Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Lesabéndio ist oben in seiner einsamen Kammer und bereitet sich auf das Kommende vor. Er verliert schließlich alle Furcht und findet alles, wies auch kommen mag, nicht mehr furchtbar – auch die gänzliche Vernichtung nicht.

Dann wird das letzte Stockwerk am nächsten Morgen aufgerichtet, während alle Pallasianer lautlos zusehen. Mit der Lichtwolke gehen die kolossalsten Veränderungen vor. Sie zerreißt schließlich in der Mitte, und gelbe Lichtschlangen werden sichtbar, in denen Lesabéndio verschwindet.

In einer seltsamen Kammer war der Lesa. Hundert Meter war sie hoch. Von vierundvierzig Wänden war sie fast kreisförmig umschlossen – ganz regelmäßig. Boden und Decke waren ganz glatt. Und alles bestand aus bunten Häuten. Vor den vierundvierzig Wänden sah man Tausende von elektrischen Lichtern in die Nacht hinausstrahlen. Auch nach innen waren sie von bunten Häuten verdeckt, sodaß auch innen alles ganz bunt leuchtete.

Aber ganz kahl sah der große bunte Raum aus.

Und es war einsam hier.

Lesa saß auf dem Boden in der Mitte – vornüber gebeugt und ganz klein. Er blickte scheu umher und empfand das Kahle und Einsame des Raumes und wollte sich zerstreuen; er wollte lesen und tastete nervös mit den Fingern seiner feinen rechten Hand an seinem Halse herum – und er fand sein Halsband nicht.

»Ach so!« sagte er leise nach einer guten Weile, »das Halsband hab ich ja nicht mehr, das hab ich ja dem Biba geschenkt. Es ist das Einzige, was ich unten auf dem sogenannten Pallas-Rumpf zurücklasse. Peka ließ mehr zurück – große Ateliers und große Fundamente und ein großes Modell.«

Und nun war dem Lesa plötzlich, als wäre er nicht mehr allein; es ging ein so feines Surren durch den Raum.

»Bist Du es, Peka?« fragte er laut.

Und ihm war dabei so, als würde er etwas höher gehoben; er fühlte an seinem Saugfuß den Boden nicht mehr.

Und an seiner Kopfhaut fühlte er prickelnde Zweige, und er rief plötzlich:

»Bist Du auch da, Manesi?«

Doch da ward es ganz still. Die vielen elektrischen Lampen leuchteten wie vordem, und er fühlte wieder die Bodenhaut unter seinem Saugfuß.

»Die Rätsel des Lebens«, sagte er mit harter Stimme und nach oben gerichtetem Gesicht, »kann man wohl sehr ernst nehmen. Es ist aber wohl nicht nötig, wenn man sie immerzu sehr ernst nimmt. Man kann sie auch mal sehr lustig nehmen. Dadurch werden sie ganz bestimmt nicht unbedeutender. Es ist wohl nicht nötig, immer sehr ernst zu sein. Und grade, wenn man Abschied nimmt von alten Zuständen, dann könnte man wohl ganz besonders lustig sein. Jedenfalls wird die Veränderung der Lebensform doch einige Rätsel lösen. Und das kann uns doch ganz heiter stimmen. Man könnte sogar lachen, daß man so voll Bangen ist – da man nicht weiß, wie es kommen wird – ob es enden wird oder nicht. Daß man das nicht weiß – das ist doch nicht traurig. Man könnte darüber auch lachen.«

Er lachte aber nicht. Er befühlte seine durchsichtigen Hände.

Er dachte an die große Sonne und an das gewaltige Planetensystem und an den Asteroïdenring.

»Wenn ich das könnte!« rief er plötzlich begeistert, »die vielen Asteroïden, die so verschieden voneinander sind, einander zu nähern! Wenn ich das könnte! Oben! Aber – weiß ich, ob ich oben noch weiß, daß ich jemals etwas wollte? Wenn nun oben Alles zu Ende geht mit mir – dann lebe ich nicht mehr – empfinde nichts mehr von der Sonne und ihren Bewunderern. Dann ist Alles aus. Ist das traurig? Ist das zu beklagen, wenns mit mir kleinem Wurm für immer zu Ende ist? Muß ich nicht froh sein, daß es mir mal vergönnt war, hineinzublicken in ein großes Weltgetriebe, das viel größer ist als alles Andere, das mir nahe kam? Und – kanns mir nicht gleich sein, wies kommt? Wenn in ein paar Stunden alles aus ist – so kann ich doch nicht dafür. Warum bin ich traurig, wenn ich denke, daß alles aus sein könnte – da oben?«

Er breitete beide Arme weit aus und reckte sich hoch auf – so hoch er konnte – vierzig Meter hoch. Und er blickte hinauf zur Decke und schrie:

»Ich weiß nicht, ob ich noch etwas erleben werde. Aber darum bin ich nicht traurig. Ich will lachen.«

Er lachte aber abermals nicht.

Langsam wurde Lesa wieder kleiner.

Und als er ganz klein geworden, lächelte er und sagte:

»Daß ich wieder klein wurde, finde ich so lustig. Vielleicht werde ich so klein oben wie ein Quikkoïaner. Und die sind immer lustig. Sie freuen sich, solange sie sich freuen können. Warum soll ich mich nicht auch freuen? Und wenn ich noch viel kleiner würde, – ich würde mich auch freuen. Wenn nur das Große groß bleibt. Und das bleibt doch groß. Der unendliche Raum kann nicht so klein werden wie ein Punkt. Ich aber kanns. Und daß ich das kann, ist auch etwas Großes. Jetzt muß ich doch lachen.«

Und er lachte ganz leise ein wenig. Und dann lachte er immer mehr und immer lauter. Und er lachte so laut, daß die vierundvierzig Wände zitterten. Und er bemerkte das. Und er lachte noch einmal laut auf und war dann ganz still.

Da wars ihm so, als hörte er an allen Ecken und Enden immerzu leise lachen und kichern, und er rief:

»Warum lacht Ihr auch? Lacht Ihr über mich?«

Er horchte.

Doch jetzt hörte er nichts mehr.

 

Schon lange vor Anbrach des großen Morgens waren alle Pallasianer wieder hoch oben in der Turmlaterne. Und alle hatten dunkle durchsichtige Hautlappen oben an der Kopfhaut befestigt, sodaß sie die Teleskopaugen vor dem Glanz der Lichtwolke schützen konnten; während die Kopfhaut die Augen seitlich schützte, verdunkelten vorn angeheftete dunkle durchsichtige Hautstücke das grelle Licht der Wolke.

Als nun die Wolke sich nach oben zog und oben wieder zu blenden begann, begaben sich alle auf die obersten Balkons des Turms, und die Stangen des letzten Stockwerks drehten sich langsam mit ihren Hautstücken ganz gleichförmig nach oben, sodaß die Stangenspitzen einen Halbkreis beschrieben.

Nur Sofanti befand sich mit einigen Freunden im Innern der Laterne, um die Haut, auf der Lesabéndio saß, in der Mitte rechtzeitig zurückziehen zu können. Das ganze oberste Stockwerk mußte auch im Innern nach oben befördert werden. Sobald es oben angekommen war, riß durch einen einfachen Mechanismus die Decke in dem Raume, in dem der Lesa saß, auseinander, sodaß dieser von seiner Bodenhaut aus wie von einem Sprungtuch aus in die Höhe geschnellt werden konnte.

Alles war sorgfältig vorbereitet. Das Funktionieren der mechanisch arbeitenden Wandrollen hatte man schon in den unteren Stockwerken ausgeprüft, sodaß alles im richtigen Momente klappen mußte.

Keiner sprach oben ein Wort.

Draußen sah man lautlos zu, wie sich die Stangen langsam und bedächtig gleichmäßig nach oben drehten.

Auch Sofanti mit seinen Leuten im Innern schwieg.

Und von Lesa war nichts zu hören.

Als nun die Stangen immer höher kamen, sah man, daß die Wolke immer unruhiger wurde; große schwarze und graue Flecke bildeten sich in der leuchtenden Masse, und sie wurde am Rande, der sonst kreisförmig wirkte, unregelmäßig.

Dann bildeten sich elektrische Wirbel in den schwarzen und grauen Flecken. Die Wirbel rollten sich spiralförmig zusammen und sandten zuckende Wirbelblitze herum.

Danach erschienen am Rande große blaue, rote und grüne Kugeln, die sich fabelhaft schnell drehten und sich oben abplatteten, sodaß viele fast zu Scheiben wurden.

Die Erregung der Pallasianer stieg von Sekunde zu Sekunde.

Und die Stangen kamen immer höher.

Die schwarzen Flecke in der Lichtscheibe wurden plötzlich dunkelviolett, und die grauen Flecke wurden hellbraun.

Und nun wurden die Flecke immer größer, sodaß die Wolke schließlich nur noch ein seltsames Licht ausströmte, das sich aus Hellbraun und Dunkelviolett zusammenmischte.

Violette zitternde Scheinwerfer – wie Kometenschweife – schlugen nach unten und umzitterten die Spitzen der Stangen, die immer höher kamen.

Lesabéndio sah von alledem nichts. Er saß ganz still.

Und es wurde ganz finster in seiner Kammer

Er versuchte mehrmals, sich aufzurecken.

Aber er fiel immer wieder kraftlos zurück.

Er blickte jetzt nach oben und sah, daß die Decke seiner Kammer dunkelviolett leuchtete – bald heller und bald dunkler.

 

Dann entstand draußen ein furchtbares Geschrei.

Die Spitzen der Stangen berührten die Wolke, und die Wolke begann zu zittern.

Ein furchtbarer Donner wurde hörbar.

Und die ganze Wolke begann, an den Rändern zu blitzen.

Danach gab es einen Knall.

Und die Mitte der Wolke, die ganz dunkelviolett leuchtete, bekam plötzlich einen Riß, der gelb aussah und unregelmäßig wurde.

Gleichzeitig berührten die Spitzen der Stangen den violetten Teil der Wolke, und diese fing an, sich zu heben und zu senken – und dann immerzu auf und ab zu flattern.

Lesa fühlte plötzlich, daß neue Kräfte in ihm wuchsen – er konnte sich aufrecken – immer wieder noch ein Mal – und schließlich ganz hoch – fast fünfzig Meter hoch. Und er wollte springen.

 

Dann entstanden in der Mitte der Wolke immer mehr Risse.

Das Gelbe sandte mächtig glänzende Strahlen aus.

Und die Stangen gingen in das Gelbe hinein.

Und die Häute umschlossen das letzte Stockwerk – mit einem Ruck – alle Teile der Maschinen funktionierten so, wie man es gedacht hatte.

Danach riß das Mittelstück der Wolke ganz und gar auseinander. Und die violetten äußeren Teile traten weit zurück, und die ganze dunkelviolette Wolke trat immer weiter zurück und bildete einen dunkelviolett leuchtenden, unregelmäßig gebildeten Ring.

Und wo früher die Wolke war, sah man jetzt nur ein wogendes Lichtmeer von gelben Schlangenleibern, die auch leuchteten.

 

Und die Pallasianer, die an den äußersten Rändern der obersten Balkons saßen, sahen, daß Lesabéndio ganz lang wie eine lange braune Stange hineinschoß – in das wogende Meer der gelben leuchtenden Schlangenleiber.

Und die Schlangenleiber zitterten.

Und Lesabéndio verschwand.

Und ein karminroter Fleck bildete sich im Gelben und ward immer größer.

Sofanti sah zuerst diesen roten Fleck.


 << zurück weiter >>