Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Achtzehntes Kapitel

Biba hält dem Lesa einen großen Vortrag über die Annäherungsmotive astraler Lebewesen, und Lesa hält das Gesagte für einen Beitrag zur Lösung des Persönlichkeitsproblems. Man entdeckt in Pekas Atelier ein großes Modell des Nordtrichterturms mit architektonischer Durchbildung. Viele Pallasianer bedauern, daß der Turm die Ausführung des Peka-Modells verhinderte. Die Ampel oben steigt aber höher, und man baut das nächste Stockwerk eine Meile hoch, Sofanti umschließt das Ganze mit Haut, sodaß der Turm seine Laterne hat. Labu ist verschwunden. Manesi geht in seinem Sonnenatelier ebenfalls wie Peka in Lesabéndio auf.

Biba wurde jetzt sehr lebhaft; er ließ den Lesabéndio fast garnicht mehr aus den Augen. Fast in jeder Stunde hatte er ihm neue Gedankengänge zu übermitteln. Und Lesa hörte immer aufmerksam zu.

Oben auf dem Rande der großen Manesi-Ampel sagte Biba eines Tages zwischen großen karminroten Blumen, die wie schlaffe kleine Luftballons unter dem violetten Himmel hingen, während die grünen Sterne heftig funkelten und die Lichtwolke oben strahlte:

»Lieber Lesa, wir denken wohl häufig, es könnte wohl verwunderlich sein, daß sich die Sterne einander nähern und so lange einander nahe sind. Ein bloßes Mitteilungsbedürfnis kann sie doch nicht zusammenführen. Um sich Gedanken mitzuteilen, dazu bedarf es keiner körperlichen Annäherung. Die Gedankenmitteilung ist durch Bücher und andere Schriftzeichen viel leichter herzustellen. Wenn wir Oberflächenwesen schon die fixierte Gedankenübermittlung kennen, so dürfte den Sternen noch eine ganz andere Art von verständlichen Schriftzeichen geläufig sein. Darum bin ich der Meinung, daß den großen astralen Lebewesen das Fixieren von Gedanken nicht so wichtig ist – wie das Formulieren von neuen Eigenschaften. Dieser wegen kommen sie zusammen. Und so läuft alles Zusammenkommen auf große lange Zeit hindurch vorzubereitende Umwandlungsprozesse hinaus. Die Sterne kommen eben zu andern Sternen, um ihr ganzes Wesen ein wenig oder recht energisch – umzuwandeln. Wie verwandeln sich nur die Kometen in der Nähe der Sonne! Bedenke das nur! Das ist das Deutlichste. Dieses Umwandlungsprinzip ist darum auch in den Oberflächenwesen der Sterne zu konstatieren. Denke an die sterbenden Pallasianer! Vielleicht ist alles Sterben in unserm Sonnensystem nur auf dieses große, überall bemerkliche Umwandlungsprinzip zurückzuführen. Da hätten wir einen Gedankengang, der wohl viele Rätsel einer Lösung etwas nähert. Andrerseits wird doch auch die Sonne durch ihre Planeten umgewandelt; der Einfluß des Jupiters auf die Sonnenfleckenperiode ist doch ebenfalls so außerordentlich deutlich. Vielleicht ist sogar der Pallas in der Lage, einen kleinen Eindruck auf das Leben der Sonne auszuüben. Wir könnens ja nicht bemerken. Aber vielleicht weiß das Kopfsystem oben Näheres davon. Vielleicht stehen wir der Sonne näher, als wir denken. Natürlich werden sich manche Sterne zu Zeiten auch gegen den allzu kolossalen Einfluß der Sonne auflehnen und sich dann eine Kruste zulegen, durch die sie ein wenig geschützt sind gegen die allzu heftigen Temperaturbeeinflussungen unsres großen Centralgestirns. So mags bei der Erde sein. Vielleicht kommt daher auch die etwas zurückgebliebene Geistesverfassung der Erdoberflächenbewohner. Der Pallas ist ja auch sehr hartkrustig. Aber er hat einen beweglichen Kometenkopf. Vielleicht stammt dieser doch aus dem Nordtrichter. Man müßte allerdings annehmen, daß dann dem Südtrichter auch ein Kometenkopf entstiegen sei. Aber über die Entstehung der Sternsysteme darf man ja nicht nachdenken. Was ist in diesen Kopf- und was ist Rumpfsystem? Das ist doch alles nur Bildersprache von uns. Möglich ist doch auch, daß das Kopfsystem oben ursprünglich garnicht an unsern Trichterstern gebunden war. Was ist nicht alles möglich! Wir sollen nicht darüber nachdenken. Das führt zu weit. Und wir würden wohl garnicht klüger, wenn wir Näheres von der Sternentstehung wüßten – oder wir würden vielleicht zu klug – was uns doch ebenfalls sehr schädlich sein könnte.«

Lesa sagte lächelnd:

»Das war eine famose Randbemerkung zum Thema: Persönlichkeit!«

Sie sprachen weiter über dieses große Thema. –

Währenddem waren die Freunde Pekas mit Labu in Pekas Atelier gefahren und durchstöberten da alle Ecken und Winkel der riesenhaft großen Räume. Und dabei entdeckten sie plötzlich eine Türe, die durch Druck nachgab.

Und sie sahen einen großen von der Decke aus hell erleuchteten Raum vor sich. Und im Fußboden dieses großen Raumes befand sich eine ganz genaue Nachbildung des Nordtrichters – aber mit unsäglich vielen kristallinisch gebildeten Felsmassen durchsetzt – mit glatten Wänden und mit großen Überkragungen – mit Terrassen und Türmen, Brücken und Geländern; auch viele Bandbahnen waren da, die sich so bewegten, wie die großen Bandbahnen draußen.

Das Modell hatte einen Durchmesser von ungefähr fünfzig Metern und drehte sich langsam automatisch um sich selbst. Von diesem Modell hatte bisher kein Pallasianer eine Ahnung gehabt; Peka hatte es heimlich ganz eigenhändig hergestellt. Es bewegte sich immer noch, und die nachgebildete Lichtwolke oben leuchtete auch noch immer. Das Ganze war an eine Elektrizitätsquelle angeschlossen und hätte sich noch Jahre hindurch bewegt, wenn man den Modellraum auch nicht entdeckt hätte.

»Welche Arbeit!« sagte Labu.

Man sah noch von oben mehrere Stricke herunterhängen; an denen hatte sich Peka angeschlossen, wenn er in seinem Modellturm die kleinen Modellfelsen anbrachte. Es sah wie eine Spielerei aus. Aber Pekas Freunde wurden doch sehr traurig, als sie das alles sahen.

Bei der ständigen Drehung des Ganzen ließ sich der rhythmische Wechsel in allen Raumteilen sehr gut beobachten. Und auch der Rhythmus in den Flächen wurde deutlich; er war durch farbige Linien und Bänder markiert.

In der Tiefe war das Loch des Planeten, und durch das sah man in den Südtrichter. Man versuchte nun zu diesem auch durchzudringen; es war aber zu eng, um einen Pallasianer durchzulassen. Nach langem Suchen fand man endlich eine Falltüre, durch die man in den unten gelegenen Raum gelangte. Dort aber lag noch alles ganz roh durcheinander; an den Südtrichter hatte Peka niemals ernstlich gedacht – allerdings schien ers wohl nicht für unmöglich gehalten zu haben, daß auch dort mal seine rhythmisierende Tätigkeit beginnen könnte.

Schnell wurden alle Pallasianer von der Existenz dieses Modells in Kenntnis gesetzt. Und Alle kamen, um sich die große langwierige feine Arbeit anzusehn.

Viele bedauerten beim Anblick dieses Modells, daß so wenig davon zur Ausführung gelangte; nur die Fundamente von drei Nuse-Türmen waren nach diesem Modell oben ausgeführt. Und diese drei – allerdings umfangreichen – Fundamente hatten dem Sofanti genügt, um ein überreiches Hautmaterial zu erzeugen.

 

Bald darauf entdeckten die Pallasianer ein neues Wunder: die Ampel, die oben im Turm so lange an den langen Drahtseilen hing, begann, sich unabhängig von den Drahtseilen zu machen; die Ampel fing an, zu steigen, sodaß die Drahtseile schlaff und eigentlich ganz zwecklos dahingen.

Nun hatten sich jedoch die Rankenpflanzen des Manesi weit auf den Drahtseilen fortgepflanzt; abschneiden konnte man also die Drahtseile nicht.

Die Ampel stieg immer höher; das Attraktionscentrum mußte demnach abermals ebenfalls höher gestiegen sein.

Und dann wurden die Drahtseile allmählich wieder straff – aber sie wurden jetzt aufwärts strebend straff, zogen also die Ampel runter und nicht mehr empor wie früher.

»Alles drängt nach oben!« sagte der Dex.

»Demnach müßten wir«, meinte der Sofanti, »doch wieder an die Arbeit gehen.«

Und dem stimmten die meisten Pallasianer bei. Und das nächste Stockwerk wurde hergestellt.

Dex wollte nur eine Meile hoch gehen.

Und da der Durchmesser des obersten Ringes mit den vierundvierzig Ecken nur eine gute halbe Meile lang war, so konnte man dieses Mal fast senkrecht die neuen Stangen ansetzen.

Das ging schneller, als man dachte.

Sofanti brachte seine Häute hinauf und umkleidete das neue Stockwerk ganz und gar.

Und da hatte die Turmspitze plötzlich einen Lampioncharakter; im Innern des neuen Stockwerks wurden Tausende von elektrischen Lampen angebracht.

Der Turm hatte nun oben seine »Laterne«.

Nuse, der die meisten Lichttürme im Nordtrichter gebaut hatte, war ganz besonders davon entzückt, daß jetzt der große Turm endlich zum vollendeten Lichtturm geworden war.

Aber Nuse sah jetzt mit Sorge der Lichtwolke entgegen und behauptete, daß sie sich wohl in das Innere des neuen Stockwerks hinunterlassen könnte. Und darum, meinte er, sei eine Überspannung oben durch Häute wohl angebracht.

»Ich wundre mich«, sagte er, »daß uns die Lichtwolke bislang so wenig hinderlich gewesen ist. Wenn sie kommt, fahren wir ja alle in die Tiefe. Aber nachdem wir sie elektrisch durchleuchtet haben, scheint sie sich immer weiter zurückzuhalten. Die kleinen Wesen mit den fadendünnen langen Körpern scheinen Furcht vor uns zu haben.«

Man war der Lichtwolke bereits sehr nahe gekommen. Am Tage war der Aufenthalt ganz oben im Turm nicht grade angenehm: die Lichtwolke leuchtete so heftig, daß die Pallasianer stets ihre Augen durch ihre große regenschirmartige Kopfhaut schützen mußten. Nachts, wenn die Wolke heruntergekommen war, konnte mans nur ganz kurze Zeit im Innern der Laterne aushalten; man konnte sich das nicht erklären, da die Wolke nicht durch das obere Loch durchkam.

Sofanti wurde demnach gebeten, doch oben das Loch mit Häuten zuzumachen. Er stöhnte ob des vielen Materials, tat aber schließlich sehr gern, was man von ihm verlangte.

Und als die Laterne oben zu war, konnte man die ganze Nacht im Innern der Laterne verweilen. Und das taten denn auch sehr viele Pallasianer.

Man wurde allmählich aufgeregt: man glaubte, daß jetzt die Lösung von unzähligen Lebensrätseln bald da sein würde.

Und fast Niemand dachte an künstlerische Ausgestaltung des Turms: man dachte nur an das, was hinter der Wolke lebte – an das große Kopfsystem des Pallas. –

Zu denen, die nicht von der allgemeinen Stimmung mitgerissen wurden, gehörten besonders Manesi und Labu.

Labu war nicht aufzufinden. Er hielt sich verborgen. Bombimba war gleichzeitig mit ihm verschwunden.

Wo die Beiden lebten, wußte Niemand.

Man suchte auch nicht nach ihnen, da Alle ganz von der Wolke gefangen genommen wurden und nur über diese sprachen.

Lesabéndio wurde so ehrfürchtig verehrt – als wüßte er ganz allein, was da oben sein könnte.

Und Lesabéndio wurde immer schweigsamer. Er gab Allen, die ihn ausforschen wollten, nur ganz kurze Antworten, sagte, daß er nicht mehr wisse als die Andern.

Dex zögerte mit dem Weiterbauen.

Aber er ließ unten von den Maschinen den letzten Stahl aus den Tiefen herausziehen und bereitete alles zum Weiterbau vor.

Biba blieb immer in Lesas Nähe, ließ ihn aber stets allein.

»Ich will Dich nicht stören!« sagte er öfters, »aber ich glaube, daß der Mutigste doch das größte Glück zu packen vermag.«

 

Manesi umschwebte immerzu seine große Blumenampel. Und dabei wurde sein Körper an einzelnen Stellen durchsichtig.

Und Manesi bat den Lesa eines Tages, ihm doch in sein großes Atelier zu folgen, das im Südtrichter lag.

Sie fuhren beide hin, und Manesi sagte müde und abgespannt:

»Ich glaube auch nicht mehr daran, daß jemals wieder künstlerische Neigungen auf dem Pallas die Oberhand gewinnen werden. Es geht alles ganz anders, als ich gedacht habe. Als Ihr damals zuerst mit der Turmidee kamt, sagte ich mir ja gleich, daß dadurch alles Künstlerische zurückgedrängt werden würde. Doch daß das so vollkommen geschehen würde – das hätte ich nicht gedacht. Fühlst Du nicht, lieber Lesa, etwas vom Peka in Dir?«

»Das schon«, versetzte Lesa, »aber das da oben ist mächtiger. Wir sind nicht die Herren unsres Schicksals.«

Danach sagte Manesi:

»Was Du dem Peka tatest, das tu mir auch. Ich werde Dir dankbar sein.«

Und Lesa war damit einverstanden.

Manesi ließ in seinem Atelier alle seine künstlichen Sonnen, durch die das Wachstum der Pilz- und Schwammwiesen so heftig gefördert wurde, plötzlich hell aufflammen und reckte sich ganz hoch auf. Und Lesa reckte sich auch hoch auf, und die Poren seines Körpers öffneten sich wie Rachen.

Ein paar Glühwürmer umschwebten Manesis Kopf.

Ringsum die vielen Ballonblüten der herrlichsten Manesi-Pflanzen schwankten träumerisch hin und her. Und in den größten Ballonblüten begann ein mächtiges Phosphoreszieren und ein großes Farbengezucke. Manesi sahs, lächelte, sah dem Lesa fest ins Auge – und verschwand in Lesas Körper.

Viele Ballonblüten fielen müde und schlaff zusammen.

Das Licht der künstlichen Sonnen wurde immer schwächer.

Es wurde bald ganz dunkel in Manesis Atelier.


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