; aber das macht nichts. Die Herren sollen ein wenig Bewegung machen nach dem vielen Sitzen ...«

»Wär' mir ganz recht«, nickt der Christoph. »Und ... wie teuer wär' denn die Sach'? Der Direktor hat gerad' vorhin gesagt, ich sollt' nur Wohnung und Frühstück und Nachtmahl ausbedingen und in der Weis', wenn der Bub morgen die Prüfung macht.«

»Da kriegt er Kosttage?« meint die Frau etwas enttäuscht. »Nun ja, es gibt ja mehr mittellose Studenten. Sechs Gulden fürs Monat, mein' ich, wird nicht zu viel sein. Was?«

»Auf das lass ich mich ein«, willigt der Christoph ein, und dann gehen sie durch die Stadt, die Wohnung anzusehen ...

Des anderen Tages in aller Frühe stapfen sie dem Realgymnasium zu, schauen hier und dort in eine Auslage und gehen im Vorbeikommen in eine Kirche, wo an fünf oder sechs Altären Geistliche stehen und ihre Messen lesen, und wundern an dem Stadtbrauch, dass beständig Leute kommen und gehen und dass keiner der Kirchenbesucher sich recht lange hält. Andere Leute, andere Sitten, und sie kehren sich auch daran und gehen bald hinaus und ihres Weges weiter.

Gegen acht Uhr kommen sie in die Schule, und der Herr, der sie gestern zum Direktor gewiesen, der Schuldiener, steckt den Gaberl in ein Lehrerzimmer, wo schon eine Menge gleichaltriger Kunden der kommenden Dinge entgegenharren, und bedeutet Christoph, dass vor zehn, elf Uhr kaum der Schluss dieser Prüfung zu erwarten wäre. Er sollte sich derweilen in der Nähe wo niederlassen.

Der Gaberl schaut ein Weilchen an der Türe, bis er sich recht auskennt, wie der daran ist, und derweil ruft ihn schon einer.

»Gaberl! Gaberl! Da geh her!«

Des Schönbergers Lipp, wenn ... es wahr ist.

Aber es ist wahr. Scheu und schüchtern geht er hin zu ihm und setzt sich zu ihm in die Bank.

»Ja, wie kommst denn du her?« fragt er wundernd. »Hast doch nie was gesagt, dass du auch ein Pfarrer werden willst, und der Jakoberl hat auch nichts verlauten lassen.«

»Ich werd' ja gar kein Pfarrer, ich werd' ein Herr«, bescheidet der Lipp gewichtig.

»Und ... da darfst auch in diese Schul' gehen.«

Die ist für allsamt. Der da wird ein Doktor und geht auch mit uns in die Schul'«, erzählt er und deutet nach einem neben ihm sitzenden Knaben, dem man den Bauernbuben ebenfalls schon von Weitem ansieht, ein schüchternes Bürschchen mit schier weinerlichem Geschau. »Der ist auch aus unserer Gegend, von Waldzell. Weißt, der gehört dem Fischer an, der den Leuten die gebrochenen Füß' und Arm' wieder gerad' richtet. Zwei Stunden ist er von uns weg, hat der Vater gesagt. Wir sind vorgestern mitsammen hergefahren.«

Dann schauen sie wieder an den später Kommenden und fühlen sich bald heimisch in dem Schulzimmer, das immerhin eine Ähnlichkeit hat mit dem Schulzimmer in Steinbrunn; nur ganz andere Wandtafeln und Karten hängen darin, und alles ist viel schöner.

Ein schrilles Läuten tönt durch das ganze Haus, und nachher kommt ein Herr mit rötlich-blondem Vollbarte und goldgefasstem Zwicker daher, und zwei andere, darunter der Direktor, folgen ihm nach, und nach einer kurzen Ansprache geht die Prüfung los.

Einer um den andern muss zeigen, ob er so viel gelernt hat, dass es einstweilen reicht, ein jeder muss lesen, schreiben und rechnen, und der Gabriel Seeböck bekommt auch noch manch' andere Frage, die die anderen nicht bekommen und von der er oftmals nicht recht weiß, solle er sie so nehmen oder so. Aber er sagt allemal nach einigem Nachsinnen kurz heraus, wie er sich die Sache zurechtlegt, und es wird recht sein, weil der Herr mit dem rötlichblonden Vollbarte immer nickt dazu.

Und als alle abgefragt sind, wird vermeldet, dass diejenigen, welch die Aufnahmeprüfung bestanden haben, sich morgen früh in der Schule wieder einzufinden haben. Dann können alle gehen.

Der Christoph aber wartet schon im Hausflure auf seinen Buben, und seine erste Frage ist, wie es gegangen hat.

»Ich mein', ich hab' alles gekonnt«, lächelt der freudig und erzählt und berichtet gleich, dass des Schönbergers Lipp auch da wäre und einer von Waldzell, der dem Fischer sein Bub sein soll.

»Der Lipp?« staunt der Christoph. »Und nicht ein Wort hat man davon reden hören die ganze Zeit her. O, das ist ein Gevölk! Verschlagen wie ein uralter Sechser.«

Da kommt der Direktor vorüber und winkt, nachzukommen.

»Haben Sie schon eine Wohnung?« fragt er, als sie in der Kanzlei voreinander stehen.

»Die hätten wir«, bescheidet Christoph. »Ist gerad' so, wie Ihr ... wie Sie gesagt haben. Sechs Gulden fürs Monat. Das wird' ich erschwingen können.«

»Dann ist alles in Ordnung. Hier haben Sie einige Brieflein.« Er nimmt einige kleine Brieflein auf und reicht sie ihm dann. »Tragen Sie diese hin, wie die Adresse auf jedem besagt, und weiter brauchen Sie nichts zu tun und zu sagen. Sind zumeist Professorenfamilien mit Ausnahme des Großindustriellen von Schildberg, und überall wird man Ihnen mitteilen, welchen Tag der Herr Sohn dort das Mittagessen bekommt. Bei uns kriegt er es Sonntag und Mittwoch ... Da wäre also alles geebnet; es braucht der Herr Sohn nur recht fleißig zu sein ... Grüß Gott!«

Sie gehen wieder und tragen die Brieflein hin, wo überall sie hingehören, und einige Male müssen sie langmächtig herumfragen, bis sie sich in dem Straßengewirr zurechtfinden. Das Überbringen der Brieflein ist so eine Art Vorstellung, und mit wenig Worten und der Bekanntgabe, an welchem Wochentage der Bub zum Mittagessen kommen könne, ist die Angelegenheit erledigt.

Herr von Schildberg aber wohnt am entgegengesetzten Ende der Stadt drüben, und zwar ganz in der Nähe, wo man eine Wohnung gemietet.

Dem Christoph gibt es wieder einen jähen Ruck, als sie einem Tore zugewiesen werden, über dem auf einer mächtigen Tafel geschrieben steht: L. v. Schildberg, Leinen- und Baumwollwarenfabrik.

Das ist so einer, der die kleinen Weber frisst, und von dem soll sein Sohn eine Guttat nehmen? Aber schon im nächsten Augenblicke denkt er sich anders. Was kann er dawider tun? Und seinetwegen sollen die Weber alle mit Haut und Haar aufgefressen werden; der Gaberl wird keiner mehr, und solange er noch lebt, wird's ja wohl noch ein bissel zu erwebern geben.

Sie fragen sich durch bis in die Küche des Fabriksherrn, und dort erhalten sie fast dieselbe Antwort wie überall vorher, nur erfahren sie noch dazu, dass der junge von Schildberg auch dieselbe Klasse des Realgymnasium besucht und auf ein angenehmes Mitschülerverhältnis gerechnet wird.

Als sie wieder ins Freie kommen, hören sie im Hinterhause schnurren, klappern und pfauchen, und der Christoph zieht die Neugier hin, wie denn dort die Webstühle ausschauen mögen und wie dort gewerkt wird, dass so ein unweberlicher Lärm entstehen kann, als er aber an einer Tür eine Tafel angebracht sieht, die Fremden den Zutritt verbietet, kehrt er wieder um, und sie gehen dorthin, wo der Gaberl von nun ab »daheim« sein soll, in die Wohnung der alten Frau.

Unterdes sind die zwei andern Studenten angekommen, zwei halbschüssige, kecke Bürschchen, und nach einigen Anempfehlungen und Abschiedsworten richtet sich der Christoph zur Heimfahrt. Der Gaberl geht mit bis zum Posthause, und als der Vater in den Wagen steigt und dieser sich schwankend in Bewegung setzt, ist ihm, als würde ringsum alles dunkel, der Boden wankte unter seinen Füßen, und eine unsichtbare Hand fasste ihn bei den Haaren und zöge ihn dem Wagen nach.

Ein paar Tränen schleichen sich in seine Augen, aber er wischt sie hastig weg und sucht zurück, da und dort ein wenig an einer der vielen Auslagen schauend und staunend. Als er zurückkommt, ist es fast dunkel, das Nachtmahl kommt auf den Tisch; er isst ein paar Bissen und legt sich dann nieder, aber solange die zwei andern in ihre überlauten Art herumtollen, kann er nicht einschlafen.

Am andern Tage ist feierlicher Eröffnungsgottesdienst, nach demselben werden die Schüler nach dem Alphabete in die Bänke geschlichtet, und er kommt zwischen von Schildberg und Philipp Seeböck zu sitzen; den Lipp aus dem Schönbergerhofe, und er freut sich groß darüber. Als man aber aus der Schule geht und die anderen alle ihren Wohnungen zuhasten, steht er und sinnt, wohin er heute gehen soll. Er zieht ein Stücklein Papier aus der Tasche, auf das er sich aufgeschrieben, an welchen Tagen er da oder dort das Mittagessen bekommt. Heut' muss er zu Professor Schuster, und um zwölf Uhr soll er kommen, ist ihm überall gesagt worden. Also noch eine Stunde Zeit! Was soll er derweilen anfangen?

Wart'! Da drüben hat er gestern einen Garten gesehen mitten in der breitmächtigen Straße, und unter allerhand Gestaude sind Bänkchen zum Sitzen. Dorthin geht er und wartet. Er hastet hinüber, schaut an den gut gepflegten Blumenbeeten, an den unbekannten Blumen und an dem Leben und Treiben ringsumher. Zwei Graubärte schlendern die Kieswege daher und reden und deuten miteinander, als wenn sie sich schon jeden nächsten Augenblick in die Haare fahren wollten und an die Krägen, ein junger Fant spreizt daher, die Hände auf dem Rücken und die mit feinem Zwicker beklemmte Nase hochmächtig in die Höhe tragend, ernste Männer hasten hin und wider, und Arbeiter in blauen Blusen rennen da- und dorthin, schöngeputzte Kinder hüpfen daher und schwatzen und lachen, und zwei alte Leute, ganz schwarz angezogen, trippeln daher, und die Frau hat rotgeweinte Augen und nasse Wangen.

Dem Garten gegenüber ist ein Kirchturm, und er sieht schnurgerade hin auf das Zifferblatt der Uhr. Bum ... Noch dreiviertel Stunden! Aber es wäre ihm lieber, wenn es gar nie zwölf Uhr werden würde und er nicht hinzugehen brauchte in das fremde Haus zu den fremden Leuten wie ... ein Bettelbub. Ein Gefühl des Verlassenseins beschleicht ihn inmitten des in kräftigen, raschen Schlägen um ihn pulsierenden Lebens, und er beginnt sich zurückzusehnen nach der stillen, ruhigen Höhe und nach der Traulichkeit seines Vaterhauses. Jedes Haus schaut hier aus wie ein Königsschloss, und lauter schöngewandete Herrenleute gehen ab und zu, und die Blumen in dem zierlichen Beete sind so schön und prächtig, aber ihm gefiele die Holzhütte daheim doch besser als all die Schlösser hier, und die bescheidenen Blümchen der kleinen Weide sind viel, viel anheimelnder als diese Sonntagsblumen. Er findet keinen andern Namen dafür.

Das Heimweh ist ihm nachgehumpelt und setzt sich zu ihm auf das Bänkchen.

Und da soll er jahrelang leben in dieser prächtigen Öde? Zwölf lange Jahre? Ein Frösteln überläuft ihn bei dem Gedanken, und wie eine Sternschnuppe über den nachtdunklen Himmel huscht, so huscht ein Einfall durch seinen Kopf: davonrennen und lieber kein Pfarrer werden! Aber wenn sich jeder so dächte, gäb' es bald keinen Pfarrer und keinen andern Herrn mehr. Der Lipp will ein Herr werden, und der Fischerbub ein Doktor, und sie werden auch kaum davonrennen. Wenn es die aushalten, hält er es auch aus; vielleicht ist's zum Gewöhnen.

Der Zeiger der Turmuhr rückt immer weiter hinauf, und dann schlägt es zwölf und an allen Enden und Ecken der Stadt fängt es zu läuten an. Er nimmt sein Hütlein vom Kopfe und betet den Engelgruß, wie er es von daheim aus gewohnt ist, und dann hebt er sich langsam und zage und geht der Wohnung des Professors Schuster zu. In seiner Brust schlägt und hämmert es, in seinen Halsadern staut sich manchmal das Blut, und dann saust es wieder an seinen Ohren vorbei, fast wie das Gießwsser saust, wenn es nach einem jähen Wetterregen in Strömen über die Höhen und Gehänge niederbrauset ins Tal. Seine Eltern haben immer und immer aufgetragen: Nehmt nichts an von fremden Leuten; ihr braucht von ihnen nichts! Und jetzt muss er alle Tag' das Mittagessen nehmen von stockfremden Leuten wie ... wie hat ein richtiger Bettelbub. Warum darf er nicht auch in der Wohnung essen wie all' die andern? Warum? Weil halt seine Leut' nicht so viel Sach' und Geld haben wie etwa des Lippen Leute, die Schönberger, weil seine Leut' ... arm sind. Und warum sind sie arm? Ja, wenn einer wissen könnte, warum es Arme und Reiche gibt auf der Welt? Und es sind doch Leute, eins wie das andere, und alle stammen von Adam und Eva ab ... Wenn er überlings einen rechten Haufen Geldes fände und wenn sie nachher nimmer arm wären! Wenn!

Er kommt vor die Türe des Hauses, darinnen der Professor wohnt, und er bleibt unschlüssig stehen. Soll er hineingehen oder nicht? Was will er aber sonst tun? Es geht nicht anders; sein Vater hat es so ausgemacht, und er muss folgen ... Er schleicht hinein und tappt die Stiege empor, und als er an die Zimmertüre klopft, meint er, das Herz zersprengt ihm der ungestüme Schlag, und es fängt mitten am Tag zu nachten an.

»Herein!«

Und er geht hinein und bleibt an der Türe stehen. Soll er ... betteln? Ein Drücken zwängt sich in seinen Hals, er beginnt zu schlucken und schlingen dran und mit den Augenlidern zu blinken, und unversehens rollen ihm zwei große Tropfen die hochroten Wangen herab.

Eine etwas dickliche Frau kommt von der anderen Seite in die Küche, geht auf ihn und führt ihn zum Küchentische, und während die Köchin deckt und aufträgt, redet und schwatzt sie mit ihm, als kennte sie ihn schon die längste Zeit. Sie fragt nach dem und jenem, wie es ihm in der Stadt und in der Schule gefiele und vertröstet ihn, dass er sich in kurzer Zeit wird eingewöhnt haben. Die gute Frau mag vielleicht ahnen, was den schüchternen Jungen bedrückt, wenngleich sie die Schuld nur dem Heimweh zuschanzt, und tut ihr Möglichstes, ihm zu anderen Gedanken zu verhelfen.

Als er gegessen, sagt er »Vergelt's Gott!« wie gerade ein Bettler, rafft den Hut auf und hastet davon.

Das ist aber nur die ersten acht Tage so, bis er in jedem Hause einmal gewesen. Den zweiten Gang macht er schon leichter, und als er das dritte Mal die Runde gemacht, kommt ihm kein Gedanke mehr daran, dass er nicht viel besser daran als ein Bettelbub, wie er sich's das erste Mal gedacht. Er findet überhaupt mehr wenig Zeit zu solchem Sinnen; die Schule und der Lerneifer lassen ihn nicht dazu kommen.

Wohl knüpft die Mittelschule an die Volksschule an und muss anknüpfen, weil sie aus dieser zumeist ihre Schüler empfängt, aber ihm, dem Gaberl, kommt alles so ganz anders vor, und in den Büchern, die er von der Direktion leihweise überlassen bekommen, findet er eine Unmenge zu lesen, zu lernen und vorauszueilen, so gut es ihm gelingt, und besonders Latein macht ihm ein großes Vergnügen. Es hat auch in erster Reihe den Reiz der vollsten Neuheit für ihn, und mit jedem neuen Fortschritte wächst sein Eifer.

Im Grunde genommen wäre Latein heutzutage ebenso entbehrlich wie das Griechische, und wer es braucht, der hätte an der Hochschule Zeit, es zu lernen, aber es ist insofern von Wert, weil der Lernende mit dem Erlernen einer fremden Sprache gezwungen wird, tiefer in den Geist seiner Muttersprache einzudringen, und weil der Vergleich nicht der schlechteste Lehrmeister ist. Und zu solchem Zwecke eignet sich die lateinische Sprache wie nicht bald wieder eine andere.

Die Verbindung der Realschule mit dem Gymnasium zum Realgymnasium ist in mehr denn einer Richtung ein guter Wurf, weil der Realschüler gleichzeitig der besonderen Lichtseiten und Vorteile des Gymnasiums und der Gymnasiast umgekehrt wieder derjenigen der Realschule teilhaftig wird.

Darüber kommen dem Gaberl wohl keine Gedanken, und worüber er sich zu Zeiten wundert, ist nur, dass sie alle in ein und derselben Schule stecken, er, ein Pfarrer, der Lipp, der ein »Herr«, der Fischer, der ein Doktor und der Schildberg, der ein Ingenieur werden will. Wie sich die Sache am Ende noch ausgeht und zerteilt? Sie reden wohl mitunter dies und jenes darüber, aber so recht genau kennt sich noch keiner aus.

Der Lipp kann sich überhaupt nicht alsogleich in alles finden und schicken, und er entwickelt auch im Lernen nicht gerade den größten Eifer, während der junge Schildberg hübsch auf die dumme Seite geraten ist. Der Fischer, ja, der arbeitet fleißig, und sie halten sich so ziemlich immer die Waage.

Zu dem fühlt er sich auch am meisten hingezogen, und sie haben auch alles mitsammen, während der Lipp sich zusehends zum rechthaberischen, etwas hochmütigen Kunden entwickelt. Und was daheim auf der sonnigen Schönbergerhöhe nie so ernstlich vorgekommen, in der Stadt überwerfen und verfeinden sie sich für fast drei Wochen.

Es ist an einem schönen, klaren Sonntagnachmittage, wo sie alle drei mitsammen vor die Stadt hinausgehen und entlang des Flussufers dahinwandeln, von der Heimat reden und der Heimat in Sehnsucht gedenken.

»Ich wenn nicht gewusst hätte, ich wär' nicht hergegangen«, erzählt der Fischer. »Aber der Vater hat's einmal nicht anders haben wollen. Ich muss ein Doktor werden, sagt er. Dort und da bräche sich einer einen Fuß oder einen Arm, und er wird die meisten Male eingesperrt, wenn er die Leute wieder zusammenrichtet. Sein müsst' dazu einer, und wenn ich ein Doktor bin, können sie mich nicht einsperren ... Nein, ich hätt' mich nicht gerissen um das Stadtleben und um den Rauch und Gestank da herinnen.«

»Schöner ist's bei uns zehnmal«, sagt der Gaberl. »Aber es müssen auch Pfarrer werden, und wenn einer nicht studiert, wird er keiner. Ich geb mich halt drein und denk mir, dass sich alles wird gewöhnen lassen.«

»Aber das tät' ich nicht, dass ich betteln ging«, redet der Lipp.

»Wer ... geht betteln?« stößt der Gaberl hastig heraus und wird brennrot im Gesichte. »Ich vielleicht?«

»Ich mein schon«, bestätigt der Lipp herausfordernd und trotzig.

»Haben ja andere auch Kosttag' und gehen nicht betteln«, sucht der Fischer zu vermitteln. »Neben uns wohnt einer, der schon in die Dritte geht und noch allweil Kosttage hat, weißt, der Tannhopf.«

Dem Gaberl wird so, dass er dem Nachbarsbuben ohne Weiteres an den Kragen fahren könnte, und eine Unmenge von Verteidigungs- und Anschuldigungsgründen fällt ihm ein, aber er bringt vor lauter Scham und Ärger kein Wort heraus. Eine Weile steht er unschlüssig dort, dann aber wendet er sich jäh um und geht allein zurück.

Mit so einem Kunden redet er sein Lebtag kein Wort mehr, nimmt er sich vor, und weisen und zeigen tut er ihm auch nichts mehr. Und wenn einmal die Zeit um sein und er irgendwo als Pfarrer sitzen wird, nachher verdient er sich recht, recht viel Geld, mehr als sie im ganzen Schönbergerhofe haben, und dann hält er es dem »Herrn« vor, dass er einmal betteln gegangen sein sollt'. Wer weiß, was der Lipp dann für ein Herr ist? Auf recht breiten Füßen steht er schon in der Ersten nicht, und wenn er ein bissel höher kommt, wird er halt dann und wann ein Staffelchen zurückpurzeln, bis es ihm zuwider wird. Der darf gar nicht viel spötteln ... So sinnt und zürnt er in währendem Zurückgehen in sich hinein, bis er zur Schildbergschen Fabrik kommt und aus Fabrikraum und Garten Lärm und Geschrei hört.

Da führt der junge Schildberg, der Hans von Schildberg, gewiss wieder Krieg mit seines Vaters Arbeiterbuben. Er ist schon einige Male dazu eingeladen worden, ohne hingegangen zu sein, aber heute geht er hinein und tut nötigenfalls auch mit. Was liegt denn daran?

Eine Partei nimmt trotz heftiger Gegenwehr der andern gerade einen Graben in dem hübsch geräumigen Park, und ohne lange zu fragen, schließt er sich gleich dieser Partei an und geht dran und drauf. Als ihn aber er Hans Von ersieht, wird der Kampf sofort abgebrochen.

»Ja, das geht nicht«, ereifert sich der junge Herr und fuchtelt mit seinem Säbelchen gar wild um sich. »Gegen eine so große Übermacht kann niemand ankämpfen; ihr seid ein Mann mehr. Wir sollen immer mehr sein, denn die Franzosen sind immer mehr ...«

»Und kriegen Hiebe von den Deutschen«, erinnert der Sohn eines Werkmeisters, der die Bürgerschule besucht.

»Das ist aber höchst ungerecht, sagt Papa.«

»Gehört ihnen nicht mehr«, besteht der Bürgerschüler. »Wir Deutschen hauen überhaupt jeden ...«

»Jetzt muss der Seeböck den Oberbefehl über die Preußen nehmen«, ordnet Herr Hans an. »Und ich nehme mir noch drei oder vier Mann. Der Seeböck ist ein Student«, erinnert er den Bürgerschüler, der Einsprache erheben wollte gegen die willkürliche Vergebung seiner Würde. »Du kannst den Unterbefehl führen. Aber gewinnen müssen wir.«

Sie zerteilen sich und streifen eine Zeitlang im Buschwerke des Parkes hin und her, bis die beiden »Heere« bei einem auf künstlichem Hügel stehenden Schweizerhäuschen wieder zusammenstoßen. Die »Franzosen« haben diese Position besetzt, und die »Deutschen« gehen mit Hurra zum Sturm über. Aber trotz der Übermacht kriegen die ersteren wieder Hiebe, und der Gaberl nimmt den Oberbefehlshaber kurzweg gefangen.

Da schlägt der mit seinem Säbelchen derartig zu, dass von dreien Fingern des Gaberl das Blut zu fließen beginnt. Ein paar Augenblicke starrt der die blutende Hand an, und dann macht er Miene, den Kunden, der so wenig Spaß versteht, eine Weile zu zerbläuen. Aber der merkt die Absicht und fängt gleich zu schreien an wie ein Zahnbrecher. »Untersteh' dich und rühr' mich an!« zetert er. »Untersteh' dich nur! Dann sag' ich es Mama, und du kriegst bei uns nichts mehr zu essen.«

Da kehrt sich der Gaberl ab, als wenn ihn jemand ins Gesicht geschlagen hätte und verlässt hastig Park und Haus.

Der Ärger, den er mit dem Spiele vergessen, kehrt wieder und ist nicht kleiner, und die Scham und das Gefühl der Hilflosigkeit fachen ihn immer mehr an. Aber er kann sich leider nur mit der Zukunft trösten und sich vornehmen, dies und das zu werden und den andern zu zeigen, was alles er imstande. Es kommt ihm sogar der Gedanke, Soldat und Feldherr zu werden, und einmal diese Stadt zu besetzen und die Spötter recht zu demütigen. Wenn einer so und so viel studiert und gelernt hat, der kann nachher alles werden, selbst ein berühmter Mann, dessen Bild sie in allen Buchhandlungen in die Auslagefenster hängen und der von groß und klein angestaunt und bewundert wird. So einer zu werden wäre fast noch gescheiter. Krieg führen und eine Stadt belagern kann einer nicht alle Tage – es schimpfen die Studenten ohnehin schon genug über die vielen Kriege – aber etwas Großes anfangen, sel könnt' einer auch im tiefsten Frieden.

Er schlendert in die Stadt hinein, um sich im Schaufenster einer der Buchhandlungen das Bild eines jüngst zu großer Berühmtheit gelangten Schriftstellers anzusehen und danach seine Pläne einzurichten, aber es ist Sonntagnachmittag, und die Buchhandlungen haben ihre Läden geschlossen.


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