Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Es wird zunächst erzählt, was während der Abwesenheit des Lesabéndio und des Biba auf dem Pallas geschah. Da sind zunächst vierhunderttausend der berühmten Knacknüsse gefunden und geknackt, und Dex hat mit Hilfe der Frischgeknackten einen Modellturm überm Centralloch gebaut, um die Idee des Lesabéndio-Turms populär zu machen. Er erreicht jedoch damit das Gegenteil und erzeugt eine starke Reaktion, die unter Pekas Führung sehr bedeutend wird. Zu Dexens Glück kommen Lesabéndio und Biba mit den zehn Quallensternbewohnern (Quikkoïanern) auf den Pallas zurück. Und die Turmidee wird jetzt, da der Turm nur zehn Meilen hoch werden soll, auch von den ältesten Pallasianern viel sympathischer begrüßt als bisher.

In der langen Zeit, in der Lesabéndio und Biba nicht auf dem Pallas lebten, hatte sich auf diesem vieles verändert.

Anfänglich wirkten die Biba-Bücher mächtig nach, und man sprach nur von den astralen Doppelsystemen, und es ließ sich nicht leugnen: die Pallasianer wurden dadurch immer mehr und mehr gereizt, auch die Art der Doppelnatur ihres Sterns kennen zu lernen.

Doch man trat noch keineswegs der Idee des Nordtrichterturms näher; man hielt diesen Plan im allgemeinen für viel zu abenteuerlich, für viel zu zeit- und kraftraubend, um seine Ausführbarkeit ernstlich in Erwägung zu ziehen. Man gab sich auch jetzt nicht einmal die Mühe, die Entfernung der Lichtwolke genauer zu messen – und auch der Dex dachte garnicht daran.

Das Verschwinden der beiden Pallasianer erklärte man sich einfach so, wie es den Tatsachen so ziemlich entsprach; man nahm eben als selbstverständlich an, daß ein vorüberziehendes Meteor oder ein kleinerer Stern die Beiden angezogen hätte. So waren schon öfters Pallasianer verschwunden. Es waren aber auch ein paar Verschwundene später wiedergekommen; doch das hatte sich schon sehr lange nicht mehr ereignet. Demnach behandelte man Lesabéndio und Biba eigentlich nicht mehr als Lebende; Niemand hoffte mehr, sie wiederzusehen – auch der Dex tat das nicht.

Weil man aber die Beiden nicht mehr als lebend betrachtete, deswegen erlangte das, was sie gesagt und erstrebt hatten, immer größere Bedeutung; man sprach immer heftiger über die Konzentration und über die Unterordnung der eigenen Ideen unter die größeren Ideen.

Was man jedoch als größere Idee anzusehen habe, darüber konnte man nicht einig werden; Dex redete wohl noch unentwegt vom Lesabéndio-Turm, aber er fand nur Anklang bei seinen nächsten Freunden, die mit ihm zusammen den Kaddimohnstahl in ungeheuren Massen und Längen aus dem Pallas-Innern herauszogen und bearbeiteten.

Nun gelang es währenddem dem Labu und seinen Freunden, riesige Mengen von den berühmten Knacknüssen zu entdecken und auszubuddeln.

Und Manesis neue Pilz- und Schwammwiesen entwickelten sich überall, auch in den Höhlen des Pallas, mit fabelhafter Geschwindigkeit, sodaß dem Aufknacken der neu gefundenen Nüsse bald nichts mehr im Wege stand.

Dex trieb zum Aufknacken der Nüsse mit all der Energie, die ihm zu Gebote stand.

Und so gabs plötzlich fünfmal soviel Pallasianer wie bisher; es lebten so lange gewöhnlich nur hunderttausend Pallasianer auf dem Trichtertonnenstern – und danach lebten plötzlich fünfmalhunderttausend Pallasianer ebenda.

Dex mit seinen Freunden unterrichtete die frisch geknackten Pallasianer sofort über die Bedeutung des Lesabéndio-Turms, und die Frischgeknackten nahmen die Turmidee mit großer Begeisterung auf, sodaß dadurch sehr bald alle bisherigen Verhältnisse in andre Bahnen gelenkt wurden; das ganze Bild des pallasianischen Lebens verschob sich; die Begeisterung der Kleinen ließ sich garnicht dämpfen.

Und der Dex verstand es, diese Begeisterung der vierhunderttausend Frischgeknackten sofort für die Turmidee fruchtbar zu machen; er erklärte ihnen, daß er mit ihnen zusammen ein großes Turmmodell herstellen müsse; und die meisten erklärten sich zur Mitarbeit sofort bereit.

Nun hatte der Dex, wie bekannt, im Nordtrichter über dem Mittelloch bereits ein Gestell aus Kaddimohnstahl hergestellt, das – weiter ausgebaut – ohne Weiteres als Modell für den großen Nordtrichterturm gelten konnte.

Und an der Herstellung dieses Modells in sehr vielen Etagen arbeitete nun der Dex mit den frisch geknackten Pallasianern in einer so heftigen, alle andern Interessen zurückschiebenden Weise, daß die alten Pallasianer ganz erschrocken aufblickten und nicht wußten, was sie zu dieser Energie sagen sollten.

Die Reaktion blieb natürlich nicht aus.

Peka stellte sich an die Spitze dieser Reaktion.

Peka sagte weich und milde:

»Es ist ja nicht zu leugnen, daß der Dex für die Umgestaltung unsres Sterns in sehr energischer Art tätig sein möchte. Und wir können natürlich auch nicht die frisch geknackten Pallasianer veranlassen, seinem Modellturm, der ja dem Pallas als solcher sehr wohl zur Zierde gereicht, fernzubleiben. Die alten Pallasianer können aber in ihrer Freundlichkeit nicht so weit gehen, daß sie sich von Dex und seinen neuen Freunden ganz einfach an die Seite schieben lassen. Die alten Pallasianer stehen in der Mehrzahl nach wie vor auf dem Standpunkte, daß die Ausführung des großen, viele Meilen hohen Lesabéndio-Turms eine ernste Gefahr für uns alle bedeutet. Zunächst ist nicht abzusehen, wie die Schwerkraftverhältnisse durch den hohen, viele Meilen hohen Turm auf den Pallas beeinflußt werden könnten; uns fehlt in dieser Hinsicht jeder Anhalt, und von wissenschaftlicher Berechnung des Ganzen kann gar keine Rede sein. Andrerseits würden durch eine derartige jahrelange Arbeit, an der doch alle Pallasianer Anteil nehmen müßten, die künstlerischen Pläne und Arbeiten jedes einzelnen Pallasianers vernichtet. Dem müssen wir aber doch vorbeugen. Wir können es doch nicht dahin kommen lassen, daß schließlich alle alten Pallasianer bloß Maschinen werden; wenn wir durchaus dem Willen eines Höheren gehorchen sollen, so müssen wir diesen Höheren zunächst als solchen in ungefähren Umrissen erkennen. Alle Kunstfreunde müssen so lange Turmfeinde sein, solange dieser Höhere uns als solcher noch nicht deutlicher geworden ist.«

Der Wirkung dieser milden sachgemäßen Rede konnten sich die alten Pallasianer nicht entziehen, und Dex hatte Mühe, die jungen Pallasianer zum Bleiben bei seiner Turmmodellarbeit zu bewegen. Diese Arbeit war keine kleine, da es galt, all das viele Kaddimohneisen von der Höhe des Trichterrandes zwanzig Meilen hinunter zum Centralloch zu bringen, wozu natürlich große komplizierte Zug- und Hemmaschinen und kolossale Schleifbahnen nötig waren; der Modellturm sollte sehr viele Etagen zeigen – in künstlerisch durchbrochener und vielfach ausgebauchter Form – aber über die Zahl der Etagen hatte man sich noch nicht geeinigt; Dex hätte am liebsten hundert gehabt; unter sechzig wollte ers in keinem Falle machen.

Die Zahl der Etagen blieb aber natürlich am Anfange des Baues ganz gleichgültig. Jedenfalls wollte Dex drei Meilen hoch in die Höhe gehen.

Wie eine Erlösung kams da dem Dex, dessen Lage stündlich schwieriger wurde, an einem Morgen vor, als er hörte, daß Lesabéndio mit Biba – zurückgekehrt sei.

Als ers hörte, rief er zunächst:

»Träume ich auch nicht? Ist es auch wirklich wahr?«

Und er ließ sich dreimal erzählen, daß die beiden Verlorengeglaubten oben auf dem Nordtrichterrande seien.

Und dann sprang er – er befand sich nicht weitab vom Centralloch – auf die nächste Bandbahn und stürmte auf dreißig Bandbahnen nach oben – den Ankommenden entgegen.

Er war so hingerissen von der neuen Nachricht, daß er garnicht daran dachte, eine Seilbahn zu benutzen, mit der er zehnmal so schnell nach oben gekommen wäre.

Das war aber ein Wiedersehen!

Kaum wurden die kleinen Quallensternbewohner von dem Dex beachtet; mit fliegendem Atem erzählte er von seinem Modellturm und von seinen immer größer werdenden Verlegenheiten.

Lesabéndio konnte am Anfange infolge der langen Raumreise garnicht sprechen, und Biba mußte erst sein Bein verbinden lassen, das von einem Eisenmeteoriten oberhalb des Saugfußes sehr gefährlich verletzt war; ein großes Stück des kautschukartigen Beinkörpers fehlte, doch hing dieser immer noch mit dem Saugfuß zusammen.

Nur die ältesten Pallasianer konnten sich an derartige Körperverletzungen erinnern; sie wußten aber auch, wie diesen zu begegnen war und machten den Schaden mit Pflastern und Bandagen bald wieder gut.

Der Biba vermochte am Anfange deshalb auch nicht gleich so zu sprechen wie sonst.

Somit sprachen anfangs nur die kleinen Quallensternbewohner, die sich nach ihrem Stern, der Quikko heißt, als Quikkoïaner vorstellten und durch ihre unzusammenhängenden Reden recht unverständlich blieben, was die Aufregung und Verwirrung der Pallasianer nur noch erhöhte.

Indessen – wie jubelte der Dex, als er allmählich vernahm, daß die beiden verloren geglaubten Pallasianer das Kopfsystem über dem Pallas mit Augen gesehen hatten!

Wie jubelte der Dex, als die zehn kleinen Quikkoïaner die Aussagen jener bestätigten und ergänzten!

Und als der Dex nun gar erfuhr, daß die Atmosphäre sowohl über wie unter dem Pallas nur zehn Meilen stark – und daß die Spinngewebewolke nur zehn Meilen vom Nordtrichterrande entfernt war – was die ungenauen Messungen niemals ergeben hatten – – – da kannte Dexens Jubel einfach keine Grenzen; er war einfach außer sich und sprang mehrmals hoch in die Luft hinauf und kehrte immer wieder gleich kopfunter zum Pallas zurück, sodaß sich aller Pallasianer eine ungeheure Heiterkeit bemächtigte, als sie diesen Jubel sahen.

Und sie empfanden alle diesen Jubel sehr bald mit, und sie beglückwünschten alle den Lesabéndio und den Biba zu ihrer glücklichen Raumfahrt.

Man fing gleich an, nochmals die Entfernung der Lichtwolke mit Sorgfalt zu messen, und entdeckte, daß die Entfernung tatsächlich nur zehn Meilen betrug. Und man wunderte sich sehr über die fahrlässigen Rechnungen einer früheren Zeit. Peka bemerkte nun gleich das Folgende:

»Das ist ja ein riesig großes Glück, daß wir endlich dahintergekommen sind, was hinter der Spinngewebewolke verborgen ist. Da brauchen wir ja den Lesabéndio-Turm nicht mehr zu bauen; jetzt kommt der Bau nicht mehr in Frage.«

Das hörte der Dex und stand ganz still und sagte dann milde und weich:

»Aber Peka! Was redest Du? Jetzt müssen wir doch grade den Turm bauen, denn jetzt wissen wir doch, daß er ganz bestimmt einen Zweck hat. Jetzt wissen wir doch, daß ein Kopfsystem da oben zu finden ist. Jetzt müssen wir dieses Kopfsystem doch kennen lernen. Und um das zu können, dazu brauchen wir doch den Turm. Und weil wir ihn brauchen, deswegen müssen wir ihn doch bauen.«

Peka strich sich sein Kinn mit einer seiner linken Hände und wußte nicht gleich, was er sagen sollte.

Er meinte nur kleinlaut:

»Der Plan ist aber doch zu groß. Wir riskieren, aus dem Gleichgewicht zu kommen.«

»Keineswegs!« versetzte nun der Dex, und er reckte sich fünfzig Meter hoch auf und machte sich ganz schnell wieder klein und wiederholte dieses Spiel immerzu.

»Was willst Du denn?« rief da der Peka ein wenig ärgerlich.

Da stand der Dex zehn Meter hoch ganz still und sagte sehr feierlich mit weit ausgebreiteten Armen:

»Peka! Peka! Hast Du nicht gehört, daß die geheimnisvolle Pallas-Wolke nur zehn Meilen über unserm Nordtrichterrande ist? Wir brauchen darum doch den großen Turm nur zehn Meilen hoch zu bauen. Es ist nicht nötig, daß wir ihn sechzig bis hundert Meilen hoch bauen. Unsre Meßinstrumente haben uns eben, solange wir nur auf unserm Stern lebten, der Spinngewebewolke gegenüber im Stich gelassen; wir haben sie zu hoch eingeschätzt. Aber jetzt schadet das ja nicht mehr. Wir haben uns bei unsern Messungen viel mehr mit dem Fernabgelegenen beschäftigt als mit dem Nächstliegenden – der Lichtwolke. Es ist unbegreiflich – aber bei unserm Interesse für das Ferne doch so natürlich. Denken wir nicht mehr darüber nach.«

 

Und nun erzählte der Dex abermals dem Lesabéndio und Biba von seinem Modellturm.

»Ich habe den Modellturm unten über dem Centralloch«, sagte er lachend und mit den Händen herumfuchtelnd, »so konstruiert, daß er hundert Meilen hoch gebaut werden konnte – hundert Etagen hoch. Ich habe aber erst die ersten zehn Etagen fertig gemacht. Und jetzt höre ich, daß ich garnicht nötig habe, höher zu bauen. Ja – soll ich das nicht einfach köstlich und entzückend finden? Jetzt kann Peka doch der Turmidee nicht länger feindlich gegenüberstehen; es handelt sich doch nur um einen Bau, der zehn Meilen hoch werden soll.«

Die alten Pallasianer lachten dazu, und der eine sagte schmunzelnd:

»Lieber Dex, wir haben vor drei Jahren den großen Nuse-Turm gebaut und wissen, daß er nur eine Meile hoch ist. Das war aber ein schönes Stück Arbeit. Zehn Meilen hoch ist zehnmal höher. So einfach ist das alles nicht.«

Doch es flog die Nachricht, daß der große Turm nur zehn Meilen hoch gebaut werden sollte, rasch von Mund zu Mund – und alle alten Pallasianer nickten bald zustimmend mit den Köpfen und alle sagten bald:

»Darüber ließe sich reden; jetzt ist die Turmidee reif.«

Als das dem Lesabéndio und dem kranken Biba hinterbracht wurde, freuten sie sich sehr.

Und als sie nun von dem Bau des Modellturms Weiteres gehört hatten und einsahen, was der Dex alles für die Idee getan, da empfand der Lesabéndio eine so stürmische Dankbarkeit dem Dex gegenüber, daß er garnicht wußte, wie er dieser einen Ausdruck verleihen sollte.

Und als der Dex herangesprungen kam, schrie ihm der Lesabéndio lachend entgegen:

»Dex, ich schenk Dir meine fünf Quikkoïaner, damit Du weißt, wie dankbar ich Dir bin.«

Und der kranke Biba rief auch:

»Dex, ich schenk Dir auch meine kleinen Quikkoïaner.«

Da freute sich der Dex mächtig.

Aber die kleinen Quikkoïaner machten einen fürchterlichen Lärm und riefen mit gellenden Stimmen durcheinander:

»Pallasianer! Was fällt Euch ein? Ist das Euer Dank gegen uns, daß Ihr uns wie Spielzeug verschenken wollt? Sind wir dazu mit Euch mitgekommen? Wir wollten Eurem großen Turmplan auf die Beine helfen. Und jetzt wollt Ihr uns wie Spielzeug verschenken?«

Sie fingen jämmerlich an zu weinen.

Da kam die Spinngewebewolke herab.

Und es ward Nacht auf dem Pallas.


 << zurück weiter >>