Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Elftes Kapitel

Der Quikkoïaner Nax hat eine große Idee, die aber nicht zu verwerten ist. Dex setzt darauf in einer Volksversammlung auseinander, daß zunächst vierundvierzig eine Meile hohe Türme oben gebaut werden müssen. Man macht dem Peka, Labu und Manesi Versprechungen, die aber während des Baus nicht gehalten werden. Peka ist ganz besonders unglücklich, daß seine Ideen nicht zur Ausführung gelangen. Als das erste Stockwerk nach sehr langer Arbeit fertig ist und wie ein Gerüst aussieht, ist dem Labu die Heilsalbe ausgegangen. Peka bekommt einen Krampfanfall, der schließlich dem Labu das gibt, was ihm fehlt.

Der kleine Nax vom Stern Quikko hing am Halsband des großen Lesabéndio und sagte mit seiner schrillen Vogelstimme:

»Großer Le, ich verstehe nur nicht, warum Ihr nicht ein großes Seil über den Nordtrichter spannt und Euch dann in die Höhe schießen laßt vom Seil aus. Was im Süden bei Euch geht, muß doch auch im Norden gehen.«

»Geht aber doch nicht!« sagte Lesabéndio, »die Spinngewebewolke oben muß wohl einen großen Druck ausüben. Wir kommen oben nicht sehr weit – kaum eine Meile. Mit dem Seile ist es schon versucht worden.«

»Ja!« versetzte der Nax, »da müßt Ihr schon den Turm bauen. Schade, daß Euch die Quikkoïaner nicht helfen können. Aber wir sind doch zu klein.«

Währenddem hatte der Dex schon oben die Stellen untersucht, an denen die Türme gebaut werden sollten.

Die festliche Stimmung war sehr bald verwischt. Eine rücksichtslose, tatgierige Hast packte die meisten Pallasianer – besonders die jüngsten.

Biba sah diese Hast und sagte zu Lesabéndio:

»Mir ist diese Heftigkeit der Pallasianer garnicht angenehm. Wir stehen vor sehr langwierigen Arbeiten und sollten daher etwas weniger beweglich vorgehen. Wer Großes erreichen will, muß zunächst bemüht sein, geduldig zu werden. Man muß es lernen, auch das Peinliche zu ertragen. Mein Fuß heilt nur ganz langsam. Und ich fürchte, daß bei den großen Turmbauten Verletzungen unsrer Gliedmaßen öfters vorkommen könnten. Damit müssen wir rechnen. Und darum sollten wir den Labu zunächst veranlassen, mehr von den berühmten Alten Salben herzustellen. Die kann er denn in hübsch glasierten Kruken auf dem Rande des Nordtrichters aufstellen, damit die Salben immer gleich zur Hand sind, wenn mal was passiert.«

Und nun fuhren die Beiden zum Labu und setzten ihm das auseinander; Biba saß auf Lesabéndios Rücken während dieser Fahrt.

Labu war natürlich gleich bereit, das Gewünschte herzustellen. Doch er brauchte dazu drei Tage und drei Nächte hindurch die Mitarbeit von hunderttausend Pallasianern; die Salben herzustellen, machte sehr viel Mühe.

Dex war währenddem mit der Untersuchung des Nordtrichterrandes fertig und erklärte feierlich in einer großen Volkssitzung im Modellturm der Mitte, daß überall oben genügende Mengen von Kaddimohnstahl vorhanden seien; die Magnetsteine ließen sogar die Anzahl der Stahlstangen erkennen.

»Nun bin ich aber der Meinung«, fuhr Dex fort, »daß wir Nuses ersten graden Turm sehr wohl mitbenutzen könnten. Wollen wir das aber, so sind wir wohl genötigt, noch drei andre grade Türme zu errichten, damit das erste Stockwerk des großen Turms ein regelmäßiges wird. Wir bauen die graden Türme wohl am besten an den Ecken eines Quadrats, dessen Seiten nicht viel mehr als zehn Meilen lang werden dürften. Zwischen den graden Türmen denke ich mir dann je zehn schiefe, sodaß wir das ganze Gerüst auf vierundvierzig Grundtürmen errichten.«

Dieser Vorschlag wurde nach längeren Reden angenommen. Peka sagte aber zum Schluß:

»Das Wort ›Gerüst‹ ist gefallen. Das scheint mir sehr bezeichnend zu sein. Ich glaube, daß das Ganze wie ein großes Gerippe aussehen wird, dem das Fleisch fehlt. Ich fürchte, der Lesabéndio-Turm wird zur Verschönerung unsres Sterns nicht viel beitragen.«

Großes Halloh entstand, und der Biba sprach danach:

»Nicht so heftig! das möchte ich immer wieder allen Pallasianern zurufen. Wir dürfen ein so großes Werk nicht so stürmisch anpacken, sonst geht uns zu schnell unsre Kraft aus. Peka kann doch die Fundamente für die Grundtürme in großen Kristallformen fest verankern. Labu kann die Knotenpunkte im Gerüst ganz nach seinem Geschmack gliedern und umschalen. Und Manesi kann überall, wo leere Flächen entstehen, seine Rankenpflanzen anbringen. Dadurch wird doch der Gerüstcharakter des Ganzen aufgelöst.«

»Das sind zunächst Versprechungen!« sagte der Manesi, »ich fürchte, daß uns die große weiße Wolke oben manchen Strich durch die Rechnung machen wird.«

Daran wollten nun die Meisten nicht glauben. Lesabéndio, Dex und Biba versicherten immer wieder, daß die künstlerische Ausgestaltung des großen, zehn Meilen hohen Turms, der Kopf- und Rumpfsystem des Pallas miteinander verbinden sollte, nicht vernachlässigt werden würde.

Peka bekam gleich den Auftrag, die Fundamentformen in Zeichnungen herzustellen. Und so gingen denn alle Pallasianer an die große Arbeit – manche mit sehr gemischten Gefühlen – besonders die Anhänger von Peka, Labu und Manesi.

Und nun entstanden zunächst die drei graden Türme, die dem ersten des Nuse entsprachen. Peka stattete bei dem einen das Fundament mit mächtigen Kristallblöcken aus, die sehr hell funkelten. Aber drei Türme blieben ohne die Kristallfundamente. Als die graden Türme so weit fertig waren, daß sie fest zusammenhielten und die nötige Tragkraft versprachen, wurden alle Arbeiter wieder von so nervöser Hast und Unruhe gepackt, daß man sofort die Herstellung der vierzig schiefen Türme in Angriff nehmen mußte. Man wollte baldigst Resultate sehen. An den vier graden Türmen hatte man zwanzig Tage und zwanzig Nächte fast ohne Unterbrechung gearbeitet.

Biba mahnte wieder zur Ruhe, er erklärte, daß der Pallasianer auch schlafen müsse, sonst könne sein Körper nicht die nötige Nahrung aufnehmen.

Widerwillig bequemte man sich zu längerer Nachtruhe. Aber dann gings wieder los, als säßen unruhige Hetzgeister den Pallasianern im Nacken. Und man dachte garnicht mehr an künstlerische Ausgestaltung. Man wollte nur alles so fest wie möglich machen, befestigte verankerte Stangen noch weiter dem äußeren Trichterrande zu in den Stein und brachte da auch starke Drahtseile an, mit denen die schiefen Türme festgehalten wurden.

Jetzt waren bald nur noch Stangen und Seile zu sehen.

Und nach hundert Tagen und hundert Nächten reckten sich vierzig schiefe Stöcke in die Luft – jeder war eine Meile hoch, und er hatte neben sich viele Stangen und Seile, mit denen er von hinten festgehalten wurde.

Das sah keineswegs entzückend aus.

»Wie ichs befürchtet habe«, sagte Peka, »so ist es gekommen. Das hab ich alles vorausgesehen. Jetzt haben wir eine herrliche Krone für unsern Stern zurecht gezimmert. Und uns tun alle unsre Glieder weh, und viele Pallasianer haben Verletzungen erlitten, sodaß von Labus vielen Salben nicht viel übrig geblieben ist.«

Biba, dessen Bein wieder ganz geheilt war, sprach in der Volksversammlung und bat alle flehentlich, doch ja Geduld zu haben. Und dann sprach er mit Peka allein.

Doch Peka sagte heftig:

»Die Versprechungen sind mir noch nicht gehalten. Ich habe erst ein einziges Fundament mit riesigen Kristallen umgeben – dreiundvierzig sind noch ohne Kristall.«

Nun wollte der Biba dafür sorgen, daß zuerst die Fundamente hergestellt würden. Da jedoch stieß er überall auf Widerstand.

Dex sagte:

»Wenn das geschieht, so werden wir niemals mit dem großen Turm fertig.

Die Fundamente würden mindestens zweihundert Tage und zweihundert Nächte beanspruchen. Jetzt müssen zunächst alle Türme oben miteinander verbunden werden, damit das ganze Gerüst feststeht und nicht mehr fallen kann.«

Und man tat in weiteren fünfzig Tagen und fünfzig Nächten, wie der Dex verlangt hatte.

Das war aber eine ungeheuerliche Arbeit, nach der alle ganz erschöpft dalagen und kaum die Glieder bewegen konnten. Eine mehrtägige Pause mußte eintreten.

Und da besuchte Lesabéndio den Labu in dessen großem Atelier, das neben dem des Peka lag.

Labu lag ganz traurig auf einer großen hellblauen Türkisschale und sagte:

»Lieber Lesabéndio! Wir sind hier ganz dicht neben Pekas Atelier, und ich habe den Peka schon zweimal sehr laut zu sich selber sprechen hören. Ich weiß nicht, was ihm fehlt. Verletzt beim Turmbau hat er sich nicht. Ich war bei ihm. Aber das ist es nicht, was mich so traurig macht. Etwas Andres macht mich traurig. Ich habs noch keinem bisher gesagt. Ich wollte zuerst mit Dir darüber sprechen.«

Lesabéndios Augen glühten wie zwei kleine Scheinwerfer, und er sagte ruhig:

»Ich bin auf das Schlimmste gefaßt. Sage nur, was Du mir zu sagen hast. Wir werden schon einen Ausweg finden.«

»Ich fürchte«, erwiderte Labu, »das wird nicht so schnell gehen. Du weißt: die Kaddimohnstangen sind sehr lang. Die meisten sind über dreitausend Meter lang, viele sind eine ganze Meile lang. Mit solchen Stangen da oben in der Luft zu hantieren, war sehr schwierig.«

»Das weiß ich doch«, rief heftig der Lesabéndio dazwischen, »halte Dich doch nicht so lange mit der Einleitung auf. Ich bin doch auch allmählich sehr ungeduldig geworden.«

»Du solltest«, versetzte Labu, »aber nicht so ungeduldig sein – Du am allerwenigsten. Aber ich will mich kurz fassen: sehr viele Verletzungen haben die Pallasianer beim Turmbau davongetragen – namentlich an den Saugfüßen. – Und – und – meine Salbe ist dabei aufgebraucht worden. Und ich weiß nicht, wie ich neue herstellen soll. Es ist mir ganz unmöglich, Flüssigkeiten zu bereiten.«

»Oh!« rief Lesabéndio, »das ist schlimm!«

»Ja«, fuhr Labu fort, »Tropfen würde ich mit Jubel begrüßen. Der Stern Pallas ist zu trocken. Zwanzig Quetschungen habe ich bei zwanzig Pallasianern bereits mit einer Masse eingerieben, die garnicht feucht ist und deshalb garnicht wirken kann. Die Ärmsten dauern mich. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Wenn wir auf dem Stern Quikko Flüssigkeit entdecken könnten . . .«

»Das nimmt ja«, sagte Lesabéndio, »zu viel Zeit in Anspruch. Das geht ja garnicht. Dann müßten wir ja mindestens zwanzig Tage und zwanzig Nächte pausieren.«

Nach diesen Worten hörten die Beiden in Pekas Atelier plötzlich einen furchtbaren Schrei, der in ganz unartikulierte Laute überging. Die Beiden sprangen auf und flogen zum Peka und sahen, wie er sich auf dem Fußboden wand wie eine Schlange – sein Körper zuckte. Und dann schrie der Peka noch lauter und rief plötzlich:

»Du hast mich zerstört! Du hast mir Alles genommen. Du hast mich vernichtet. Dein verfluchter Turm hat meinen Künstlerträumen ein erbärmliches Ende bereitet. Das kann ich nicht überleben. Du hast mich zerstört.«

»Still! still!« sagte Lesabéndio, »Du brauchst ja oben nicht mehr mitzuarbeiten. Du kannst ja hier in Deinem Atelier bleiben. Sei doch nicht so aufgeregt. Ich konnte doch nicht anders. Ich mußte doch auf meinem Wege bleiben. Zürne mir nicht! Vergib mir!«

Aber Peka schrie wieder wie ein Rasender, und große Tropfen stürzten aus seinen Augen. Und er sagte mit heiserer Stimme:

»Dein Trost nützt mir nichts. Ich habe die Hoffnung verloren. Jetzt habe ich nicht mehr die Hoffnung, daß meine Ideen jemals ausgeführt werden. Daran ist nicht mehr zu denken. Alles hat Dein Turm verschlungen. Du hast mir Alles zerschlagen – alle meine Brillanten – alle meine harten Granitblöcke. Du hast mich selbst zerschlagen. Für die Wunden gibt es keine Salben. Ich gehöre nicht mehr auf den Pallas. Was soll ich hier? Ich bin überflüssig. Und ich kann es nicht ertragen, überflüssig zu sein. Alle meine Träume von der glatt polierten Zukunft des Pallas sind zerflattert. Und ich kann das nicht ertragen. Ich möchte Deinen Turm zerreißen. Ja, das möchte ich, Lesabéndio!«

Und abermals traten dicke Tropfen aus Pekas Augen und rieselten über seine Wangen.

Labu aber sprang hoch auf und schrie plötzlich auch. Sein Schrei klang aber wie der Schrei der höchsten Seligkeit.

Wie ein Toller sprang Labu in Pekas hohem Atelier herum. Und dann riß er eine kleine Flasche von seinem Halsbande los, bückte sich zu Peka und rief:

»Ich habs! Ich habs! Peka, gib mir mehr Tropfen aus Deinen Augen! Dann kann ich wieder Salbe machen!«

Und er fing alle Tropfen, die aus Pekas Augen kamen, in seinem Fläschchen auf und lachte wie ein Toller.

Peka sah den Labu ganz verwundert an und sagte leise:

»Was ist denn das? Ich verstehe Dich nicht.«

»Oh!« rief da der Lesabéndio, »ich verstehe, was es ist. Das sind sogenannte Tränen – kostbare Flüssigkeiten. Vor langer Zeit sind schon bei einem alten Pallasianer, der verschwunden ist, solche Tränen entdeckt worden. Man sagte damals, er habe geweint. Weine mehr, lieber Peka! Den Labu wirst Du glücklich machen. Und die verwundeten Pallasianer wirst Du auch glücklich machen. Dein Schmerzensausbruch ist für uns ein großes Glück.«

Da sah der Peka die Beiden groß an. Und als ihm Labu von seiner Verlegenheit erzählt hatte, traten dem Peka noch mehr Tränen in die Augen.

Und da mußten plötzlich alle Drei furchtbar lachen – auch der Peka.


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