Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Siebentes Kapitel

Lesabéndio begibt sich zum Biba, der sehr viel von der Konzentration und von der Ergiebigkeit erzählt. Biba veranstaltet danach eine Buchausgabe, um über die Natur der Doppelasteroïden aufzuklären. Es werden nun viele neue Knacknüsse gefunden, und Manesi pflanzt viele neue Pilz- und Schwammwiesen. Der Bau des Nordtrichterturms wird aber dadurch keineswegs gefördert, da die Pallasianer das ganze Unternehmen für zu waghalsig halten; besonders wird die Größe der Atmosphäre bezweifelt. Lesabéndio läßt sich danach mit Biba vom Südtrichter aus in die Südatmosphäre hineinschnellen, um die Dicke dieser Atmosphäre kennen zu lernen.

Als nun Lesabéndio einsah, daß Manesi schon für die Ernährung der neuen Pallasianer sorgen würde – da atmete er erleichtert auf.

»Alles wird besser gehen, als wir dachten!« sagte der Dex.

Und Lesabéndio sagte, daß er allein sein möchte. Er sprang draußen im Südkrater in den einen Ring der nächsten Magnetbahn und fuhr davon.

Aber lange hielt ers nicht allein aus.

Und da besuchte er wieder den Biba, der ihn sehr freudig in seiner Höhle draußen auf der Außenseite des Sterns begrüßte.

Biba sprach gleich sehr heftig Folgendes:

»Das freut mich, daß Du kommst. Mir kommt es so vor, als hätte ich die Hauptlinie in unserm Sternsystem entdeckt. Es erscheint mir nicht zufällig, daß sich so viele Sterne um einen größeren Stern – um unsre Sonne – drehen und bewegen. Diese Verehrung, die alle Planeten dem Größeren, unsrer Sonne, entgegenbringen, hat für mich etwas Vorbildliches – für alle unsre Verhältnisse; auch die Pallasianer sollen so ein Größeres immer verehren – sich ebenso wie die Planeten an ein Größeres anschmiegen. Wo wir dieses Größere zu suchen haben – das ist eine zweite Frage, die Du, glaube ich, sehr schnell beantworten wirst.«

Biba schwieg und rauchte sein Blasenkraut und ließ dabei unzählige kleine Blasen zwischen seinen gespitzten Lippen durchfliegen, daß sie, bald sich vergrößernd, leuchtend in der Höhle herumwirbelten.

Lesabéndio sagte darauf:

»Natürlich haben wir dieses Größere hoch über unserm Nordtrichter hinter der Spinngewebewolke zu suchen.«

»Diese Antwort«, versetzte der Biba, »habe ich natürlich erwartet. Und deswegen freute ich mich, als Du kamst. An diese Erkenntnis von der Bedeutung des Größeren knüpft sich aber noch viel mehr. Was wir sonst als Konzentration zu bezeichnen pflegen, das läuft auch immer nur auf eine Verehrung des Größeren hinaus; wir müssen uns an das Größere anschmiegen, wir müssen uns ganz dem Größeren ergeben, wenn wir in unserm Innern beruhigt werden wollen. Und als ein Letztes erscheint mir immer das endgültige Aufgehen in diesem Größeren. Ich glaube, daß diese Zuneigung zum Größeren durch alle unsre Planeten geht. Nur so bringen wir einen Sinn in das ständige Umkreisen unsrer großen Sonne. Nun versteht es sich ja von selbst, daß wir das Größere an verschiedenen Stellen finden können; Du findest es über unsrer Nordtrichterwolke, ich finds in unsrer großen Sonne, und diese findets in einer größeren Sonne. Die Asteroïden sind in vielen Fällen so gebaut, daß sie ein Doppelsystem bilden, in dem immer der eine Teil das Größere ist; man kann dieses Größere auch als eine Art Kopfsystem auffassen. Jedenfalls sehe ich überall ein Sichunterordnen dem Größeren gegenüber, und in diesem Sichunterordnen sollten wir alle unser Heil suchen, denn es macht uns wirklich innerlich ruhig; nehmen wir uns selbst als Gipfelpunkt, so sind wir immer an einem Ende angelangt, das wir in unsrer unendlichen Welt nicht als etwas Herrliches begreifen werden. Um immer weiter zu kommen, muß man sich immer wieder unterordnen – ja, man muß seine besten Gedanken auch immer wieder einem größeren, noch nicht gleich verständlichen Gedanken unterordnen; tut man das nicht, so ermüdet man, wird schläfrig und schlaff. So ergehts ja vielen Pallasianern, die nur daran denken, in ihrer Art ihren Stern Pallas weiter auszubauen, ohne ihre Ausbaugedanken einem höheren Sterngedanken unterzuordnen. Und deswegen finde ich, daß es uns allen prächtig bekommen wird, wenn sich die Pallasianer von jetzt ab um Deinen großen Nordtrichterrand konzentrieren. Bist Du zufrieden mit dieser Erklärung?«

Lesabéndio war selig.

»Wie«, sagte er leise, »sollte ich etwas hören, das meinem Ohrsystem angenehmer klingen könnte! Alle Sofanti-Musik im Centrum ist einfach garnichts dagegen. Jawohl, ich glaube schon, daß dieses Sichunterordnen einem Größeren gegenüber das allertiefste Geheimnis unsres Sternsystems umfaßt. Mir ist es auch immer so gegangen, daß ich mich recht unselig empfand, solange ich nur mit mir selber zusammenhing – daß ich aber ganz ruhig innerlich wurde, sobald ich mich in Gedanken an den großen Unbekannten anschmiegte, der mehr von unserm Geschick weiß als wir – und der uns lenkt, wenn wir ihn auch nicht erkennen können, dorthin, wohin wir hingelangen sollen. Es ist dieses Sichanschmiegen an den Größeren so ganz mir zur zweiten Natur geworden, daß ich garnicht mehr anders kann. Mir ist so, als wenn der Große immer unsichtbar neben mir ist. Und ich glaube, daß ich ihn noch mehr erkennen werde, wenn wir oben durch die Spinngewebewolken durchgekommen sind. Konzentration ist zweifellos nur Unterordnung unter einen größeren Plan oder Gedanken. Und deshalb denke ich jetzt an nichts Anderes als an meinen großen Turm; Dex, Labu und Manesi sind auf meiner Seite, und nun sind wir mit Dir zusammen fünf.«

»Es haben«, erwiderte nun der Biba, »unzählige Weise auch auf andern Sternen immer wieder nur den einen Gedanken gehabt, daß grade nur die Ergebenheit uns mit unserm ganzen Leben versöhnen kann. Auf einzelnen Sternen sterben Millionen von Lebewesen in jeder Sekunde – dieses große Sterben ist nur dazu da, damit die Überlebenden die großartigen Schauer der Ergebenheit kennen lernen. Man nennt das zuweilen auf andern Sternen auch Religion. Und es ist ja auch so klar, daß wir eigentlich stets etwas vor uns haben müssen, das größer ist als wir; nur so bekommen wir immer wieder einen Begriff von der kolossalen Großartigkeit der Welt. Würde es uns so leicht sein, höher zu steigen, so würden wir die Welt nicht so als Größeres und Ganzgroßes empfinden; wir müssen immer wieder zurückgedrückt und ein wenig erdrückt werden, damit wir merken, wie groß das Große der großen Welt ist – wie wir diese Größe niemals ganz ausmessen könnten. Ja – jawohl – ich glaube, ein Leben auf der Sonne könnten wir doch garnicht ertragen; wir sind ja noch garnicht soweit. Wir dürfen das Größere ganz bestimmt nicht in unsrer eigenen Sphäre unter denen suchen, die uns gleichen – aber andrerseits dürfen wir auch das Größere nicht zu weit ab von uns suchen – und die Sonne ist wohl noch zu weit ab von uns.«

»Darum«, versetzte der Lesabéndio, »bleiben wir bei unserm Turm und bei dem, was über dem Pallas ist. Könnten wir nicht vom Kopfsystem des Pallas, das da oben über uns ist, sprechen? Gibt es nicht analoge Systeme unter den Asteroïden? Könnten wir nicht alle Pallasianer auf diese analogen Systeme energisch aufmerksam machen, damit man allmählich eine allgemeine Begeisterung dem Nordtrichterturm entgegenbringt?«

Biba sagte nichts dazu; er bat nur den Lesabéndio mitzukommen. Und sie begaben sich darauf zur nächsten Schlittenbahn, fuhren auf einem Schlitten zum Mittelpunkt des Sterns, eilten dort auf einer Bandbahn zur andern Seite und kamen dann durch einen Tunnel, in dem sich rasche Drahtseile horizontal bewegten, zur anderen Außenseite des Pallas, wo der Biba ganz riesige photographische Apparate aufgestellt hatte, mit denen unter großen Glaslinsen das ganze Himmelsbild photographiert wurde. Hier zeigte der Biba dem Lesabéndio die Photographieen, auf denen alle diejenigen Asteroïden zu sehen waren, die ein Doppelsystem darstellten. Da gabs sogar Kopfsysteme, die aus hundert kleinen, sehr kompliziert gearbeiteten Sternen bestanden. Bei andern Kopfsystemen spielten feine Lichtstrahlen und atmosphärenartige Wolkengebilde eine große Rolle.

Biba sah sich in drei Tagen nicht weniger als dreitausend Photographieen von Doppelsystemen ganz genau an, und dann beschloß der Biba, einige Bücher über diese Doppelsysteme herauszugeben und dabei den Stern Pallas als Doppelstern zu behandeln und zu erklären, daß die Spinngewebewolke selbst nicht das Kopfsystem zum Trichterstern Pallas darstellen könnte, da ein analoges Wolkensystem in dreitausend Doppelasteroïden bislang noch nicht gefunden sei; es müsse sich demnach das Kopfsystem des Pallas über der Spinngewebewolke befinden.

Und aus den kleinen Büchern des Biba, die in winzig kleiner Form auf photographischem Wege hergestellt wurden und bald am Halsband aller Pallasianer baumelten, ging allen Pallasianern klar hervor, daß eigentlich der Bau des Lesabéndio-Turmes nicht mehr aufzuschieben sei.

Labu fand indessen die berühmten Knacknüsse in großer Anzahl vor, und Manesi stellte zweihundert neue Schwamm- und Pilzwiesen zumeist im Innern der Pallashöhlen her, sodaß für die vielen neuen Pallasianer, wenn sie auch in großer Anzahl geknackt wurden, vollauf gesorgt war.

Gleichzeitig zeigte auch der Dex, daß der Kaddimohnstahl in ungeheuren Mengen vorhanden sei.

Und so hätte man glauben können, daß der Lesabéndio-Turm gleich gebaut werden würde.

Dem aber war nicht so.

Sehr viele Pallasianer kamen oft auf dem oberen Rande des Nordtrichters zusammen und sprachen über den Turm – und erklärten bald die ganze Idee für unausführbar.

Vergeblich sprach Lesabéndio über den Wert der Konzentration; die meisten Pallasianer erklärten eine derartige Turmkonzentration für den Tod aller künstlerischen Entwicklung; es wurde auch geltend gemacht, daß eine derartige mechanische Tätigkeit den Geist der Pallasianer verblöden müsse – und daß man bei der ganzen Sache nicht vorsichtig genug vorgehen könne; man behauptete, daß das obere Stahlgestell den ganzen Pallas in eine andere Lage bringen könnte – und außerdem bezweifelte man, daß über dem Nordtrichter die Atmosphäre viel über drei Meilen hoch sei; der eine Nuse-Turm war eine Meile hoch – und man beschloß, zunächst von der Spitze des Nuse-Turms aus die Atmosphäre, die höher lag, zu untersuchen.

Das hatte jedoch keinen Erfolg; man kam eben oben nicht so leicht höher hinauf.

Die Pallasianer waren alle sehr gefällig und immer bereit, einem Andern zu helfen; aber man war auch vorsichtig und sehr bedenklich; überrumpeln ließen sich die Pallasianer in keinem Falle.

Als daher Lesabéndio nach achtzehn Tagen (also nach anderthalb Erdjahren) den Biba wieder aufsuchte, waren beide anfänglich sehr traurig.

»Schlimm ist«, bemerkte der Biba, »der Zweifel an der Dicke der Atmosphäre; ich glaube selber nicht, daß die Atmosphäre überm Südtrichter und überm Nordtrichter viel mehr als zehn Meilen betragen wird. Würden wir auf einem anderen Stern leben, so könnten wir die Größe der Pallas-Atmosphäre ohne Weiteres angeben, da wir ja von einem anderen Stern aus nur die Atmosphäre unseres Sterns und nicht diesen selber sehen könnten. Wie wärs, wenn wir uns mit Hilfe der Magnetbahn unterm Südtrichter abschießen ließen?«

»Du meinst«, antwortete Lesabéndio, »wir sollen das äußerste Seil in der Mitte zurückziehen lassen und dann, wenns losgelassen wird, mit der ganz erheblichen Anfangsgeschwindigkeit in den Raum hinausfliegen, der sich südlich vom Südtrichter befindet. Ich bin damit einverstanden.«

Und ein paar Stunden später befanden sich die Beiden bereits fünf Meilen tief in der freien Atmosphäre unterm Südtrichter. Die Beiden schwebten mit fest am Rücken haftenden Flügeln zusammen durch die Luft; sie hatten sich mit einem nicht sehr langen Seile aneinander gebunden, sodaß sie sich bequem während der ganzen Luftexpedition unterhalten konnten.

Der violette Himmel war sehr dunkelviolett, und die grünen Sterne leuchteten, auch die grüne Sonne leuchtete, und ein grüner Komet schwebte nicht weitab mit einem vierzig Millionen Meilen langen Schweife, der scheinbar durch die Hälfte des ganzen Himmelsraumes ging, der großen grünen Sonne zu.

»Weißt Du auch«, sagte nun der Biba, »daß neulich der große Planet, den die Erdrindenbewohner Jupiter nennen, wieder einen kleinen Stern aus seinem Innern ›rausgestoßen‹ hat?«

Lesabéndio wußte noch nichts davon und ließ sich Näheres über diesen »Ausstoß« erzählen.

Währenddem rauchten die Beiden gemütlich ihr Blasenkraut, das ihnen wie allen Pallasianern an einem ihrer rechten Arme angewachsen war.

Die langen molchartigen Körper der Beiden glitzerten; sie hatten den Körper so weit wie möglich ausgedehnt – fünfzig Meter lang – und an keiner Stelle gekrümmt, sodaß sie wie zwei lange Stöcke aussahen.

Biba sagte, während er vom neuesten Jupiter-Ausstoß erzählte, noch Folgendes:

»Es ist zweifellos sehr wahrscheinlich, daß der Pallas vor Millionen Jahren aus seinem Südtrichter auch sehr viele Sterne ausgestoßen hat, sonst wäre die Trichterform unseres Sterns nicht erklärlich. Zweifelhaft erscheint mir aber, ob aus dem Nordtrichter auch Körper ausgestoßen sind; die Existenz der Spinngewebewolke ist doch zu seltsam. Aber man soll über die Vergangenheit der Sterne nicht zuviel nachdenken; zu sicheren Resultaten kommt man ja doch nicht. Indessen – ich merke, daß die Luft dünner wird.«

Sie waren nach ihren Meßinstrumenten, die sie an ihr Halsband vor dem Abgeschnelltwerden befestigt hatten, erst acht Meilen vom Südtrichter entfernt.


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