Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Drittes Kapitel

Lesabéndio schwebt langsam in großen Kurven durch den erleuchteten Nordtrichter hinab zum Centrum des Sterns, in dem die Sofanti-Musik ertönt. Er kommt durch das Centrum mit Sofanti in den Südtrichter, wo die Magnetbahnen zu finden sind. Nachdem die merkwürdigen Verhältnisse der Anziehungskraft, die im Südtrichter nächtlicher Weile vieles auf den Kopf stellen, erörtert sind, werden die beiden Führer Peka und Labu im Gespräch mit Lesabéndio vorgeführt. Danach wird die Scheinwerferuhr und das Einschlafen der Pallasianer um Mitternacht geschildert – dabei auch das Rauchen des Blasenkrautes.

Ganz langsam schwebte Lesabéndio zur Tiefe – immer mit dem Saugfuß am Hinterkopf – und dabei zog er bald den einen Flügel ein und bald den anderen, sodaß er kreiste in mächtigen hinuntergezogenen Spiralkurven.

Er kam an vielen, senkrecht aufragenden Nuse-Türmen vorüber, und er sah mit seinen Fernrohraugen alle Seiten des zwanzig Meilen tiefen Trichters und sah die vielen tiefen Grotten und all die Bergkegel, die vor den Grotteneingängen emporragten, und er sah die unzähligen breiten Brücken, die sich hoch über den Schluchten und Abhängen hinüberspannten zu den anderen Seiten, und er sah auch die vielen künstlichen Kuppeln, die manche Abgründe überwölbten – er sah die Kuppeln alle von oben – und sie waren sämtlich von unten aus von bunten Kristallampen durchleuchtet.

Die bunte Lichtfülle des Trichters berauschte den Lesabéndio. Da gabs nur eine kleine Anzahl von dunklen Stellen. Die großen Fruchtballons glitzerten in phosphoreszierendem Licht, und die Leuchtkäfer leuchteten auch, und die Pallasianer leuchteten ebenfalls. Aber all dieses »natürliche« Licht hätte den Trichter nicht sehr hell gemacht, wenn nicht die vielen bunten Lichttürme – und die unzähligen bunten Scheinwerfer, die sich immerzu nach allen Richtungen hin drehten, ihr künstliches elektrisches Licht in den Trichter hinausgestreut hätten. Dieses künstliche Licht hatten die Pallasianer mit großen Mühen überall dort angebracht, wo sich die Anfangs- und Endstationen der Bandbahnen befanden. Und diese Bandbahnen waren überall; sie gingen quer, schräg und steil nach oben und nach unten; da gabs zehn bis zwanzig Meilen lange Bandbahnen und unzählige kürzere; von diesen führten viele ins Innere der Grotten und Höhlen hinein, von denen aus man auch an einzelnen Stellen ins tiefste Innere des Sterns gelangen konnte.

Und auf den Bandbahnen sah Lesabéndio mit seinen Fernrohraugen, während er in großen Kurven im Trichter herumkreiste, die Pallasianer auf und ab fahren – mit blitzartiger Geschwindigkeit. Und da die Körper der Pallasianer an vielen Stellen des Trichters aufleuchteten, so sahen die Wände des Trichters so aus, als führen immerfort Funken nach allen Richtungen durch sie durch.

Dieses Funkengezuck bildete den Untergrund der Trichterwände; von diesem beweglichen Lichtuntergrunde hoben sich die bunten, ganz steif und unbeweglich dastehenden Nuse-Türme kräftig ab. Und die beweglichen farbigen Scheinwerfer traten mit ihrem Licht weit aus den Wänden des Trichters heraus, sodaß auch die freie Luft des Trichters beleuchtet wurde. Und es schwebten sehr viele Pallasianer und viele Leuchtkäfer in der freien Luft, und da die Scheinwerfer sich nach allen Richtungen hin bewegten, so wurden die Pallasianer und die Käfer auch von den Scheinwerfern oft getroffen, sodaß sie deren Lichtkegel oft durch ihre Gestalt und durch die Schatten, die sie warfen, seltsam belebten.

In der Mitte des Trichters – besonders im oberen Teile desselben, war das Licht der Scheinwerfer nicht mehr so wirksam; nur die größeren Scheinwerfer warfen ihr Licht in voller Kraft sechs bis sieben Meilen hinaus; das wirkte besonders oben sehr imposant, wenn die Lichtkegel zuweilen senkrecht nach oben hinaufgingen und dort die glitzernden Spinngewebewolken, wenn sie nachts heruntergekommen waren, beleuchteten.

Lesabéndio hielt sich mehr in der Mitte, sodaß er von den Scheinwerfern selten getroffen wurde.

Und er sah dann nicht mehr die Wände mit ihren Funkenspielen und Lichttürmen an – er blickte nur noch nach unten – in den Mittelpunkt des Sterns.

Dort unten im Mittelpunkt wurde es immer heller und heller – und noch viel bunter als rechts und links.

Und eine feine Musik mit ganz lang gezogenen seltsamen Tönen drang aus der Tiefe heraus.

Diese Musik kam aus dem Centralloch, das den Nordtrichter mit dem Südtrichter verband.

Hier im Mittelpunkte, wo die Trichterwände sehr zackig und an einzelnen Stellen nur eine halbe Meile voneinander entfernt waren, hier im Mittelpunkte bildeten sich immer beim Nachtbeginn großartige Töne, die durch den Luftzug entstanden, der von der so schnell herunterkommenden Spinngewebewolke hervorgebracht wurde.

Um diese Mittelpunktsmusik des Pallas, die natürlich am besten im Südtrichter zu hören war, zu verstärken und in melodiösen Fluß zu bringen, hatte man in dem Mittelpunkte viele dünne, zumeist sehr große Hautstücke so aufgespannt, daß sie die durch die zackigen Felswände hervorgebrachten Töne in merkwürdiger Weise variierten. Und da man die Hautstücke so angebracht hatte, daß sie leicht in andre Lagen zu bringen waren, so entstanden durch die beweglichen Hautstücke wundervolle Melodieen, die natürlich durch kleine und große Schalltrichter und besondere umfangreiche Metallinstrumente ganz orchestral gemacht werden konnten.

Sofanti hieß der Pallasianer, der die Hautstücke mit Hilfe seiner Freunde herstellte. Und bei Beginn der Nacht sammelten sich im Südtrichter immer sehr viele Pallasianer, die die neuesten Sofanti-Melodieen hören wollten.

Aber über dem Centralloch im Nordtrichter – dort, wo dieser nur noch anderthalb Meilen im Durchmesser hatte, – da hatte der Dex auf Wunsch des Sofanti mit Kaddimohnstahl ein großes Gestell errichtet, in dem von allen Seiten schräg nach innen gerichtet Stahlstangen standen, die oben durch einen Ring verbunden waren, und auf diesem Ringe waren abermals schräg stehende Stahlstangen angebracht, die auch oben durch einen wieder kleineren Ring verbunden waren.

An einzelnen dieser Stahlstangen hatte Sofanti seine neuesten großen Hautstücke – sämtlich in Scharnieren beweglich – angebracht.

Als Lesabéndio dieses Stahlstangengestell erblickte, riß er plötzlich seinen Saugfuß vom Hinterkopf los und rief laut:

»Dieser Sofanti! Da hat er ja eigentlich den großen Turm, den ich oben im Großen machen wollte, hier unten im Kleinen schon gemacht. Dieser Dex! Dieser Sofanti! Also ist meine Idee vom großen Turm garnicht so neu.«

Zufälligerweise war der Sofanti grade in der Nähe und hörte sich seine Trichtermusik von oben an – und als er den Lesabéndio so laut reden hörte, rief er ihn an:

»Lesabéndio«, rief er, »warum redest Du so laut zu Dir selbst? Ich habe ja jedes Deiner Worte verstanden.«

Da erkannte der Lesabéndio den Sofanti.

Und da sprachen sie denn sehr eifrig über den großen Stahlturm und über den kleinen Stahlturm.

Und währenddem rauschte die Centralmusik in ungeheuren mächtigen Akkorden auf, daß die Wände des Nordtrichters ganz fein zitterten – und daß die Pallasianer überall von den Bandbahnen absprangen und in die Luft hinausschwebten, um die mächtigen Akkorde der neuesten Sofanti-Musik ganz genau zu hören; diese Musik machte auf die Pallasianer fast einen größeren Eindruck als der große Nuse-Turm, der eine Meile hoch war.

Während Lesabéndio mit Sofanti in die Tiefe des laut tönenden Centralloches hinunterschwebte, stand der Nuse noch immer auf seinem Turm und blickte stolz umher in die dunkle Spinngewebewolke und in den bunten funkenzuckenden lichtkegelvollen Nordtrichter, in dem auch die andren Nuse-Türme glühten und leuchteten. Oben bei Nuse war es ganz still und kein Laut von der Centralmusik zu hören.

Aber im Südtrichter schallte die Centralmusik – oft mit tausend Echos – donnernd um die Felswände rum, daß die Pallasianer immer wieder das schnelle Fahren sein ließen und lauschend in der Luft herumschwebten – mit beiden Rückenflügeln und auch mit einem. Die Musik blieb eine volle Stunde hindurch hörbar; eine Pallas-Stunde entspricht ungefähr den vierundzwanzig Stunden eines Erdtages.

Der ganze Südtrichter bildete jedoch eine Welt für sich, die mit der Nordtrichterwelt wenig gemein hatte. Die Anlagen des Südtrichters waren älter und zumeist ganz anders als die im Norden. Das hing besonders mit den merkwürdigen Verhältnissen der Anziehungskraft zusammen.

Da der Stern Pallas im Innern sehr viele ausgedehnte Hohlräume besaß, so übten alle Trichterwände eine sehr verschiedene Anziehungskraft aus. Dazu kam noch, daß die Nachtwolke alle Schwergewichtsverhältnisse in sehr empfindlicher Weise verschob. Ein Gravitationscentrum kannte man nicht; im Südtrichter konnte der Kopf der Pallasianer ruhig nordwärts gerichtet bleiben – aber während der Nacht konnte man im Südtrichter den Kopf auch nach allen andern Richtungen hinbringen, ohne körperliches Unbehagen zu empfinden; es kam somit vor, daß Pallasianer auf großen Hautstreifen, die an manchen Stellen den Trichter quer durchspannten, mit ihrem Saugfuße auf der einen Seite saßen, während auf der andern Seite der Haut auch Pallasianer saßen, sodaß oft ein Saugfuß oben und einer unten eine Stelle des Hautstückes umschloß. Dieses nahegelegene Antipodentum wirkte von weitem gesehen zuweilen sehr komisch.

Nun war der freie Raum des Trichters von unzähligen Drahtseilen durchzogen. Und viele Hautstreifen waren zwischen diesen Drahtseilen; die Zahl der Hautstreifen, die nur zum Ausruhen benutzt wurden, war aber nicht sehr groß, sodaß der freie Raum als solcher immer noch bestehen blieb. Das Verkehrsleben spielte sich in diesem freien Räume ausschließlich auf den Drahtseilen ab – und zwar wurde der Pallasianer hier durch ein Magnetblech angezogen, sodaß die Bahnen »Magnetbahnen« genannt wurden. Das Magnetblech befand sich an den Knotenpunkten der Seilbahn und konnte dort beliebig gestellt werden – auch so, daß es seine Anziehungskraft verlor. Wollte nun Jemand auf einem Seilstück, das natürlich auch zwei bis vier Meilen lang sein konnte, an einem Ringe hängend rasch dahinsausen, so hatte er erst das Magnetblechstück der nächsten Knotenstation in die richtige Lage zu bringen, was durch eine Kurbelvorrichtung allerdings leicht zu bewerkstelligen war – andrerseits doch immerhin sehr viel Zeit beanspruchte, da manchmal ein Magnetblechstück auch von andrer Seite in Anspruch genommen wurde. Die Bandbahnen des Nordtrichters waren jedenfalls bequemer, zudem wurde das Magnetblech immer wieder durch die verschiedenartige Anziehungskraft der Trichterwände in sehr erheblichem Maße irritiert, sodaß es zum Beispiel sehr schwierig war, einfach schwebend dorthin zu gelangen, wo man hingelangen wollte. Im Südtrichter schwebten deshalb die Pallasianer nur sehr selten in der freien Luft herum: fast alle benutzten die langsamen veralteten Magnetbahnen; die meisten Bandbahnen des Nordtrichters gingen achtzig- bis hundertmal schneller.

Die Hälfte der Nacht – also eine Zeit, die ungefähr einem halben Erdmonat entsprechen würde – verbrachten die Pallasianer vielfach mit geselligen Zusammenkünften. Aber dort, wo man schnell mit einer notwendigen Arbeit fertig sein wollte – und solche Stellen gabs immer – wurde auch gearbeitet.

Die Zeit wurde in der Nacht – sowohl im Südtrichter wie im Nordtrichter – durch große automatisch tätige Scheinwerferuhren angezeigt. Aber dabei betätigten sich ein paar Hundert Scheinwerfer – sie standen immer unter besonderen Winkeln zueinander – und aus dieser Winkelstellung, die eine kurze Zeit unbeweglich im Trichter sichtbar blieb, entnahm der Pallasianer, wie spät es war.

Als die Hälfte der Nacht beinahe vorübergegangen, befand sich Lesabéndio mit dem Führer Peka und dem Führer Labu im Centrum des Sterns. Und die Drei sprachen natürlich nur von dem großen Kronenturm, den Lesabéndio auf dem oberen Rande des Nordtrichters erbauen wollte. Peka und Labu lächelten zu dem Plan.

»Woher die kolossalen Arbeitskräfte nehmen?« fragten sie Beide. Peka wollte den Stern Pallas durch kristallinische, regelmäßige, säulenartig eckige, gradlinig feste, hart und starr aufstrebende Steingebilde verändern; er brachte demnach seiner Wesensart entsprechend dem Plane des Lesabéndio wenig Wohlwollen entgegen und meinte:

»Der Bau mit Kaddimohnstahl will mir nicht sehr gefallen; ein kompakteres kantiges Baumaterial wäre mir lieber.«

Labu interessierte sich dagegen mehr für den Überzug; er wollte überall Glasur, Email, Stukkatur anbringen, um damit knorrige, wurzelartig dicke, kuppel- und schildartige Formen zu bilden; er wußte nicht, was er bei dem Lesabéndio-Turm machen sollte. Lesabéndio erklärte dem Labu, daß er die Punkte, in denen mehrere Stahlstangen zusammentreffen mußten, doch im Kuppel- und Wurzelgeschmack verzieren könnte. Doch man begab sich bald, ohne sich über irgendetwas geeinigt zu haben, zur Ruhe.

Die zweite Hälfte der Nacht und die erste Stunde des Tages pflegten die meisten Pallasianer zu schlafen.

Während des Schlafes nahmen sie durch ihre Hautporen ihre Nahrung auf; sie schliefen auf Pilz- und Schwammwiesen, die sich in den blauen und grauen Talschluchten und auf den blauen und grauen Höhenzügen der Trichterwände befanden; diese nahrhaften Schwämme und Pilze wuchsen während des langen Tages wieder aufs neue.

Bevor die Pallasianer einschliefen, bildete sich an ihrem Rücken ein Hautgewebe, das bei Eintritt der Müdigkeit sich nach beiden Seiten ausspannte und hoch oben über dem Körper sich zuschloß, sodaß sich der Körper des Schlafenden gleichsam in einem großen länglichen Ballonsack befand.

In diesem Ballonsack rauchte der Pallasbewohner sein Blasenkraut, das an einem seiner links befindlichen Arme festgewachsen ist und an einem Wurzelende in den Mund gesteckt wird. Zieht der Mund nun den aromatischen Duft des Blasenkrautes ein, so kommen später durch die Nase und durch die Hautporen kleine Blasen durch, die in dem Ballon größer werden und an der Decke des Ballons haften bleiben. Die Blasen reinigen den Körper – und sie leuchten.

Der Pallasianer leuchtet nicht mehr, wenn er schläfrig wird.


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