Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Biba spricht wieder mit Lesa über die Lichtwolke. Als diese runterkommt, entsteht auf allen Bergspitzen des Nordtrichterrandes ein großes Phosphoreszieren, wodurch die Pallasianer fast sämtlich nach oben gelockt werden. Manesi und Labu wollen dann eine riesige Blumenampel ins Attraktionscentrum hängen, ohne den Turm zu belasten. Das geschieht. Und der Turm wird zu einem Lichtfestturm. Ein Komet kommt vorbei und erhellt die Spinngewebewolke in der Nacht – so wie die Wolke am Tage vom Kopfsystem des Pallas erleuchtet wird. Dieser wunderbare Zusammenhang führt den Dex zum Weiterbau des Turms. Nax bekommt Heimweh und möchte auch zur Erde. Biba erzählt ihm etwas Wichtiges vom Jupiter.

Drei Tage später saßen Biba und Lesa am Fuße eines Nuse-Turms oben am Nordtrichterrande auf einem der glatt polierten rechteckigen Felsblöcke, die Peka dort hingebracht hatte, um Haut darauf wachsen zu lassen.

Die Saugfüße der beiden Pallasianer saßen fest auf dem glatten Stein, sodaß sich ihre Körper leicht nach vorn und rückwärts biegen konnten; taten sie das Erstere, so blickten sie hinab in das gigantische Schluchtenreich des Nordtrichters, bogen sie den Kopf zurück und nach oben, so konnten sie zum großen Turm hinauf blicken. Die Lichtwolke wurde oben fleckig; sie mußte bald hinunterkommen.

Und Biba sagte langsam:

»Man kann dem Dex das Zögern nicht übelnehmen. Eigentlich ist ja der Turm nur ein großes Sprungbrett für Lesabéndio. Für Dich, lieber Lesa, wird der ganze Turm gebaut. Du willst oben in das Kopfsystem des Pallas – mit ihm eins werden. Du willst nicht in einem anderen Pallasianer mal aufgehen. Du willst oben in dem großen Kometensystem aufgehen – willst selbst ein Komet werden.«

»Will ich das?« fragte Lesa leise.

Biba nickte und tausend Falten zuckten glitzernd über sein Gesicht.

Und da kam die Lichtwolke herunter und wurde dunkel, gleichzeitig aber bekamen alle Bergspitzen des Nordtrichterrandes einen phosphoreszierenden Glanz – und Funken spritzten von den höchsten Bergspitzen ab. Und das währte eine gute Weile, sodaß es alle Pallasianer sahen und in Scharen hinaufkamen zum großen Turm.

Das neue Wunder wurde eifrigst besprochen. Und man dachte lange nicht an den Schlaf auf den Pilzwiesen.

Natürlich brachte man die seltsame Erscheinung mit den kleinen Köpfchen in der Lichtwolke zusammen. Zu diesen gehörten zweifellos sehr lange, ganz feine Fadenkörper, deren Struktur allerdings nicht weiter erforscht werden konnte. Aber dieses Aufleuchten der Bergspitzen hielt man doch für eine Antwort der scheuen Wolkenwesen; diese Antwort konnte allerdings Niemand enträtseln.

Doch die Folge dieser Antwort war, daß jetzt alle Pallasianer nur noch auf dem großen Turm leben wollten. Im Südtrichter sah man schon seit langer Zeit sehr selten einen Pallasbewohner, auch im unteren Teile des Nordtrichters ließ sich selten einer sehen. Nur wenn alle schlafen wollten, kamen die Pallasianer zu den Pilzwiesen hinunter, die unten im Nordtrichter und im Südtrichter lagen. Selbst die Sofanti-Musik im Centralloch wurde vernachlässigt. Man mußte sogar oben auf den Nuse-Türmen neue Scheinwerferuhren anbringen, da die tiefer gelegenen von oben aus nicht ordentlich gesehen werden konnten.

»Das Interesse für den Lesa-Turm wird wieder größer werden!« sagte der Biba.

Und der Lesa nickte dazu und wurde sehr ernst, er sagte traurig:

»Ob ich nicht zuviel will? Du hattest vorhin meine innersten Gedanken erraten. Ja – ich will so, wie Du sagtest. Ich will ein Komet werden. Aber – so darf man wohl nicht sagen. Eins mit ihm werden – mit dem großen Lenker unsres Lebens! Aber – ist das nicht zuviel? Ich weiß nicht, ob es möglich ist.«

»Für mich«, sagte Biba rasch, »wärs zuviel. Doch ich möchte, daß Du das ausführen könntest – was ich nicht kann. Der Kühnste empfindet doch immer das größte Glück. Das vergiß nicht. Der Klügste ist nicht so leicht zum größten Glücksempfinden hinzuleiten; er ist kleinlich und bedenklich. Du aber sollst keine Bedenken in Dir aufkommen lassen.«

»Du schickst den Dummen voran!« sagte Lesa leise.

»Den Kühnen, lieber Lesa, will ich voranschicken. Ich habe nicht gesagt, daß der Kühne dumm sein muß. Daß er nicht der Klügste zu sein braucht, das wollte ich allerdings feststellen. Das darf Dich also nicht kränken.«

»Tuts auch nicht«, erwiderte der Lesa, »sehr klug erscheine ich mir selber nicht. Ich werde getrieben – von unbekannten Mächten – immerzu gradaus – zur Höhe empor. Und deswegen mußt Du Alles daransetzen, daß die Pallasianer das Leben oben auf dem Turm immer mehr schätzen lernen. Dex wird umgestimmt, wenn er sieht, daß alle sich oben sehr wohl fühlen – und wohl auch höher möchten.«

»Gut! gut!« erwiderte Biba, »ich habe schon das Meinige getan. Ich habe ein Büchlein über den Flügelwert der Pallasianer photographieren lassen. Außerdem ließ ich auch etwas über die grandiosen künstlerischen Perspektiven, die sich vom Turm aus eröffnen, photographieren. Der kleine Nax macht ein Flugblättchen über die kometarische Geschwindigkeit unsrer Seilbahnen oben auf dem Gerüst. Jeder Turm ist ja jetzt neun Meilen lang im Ganzen. Die Schiefe der Türme gibt auch einen famosen Blick nach oben und nach unten und in den Sternhimmel hinein. Die langsameren Bandbahnen zu benutzen, ist oben am Tage doch ein Genuß künstlerischer Art. Die Pallasianer werden schon wieder Vertrauen zum Turmbau bekommen.«

»Ich danke Dir!« sagte Lesa weich.

Biba jedoch fuhr eifrig fort:

»Ich habe den Dex auch darauf aufmerksam gemacht, daß die langen Stangen für das nächste Stockwerk am besten auf Rädern weitergeführt werden, die oben auf den schon festgemachten Turmstangen laufen. Radsysteme haben wir eigentlich nur in den Rollen der Bandbahnen. Die Räder sollten wir beim Bau noch öfters verwenden. Ich wundre mich sehr, daß wir das noch nicht getan haben. Immer wieder sehe ich, daß die Klügsten so häufig das Nächstliegende nicht sehen und sich alles schwieriger machen, als nötig ist. Ich fange an, die Klugen zu bemitleiden.«

»Das dachte ich auch schon sehr oft!« sagte der Lesa.

Und dann fuhren die Beiden rasch nach oben, allwo so viele Pallasianer in der Luft herumflogen, daß Biba lächeln mußte.

»Wie schnell bei uns ein kleines Büchlein wirkt!« rief er laut aus. Die Lichtwolke schien ganz hell, und Manesi mit Labu hatten Bibas Ausruf gehört, sie kamen herbei und fächelten lebhaft mit ihrer Kopfhaut.

»Ist es nicht seltsam«, rief der Manesi, »daß wir noch nichts im Attraktionscentrum angebracht haben?«

»Was sollen wir denn da anbringen?« fragte plötzlich lachend der Lesa.

»Da hängt doch«, sagte Labu, »eine ganz schwere Last – so gut wie von selbst. Der Pallasianer sinkt nicht, wenn er in der Mitte fliegt. Folglich sinkt auch eine schwere Last nicht, die an Seilen hängt.«

»Ich merke was!« rief Biba, »Ihr wollt wohl Manesi-Pflanzen in die Mitte hängen, nicht wahr?«

»Wir wollen«, sagte Manesi, »das Gerüst nicht belasten und trotzdem da in die Mitte was hineinhängen. Labu und ich – wir haben doch noch nichts am Turm anbringen können. Wir möchten eine Blumenampel in die Mitte hängen. Labu will die Ampel machen in großen knolligen und in bogenartig aufgebauschten Formen – mit Kugeln und Henkeln – Trauben und Schalen. Ihr wißt ja – so wie es Labu gern möchte. Wie groß die Ampel werden soll – müssen wir natürlich vorher ausprobieren. Wir nehmen die Seile aus dem Südtrichter. Und die Magnete können wir wohl auch in der Ampel anbringen. Das kann eine halb schwebende Insel werden. Die Blumen in Guirlandenform und die Stoffe für die Wurzelnahrung besorge ich. Seid Ihr einverstanden?«

»Selbstverständlich!« rief der Biba, und der Lesa sagte das auch. Und kurze Zeit darauf waren alle Pallasianer mit der Manesi-Labu-Ampel einverstanden.

Und man konnte ihr einen Durchmesser von dreihundert Metern geben. Soviel blieb im Attraktionscentrum schwebend, ohne den Turm erheblich zu belasten. Dex sagte zu Biba, nachdem er alles berechnet hatte:

»Eigentlich könnte die Ampel noch dreimal so schwer sein. Aber ich will sicher gehen. Jetzt können wenigstens die Guirlanden ruhig weiter wachsen an den Seilen.«

An acht Seilen wurde die Ampel befestigt. Und die Pallasianer umschwebten alle diese schwebende Insel. Und viele Pallasianer saßen auf dem Rande der Ampel und unter dem Rande in den trefflichen plastischen Arbeiten des Labu. In der Mitte der Ampel oben wurde eine kleine Pilzwiese angelegt, auf der immer nachts ein paar hundert Pallasianer schlafen konnten. Sie priesen dann immer die Morgenstimmung mit so großer Begeisterung, daß die Ampel schließlich ein Mittelpunkt für das ganze gesellige Leben auf dem Pallas wurde – Scheinwerfer brachte man ebenfalls am Ampelrande an. Und die Magnetsteine wurden für ein paar Seilbahnen verwertet, die direkt zum obersten Stockwerk hinaufführten.

Ringsum im ganzen Turm brachte man Lampions an, die aus durchsichtigen bunten Sofanti-Häuten hergestellt waren; Glas verwendete man nicht – seiner Schwere wegen.

Und so wurde der ganze Turm mit all den leuchtenden Nuse-Türmen zusammen ein einziger großer Lichtturm.

Und der Nachtbeginn, wenn die Bergspitzen unten phosphoreszierend aufglänzten, wirkte immer berauschender.

Nun gabs allabendlich stets ein großes Lichtfest, und man kam vom Turm nur noch herunter, wenn mans nötig hatte, unten auf den Pilzwiesen zu schlafen.

Auf der Ampelwiese schliefen in jeder Nacht andere Pallasianer, sodaß bald alle mal da oben geschlafen hatten.

Es hatte somit den Anschein, daß ein Weiterbau des großen Turms jetzt weiter keine Schwierigkeiten haben könnte. Und Dex wurde besonders von Sofanti und Nuse bestürmt, doch nicht weiter zu zögern.

Dex aber hielt sich trotz allem zurück und wollte nicht mit der Sprache heraus.

Da trat ein Ereignis ein, das der Gedankenrichtung der Pallasianer plötzlich eine ganz andere Wendung gab: ein großer Komet erschien und schwebte ganz dicht neben dem Pallas vorüber. Und dabei geschah etwas Ungeheuerliches: als die Lichtwolke eines Nachts herunterkam – wurde sie nicht dunkel wie sonst; das Kometenlicht machte die Wolke auf der einen Seite fast genauso hell wie am Tage, wenn die Wolke oben hing.

Hieraus ging für alle Pallasianer deutlich hervor, daß oben über der Wolke nur ein Komet das große Licht spenden könnte – ein gefesselter Komet.

Da wurde der Dex von so vielen Pallasianern zum Weiterbau des Turms aufgefordert, daß er sich beim besten Willen nicht weiter weigern konnte.

Und so beschloß der Dex, das nächste Stockwerk – und zwar nochmals gleich drei Meilen lang – unter einem Winkel von fünfundfünfzig Grad herzustellen.

Lesa war sehr glücklich; er war immer mit Biba zusammen, und die Beiden sprachen nur von dem großen Kometen hoch über ihnen, und von dem, der am Pallas vorbeizog zur Sonne hin.

Biba sprach immer wieder von der Sonne und von dem großen Ring, den die Asteroïden zusammen bilden müßten – entsprechend dem Saturn-Ring.

»Es ist Deine Aufgabe«, sagte er zum Lesa, »die Asteroïden zusammenzubringen; sie müssen zusammen wie eine einzige Masse wirken – mindestens müssen sie so einig untereinander sein wie die Pallasianer auf dem Pallas.«

»Du vergißt den Peka«, versetzte Lesa, »wir sind doch eigentlich noch nicht so einig. Und außerdem sollten wir nicht so übergroße Pläne haben.«

»Irrtümlich scheint mir das«, fuhr Biba fort, »bist Du einmal so kühn gewesen, daß Du Dich mit dem Kopfkometen des Pallas verbunden hast, so kannst Du auch dieses Kopfsystem gedanklich beeinflussen. Möglich ist es ja, daß Du oben ganz untergehst in dem Großen. Dann würdest Du Dein Persönlichkeitsbewußtsein vollkommen verlieren. Dann wäre vielleicht für Dich alles aus. Aber es ist doch auch möglich, daß Du da oben selbständig bleibst. Und dann kannst Du doch das ganze Asteroïdenheer zusammenbringen wollen. Ein derartiges Zusammenleben mit einem gefesselten Kometensystem muß doch in Dir eine riesig große Kraft entfalten.«

»Zu groß«, sagte Lesa, »erscheint mir das noch. An solche Gedankengänge bin ich noch nicht gewöhnt. Du weißt, was ich stets von der Ergebenheit dem großen Unbekannten gegenüber gesagt habe. Ich muß bei dem, was ich darüber sagte, bleiben. Ich kann davon nicht abkommen – so schnell wenigstens nicht. Dränge mich nicht.«

Biba lächelte und schwieg.

 

Da äußerte Nax zu Biba und Lesa, daß er Heimweh hätte.

»Du darfst nicht fort«, sagte Biba, »wir werden Dich oben beim Bau noch öfters gebrauchen.«

Da sagte der kleine Nax lustig:

»Meinetwegen bleib ich auch noch hier. Aber Ihr müßt mir versprechen, mich später mit einem Pallasianer zum Stern Erde zu senden. Ich habe neulich ein Buch gefunden, in dem wird erzählt, die Erdianer könnten garnicht von der tollen Idee abkommen, daß sich die Sterne gegenseitig so anziehen, wie die Sterne ihre Oberflächenstücke anziehen. Das finde ich so schnurrig. Und deshalb möchte ich die Erdianer, die ja die drolligsten Lebewesen unsres Sonnensystem zu sein scheinen, doch mal kennen lernen. Dann kann ich doch wieder mal tüchtig lachen. Ihr seid mir zu ernst.«

»Lieber Nax«, sagte da der Biba, »wenn einer von uns mal zur Erde hinwollte, sollst Du mitkommen. Aber so köstlich erscheint mir das Lächerliche dort nicht zu sein. Andrerseits finde ich, daß die Idee der Erdianer, wenn sie auch falsch ist, so unnatürlich garnicht genannt werden kann. Der Einfluß des Sterns, den die Erdianer Jupiter nennen, auf die Sonnenfleckenperiode der Sonne ist doch nicht zu leugnen. Fast zwölf Erdjahre ist diese Periode lang – in derselben Zeit umwandelt der Jupiter die Sonne. Beziehungen zwischen den Sternen sind also da.«

Nax rieb sich seinen kleinen Rüssel und sagte:

»Bei Euch muß man also auch das Lächerliche sehr ernst nehmen.«


 << zurück weiter >>