Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Fünftes Kapitel

Es werden zunächst die Veränderungen geschildert, die ein Pallasianer in sich empfindet, wenn er einen Gestorbenen in sich aufgenommen hat. Peka kommt in diesem Zustande zum Biba, der auf der Außenseite des Pallas wohnt. Dort beobachten die Beiden viele andere Asteroïden, und Biba spricht mit Begeisterung von Lesabéndio, der im Südtrichter von Manesi abgelehnt wird, im Nordtrichter aber im Dex den ersten tatkräftigen Freund findet. Dex schildert, was er alles entdeckt hat. Zum Schlüsse wird von der Geburt der Pallasianer gesprochen und eine solche geschildert.

Sobald ein Pallasianer einen Sterbenden in sich aufgenommen hatte, pflegte eine Veränderung seines Wesens bemerkbar zu werden; Eigentümlichkeiten des Gestorbenen übertrugen sich auf den, der den Gestorbenen aufnahm, und auch eine körperliche Vergrößerung und Stärkung aller Organe wurde dem Aufnehmer zuteil, sodaß diejenigen, die viele Sterbende in sich aufnahmen, eine immer größere Lebenskraft erhielten. Diese zeigte sich zunächst darin, daß der durch den Gestorbenen Gekräftigte mindestens eine ganze Nacht nicht zu schlafen brauchte und ohne Ermüdung weiter arbeiten konnte. Außerdem zeigte sich eine größere Unternehmungslust in dem Aufnehmer.

So kam es, daß Peka gleich nach erfolgter Bereicherung seiner Natur zu Biba fuhr.

Biba wohnte immer auf der Außenseite des Tonnensterns – da, wo nur sehr wenige Pallasianer wohnten; wer dort am Tage zu finden war, pflegte sich mehr mit den anderen Sternen des Himmels zu beschäftigen; man pflegte bei den auf der Außenseite des Pallas Lebenden immer sehr viele Anregungen zu finden – besonders solche, die auch für die weitere Ausbildung des Sterns Pallas verwertet werden konnten.

Um auf die Außenseite zu gelangen, konnte man nur ein paar schmale enge Tunnels benutzen, die sich nur mit Magnetschlitten befahren ließen – wenn man nicht über den Nord- oder Südtrichterrand springend und fliegend ans Ziel kommen wollte.

Peka benutzte einen Magnetschlitten, der nicht sehr schnell durch einen spärlich beleuchteten, engen und niedrigen Tunnel fuhr; die Magnetsteine der Endstation wurden elektrisch auf der Anfangsstation gestellt – und umgekehrt – und die Schlitten, die sich auf spiegelglatter gradliniger Bahn ganz leicht bewegten, standen auf allen Stationen in großer Anzahl da.

Auf der Endstation breitete Peka seine Flügel aus und stieß dabei mit dem Saugfuß auf den Boden mehrmals auf und kam so in die offene Grotte des Biba, der mit seinen Teleskopaugen die grünen Sterne im violetten Himmel betrachtete.

Biba freute sich, als ihn der Peka begrüßte. Und die Beiden sprachen gleich über Lesabéndios Nordtrichterturm.

»Lesabéndio«, sagte der Biba, »hat mich noch gestern auf einen Asteroïd aufmerksam gemacht, der ein Doppelstern ist. Sieh ihn Dir da drüben an; er ist heute schon ziemlich nahe der Pallasbahn – oben ist ein innerlich leuchtender Trichter und unten ein Kugelstern, dessen Pole rechts und links sind; der Kugelstern dreht sich mit erheblicher Geschwindigkeit. Möglich ist es nun, daß auf der Außenseite des Trichters Wesen leben, die von der Existenz der Kugel unten gar keine Ahnung haben, denn die Trichteröffnung ist viel größer als die Kugel unten. Da das Innere des Trichters glüht, während das Äußere ganz dunkel und runzelig ist, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß kein Bewohner durch die Trichterwand durchkommt. Und der untere Trichterrand ist nach oben aufgeklappt, sodaß da keiner rüberkommen wird. Kurzum: etwas Ähnliches kann bei uns auf dem Pallas auch vorhanden sein, denn unsre Spinngewebewolke ist doch etwas allzu merkwürdig.«

»Du meinst also«, versetzte Peka, der seine Teleskopaugen sehr anstrengte, »der Pallas hätte auch noch oben einen Kugelstern?«

»Warum«, fuhr da der Biba fort, »sollen wir grade einen Kugelstern über uns haben? Wie viele komplizierte Sternsysteme haben wir schon beobachtet! Stell Dir doch nur vor, lieber Peka, daß wir über zehntausend Asteroïden entdeckt haben, die mit dem Pallas zusammen unsre Centralsonne umkreisen. Und mehr als die Hälfte von allen diesen Asteroïden bestehen immer aus mehreren Sternen. Da drüben links von der großen Sonne, die auch unsre Centralsonne umkreist und mit gradezu unheimlicher Fixigkeit sich um sich selbst dreht – siehst Du einen kleinen Asteroïd, der aus sieben Sternen besteht, die sich um einen Kreisring drehen, der in der Mitte sich auch dreht. Dieser achtteilige Asteroïd ist vor vierzehn Tagen ein Mond jener großen Drehsonne geworden. Wir können vielleicht ebenfalls mal ein Mond jener Sonne, die die Erdbewohner Jupiter nennen, werden; sie zog schon mehrere Asteroïden in ihre Bahn hinein. Es ist überhaupt zu befürchten, daß die meisten Asteroïden in die Bahnen der anderen Sonnentrabanten hineingezogen werden. Selbst die Erde zieht uns zuweilen an.«

»Was könnte denn«, fragte nun der Peka neugierig, »über unserem Nordtrichter sein? Hast Du nicht eine Vermutung?«

»Es können«, sagte Biba, »ein paar hundert Meteoriten hoch über unsrem Nordtrichter herumkreisen – vielleicht in Bahnen, die nicht einmal einen Durchmesser von fünfzig Meilen haben. Wir wissen ja, daß die Meteoriten überall im Raume zu finden sind; Hunderte von Asteroïden sind scheinbar ganz unlöslich mit sehr vielen Meteoriten verbunden. Die Anzahl dieser Meteoriten können wir fast niemals feststellen; so gut sind unsre guten Augen denn doch nicht – denn es gibt Meteoriten von fünf Meter Durchmesser – das wissen wir. Ob es nicht noch kleinere Meteoriten gibt, wissen wir nicht. Aber – wie gesagt – über unsrer Spinngewebewolke ist schlechterdings ›Alles‹ möglich. Und deshalb ist Lesabéndios Plan, mit einem Turm von hundert Meilen Höhe . . .«

»Verzeih mal«, rief nun der Peka heftig, »vom Rande unsres Nordtrichters bis zum Rande unsres Südtrichters sind vierzig Meilen. Wenn wir nun hundert Meilen hoch bauen, so kann doch unser ganzer Stern . . .«

»Was dann kommt«, versetzte lachend der Biba, »wenn der Turm gebaut ist, das wissen wir nicht – das werden wir aber wissen, wenn wir ihn gebaut haben. Übrigens: sollte uns die Sache schädlich sein, so werden wir schon durch die Verhältnisse gezwungen werden, den Bau unvollendet zu lassen. Jedenfalls wäre aber doch eine solche Kappe, selbst wenn sie nur drei Meilen hoch gebracht würde, eine köstliche Bereicherung und Krönung unsres Sterns. Ich verstehe nicht, warum wir nicht auf Lesabéndios Plan eingehen sollen.«

»Dann müßten doch«, erwiderte Peka, während er seinen Kopf traurig nach vorn überfallen ließ, »alle anderen, rein künstlerischen Pläne in die Ecke geworfen werden.«

»Nein«, sagte Biba, »es wäre doch möglich, daß sich der große Turm sehr schnell aufbauen ließe. Man kann noch nicht wissen, wie viel Kaddimohnstahl der Dex in den nächsten Tagen entdeckt. Und dann: Lesabéndio ist eine Persönlichkeit, die niemals müde wird, weil sie allen Nebenausschweifungen aus dem Wege gehen kann. Lesabéndio ist keine Vergnügungs- und Genußnatur, und er kann sich ganz um einen großen Plan konzentrieren.«

»Künstlerisch«, sagte nun der Peka müde, »ist er aber auch nicht sehr bedeutend – daher gehts mit der Konzentration.«

»Das weiß er aber«, versetzte der Biba, »er weiß, daß er nur als Charakter groß ist. Ich aber frage Dich: ist das nicht auch etwas Großes?«

Währenddem saß Lesabéndio im Südtrichter neben Manesi und sprach mit diesem von seinem Stahlturm.

»Wir kommen auf der Außenseite unsres Sterns«, sagte Lesabéndio, »sehr wohl in das Spinngewebe hinein, aber das verbrennt uns ja die Haut. Schützen wir aber die Haut durch große Ballons oder Ähnliches, so tut uns das Spinngewebe garnichts. Wir müssen also oben auf der Spitze unsres Turmes ganz bequem so durch das Spinngewebe durchkommen, daß wir das entdecken können, was darüber ist – das was über uns ist und aller Wahrscheinlichkeit nach unsern ganzen Stern regiert.«

»Dein Turm«, versetzte da der Manesi, »ist also eigentlich nur zu Entdeckungszwecken da und nicht zu künstlerischen Verschönerungszwecken. Da tu ich nicht mit. Ich sags Dir ganz deutlich. So gern ich auch jedem Pallasianer einen Gefallen tue – allen kann man nicht zugleich dienen. Meine Rankenvegetation braucht den Turm nicht. Ich kann hier im Südtrichter Rankengewächse in großer Zahl anpflanzen – das weißt Du.«

Lesabéndio verabschiedete sich nach diesen heftig gesprochenen Worten von dem Ranken-Manesi.

Aber Lesabéndio sagte beim Abschiede:

»Deine Rankengewächse werden aber oben in freier Luft einfach köstlich aussehen – auch künstlerisch – und so meilenlang hängend – na – auf Wiedersehen!«

Danach fuhr der Turm-Pallasianer mit den schnellsten Seilbahnen auf Kneifzangen hoch hinauf zum Nordtrichterrande, wo der Dex den Kaddimohnstahl aus dem Pallas herauszog. Aufgeregt mit weit ausgebreiteten Rückenflügeln flog der Dex auf den Lesabéndio zu und rief gleich, als er diesen noch garnicht erreicht hatte:

»Eine Entdeckung! Eine Entdeckung!«

Und als sie nun zusammensaßen, sagte der Dex:

»Was ich vermutete, ist zur Tatsache geworden. Wir haben, wie Du wohl weißt, jetzt drei Stellen, an denen wir den Kaddimohnstahl aus dem Pallaskörper rausziehen können. Diese drei Stellen befinden sich oben auf dem Rande unsres Nordtrichters. Nun denke Dir: ich habe heimlich an verschiedenen Stellen – auch auf dem Rande des Nordtrichters – Experimente mit starken Magnetsteinen gemacht, die dort, wo Kaddimohnstahl gefunden ist, eine eigentümliche Kraftsteigerung erfahren und auch noch andere Eigenschaften zeigen. Nun ist mir durch einen Zufall gelungen, an vier weiteren Stellen Kaddimohnstahl auf Grund meiner Magnetsteinexperimente zu finden. Selbstverständlich habe ich sofort meine sämtlichen Freunde veranlaßt, den ganzen Nordtrichterrand mit Magnetsteinen abzusuchen. Ich habe die Hoffnung, daß wir noch an fünfzig Stellen Kaddimohnstahl finden. Dann würden wir das Material zum Nordtrichterturm gleich zur Stelle haben, und der Bau könnte in den nächsten Tagen in Angriff genommen werden.«

»Halt ein!« rief da der Lesabéndio, »das übertrifft ja meine kühnsten Erwartungen.«

»Oh«, fuhr der Dex fort, »noch mehr habe ich Dir zu sagen: ich habe Grund anzunehmen, daß der großartige Stahl ganz regelmäßig verteilt ist; wir hätten demnach garnicht nötig, den Stahl mühsam weiterzuschleppen; wir könnten vielleicht gleich dort die ersten fünfzig Stangen errichten, wo der Stahl gefunden wird.«

Auf Lesabéndios Gesicht zuckten tausend Hautfalten und glitzerten, und das Glitzern zeigte sich auch auf den gelben Flecken des ganzen Körpers – selbst die braunen Stellen des Körpers kamen in Bewegung – so sehr freute sich der Lesabéndio.

»Das übertrifft«, sagte er leise, »tatsächlich alle meine Erwartungen.«

»Ich«, sagte nun Dex, »trete daher selbstverständlich für den Bau Deines Turmes mit allen meinen Freunden ein. Aber wir sind ja nur wenige. Wen hast Du noch außer mir?«

»Eigentlich«, erwiderte Lesabéndio, »noch gar keinen – oder nur Zusagen, die nicht viel auf sich haben. Da ist der Sofanti heute morgen ja wohl für meinen Plan interessiert worden. Aber – Du weißt ja, wie langsam sich das alles entwickelt.«

»Wir müßten«, erwiderte nun der Dex zögernd, »noch etwas Anderes entdecken. Weißt Du – was?«

»Nein!« gab der Lesabéndio still zur Antwort und sah dabei die braune Haut des Dex mit den gelben Flecken aufmerksam an und sah rechts und links neben der braunen Haut mit den gelben Flecken den violetten Himmel mit den grünen Sternen – und ringsum auf dem oberen Rande des Nordtrichters die vielen weißen Berge und darunter auch die blauen und die grauen.

Dann sahen die Beiden zur weiß leuchtenden Nordwolke empor, die, wie sie wußten, aus sogenannten Spinngeweben bestand. Und die Beiden seufzten.

»Es ist doch eigentümlich«, sagte Dex, »daß wir die Gewebe noch immer nicht näher untersuchen können, in der Nähe sind sie nicht zu ertragen – sie brennen schon auf unsrer gefleckten Haut, wenn man sich fünfzig Meter von dem Gewebe entfernt hält. Wenn wir durch Ballonhüllen geschützt sind, brennt das Gewebe nicht – aber – es weicht zurück. Und wir brauchen nur den Arm aus der Ballonhülle rauszustrecken, so brennt gleich wieder unsre gefleckte Haut. Und so kommen wir nie an das Gewebe ran, und wir wissen nicht, wer es gesponnen hat – und wozu es gesponnen wurde.«

»Warum«, fragte nun Lesabéndio, »erzählst Du mir das? Ich weiß es doch. Und Du weißt, daß ich es weiß. Du weißt, daß das jeder Pallasianer weiß. Wo willst Du hinaus?«

»Hm!« sagte der Dex, »ich will nur sagen: das Gewebe ist nur ein einziges Geheimnis auf unsrem Stern. Aber es gibt deren noch mehr. Die großen Nüsse, die sich in den Bleiadern unsres Sterns finden, haben doch noch mehr Geheimnisse in sich.«

»Ach so!« rief da der Lesabéndio, »Du meinst – wir müßten noch mehr solche großen Nüsse finden – nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Dex, »dann hätten wir so viele Arbeiter, wie wir brauchen.«

Mit den Nüssen hatte es nun eine ganz besondere Bewandtnis: da staken nämlich die zukünftigen Pallasianer drin.

Das Geschlecht der Pallasianer zu vergrößern oder zu verkleinern – das hing ganz allein von den bereits lebenden Pallasianern ab; wollte man mehr Pallasianer haben, so brauchte man nur die in den Bleiadern gefundenen Nüsse aufzuknacken – dann sprang aus jeder Nuß ein neuer Pallasianer heraus.

Der Labu beschäftigte sich viel mit der Aufsuchung der großen Nüsse; zu ihm begaben sich nun die beiden Turmfreunde; sie wollten von ihm gerne wissen, ob man nicht eine größere Anzahl von Nüssen irgendwo entdecken könnte.

Für die Ernährung der frischgeknackten neuen Pallasianer mußte der Manesi sorgen; der wußte mit allen Vegetationsangelegenheiten wohl Bescheid.

In einer freien weißen Grotte oben am Rande des Nordtrichters fanden die Turmfreunde den Labu; er stand grade mit sechs Freunden zusammen; jeder von diesen sieben Pallasianern hatte einen schweren Bleihammer mit langem Stiel in der Hand.

Mit diesen Hämmern schlugen die Sieben mit voller Kraft auf die Nuß los – und da gabs plötzlich einen lauten Knall – und die Sieben sprangen zurück.

Und dann platzte die Nuß plötzlich – die Stücke der Schale flogen zur Seite – und heraus schoß wie eine Rakete – ein junger Pallasianer, der sich gleich ganz heftig mit allen seinen Fingern das ganze Gesicht und besonders die Augen rieb.


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