Paul Scheerbart
Lesabéndio
Paul Scheerbart

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Zwanzigstes Kapitel

Das letzte Stockwerk wird nach oben gebracht. Die letzten Vorbereitungen zu Lesabéndios Aufstieg werden getroffen. Lesa gibt dem Biba auf dem höchsten Balkon noch besondere Anweisungen. Als Lesa allein ist, beugt er sich noch einmal über den Balkonrand und sieht zum letzten Male lange Zeit hindurch in den Nordtrichter, in dem viele Gesteine sehr heftig funkeln, was am Tage noch niemals beobachtet wurde. Dann spricht Biba mit Lesa über eine spätere Verständigung und über die Zukunft des Asteroïdenrings und über die Vergangenheit des Pallas. Lesa wird wieder mutig und bleibt oben allein. Alle Pallasianer schlafen in dieser Nacht unten. Am nächsten Morgen soll das letzte Stockwerk aufgerichtet werden.

Die letzten vierundvierzig Kaddimohnstahlstangen mit dem dazu gehörigen Hautmaterial wurden dann langsam von Stockwerk zu Stockwerk hinaufgezogen. Und man achtete darauf, daß das gleichmäßig geschah.

Während aber die Arbeit der Maschinen ganz ruhig vor sich ging, entstand oben in der Laterne eine immer größere Aufregung; das Durchstoßen der Wolke oben mußte in allernächster Zeit Klarheit schaffen. Alle Pallasianer glaubten, jetzt würde sehr bald das letzte Rätsel ihres Lebens gelöst werden. Ein Gespräch über künstlerische Angelegenheiten kam nicht mehr auf. Selbst Labu sprach nur noch von der Wirkung der letzten Stahlstangen, wenn sie einfach gleichzeitig oben in die leuchtende Wolke hineinstießen. Man wollte am frühen Morgen die große Tat zur Ausführung bringen.

Daß Lesabéndio sehr bald nach Aufrichtung des letzten Stockwerkes den Versuch machen wollte, sich oben mit dem Kopfsystem des Pallas zu vereinigen – das war Allen bekannt. Und die meisten Pallasianer hielten diese letzte Tat Lesabéndios für den würdigen Abschluß des Turmbaus und für das Allerwichtigste bei diesem Turmbau.

»Wenn dem Lesa das gelingt«, sagte Dex, »so ist die Zukunft unsres Lebens mehr oben im Kopf zu suchen als unten im Rumpf.«

»Wenn es«, sagte Nuse, »dem Lesa gelingt, ist es aber noch nicht feststehend, daß es einem zweiten Pallasianer ebenfalls gelingt.«

»Darüber brauchen wir noch nicht nachzudenken«, meinte dazu der Sofanti, »zunächst müssen wir wissen, wie wir den Lesa so hoch hinaufführen, daß er das, was er will, auch zur Tat machen kann. Ich habe deswegen an der Innenseite des letzten Stockwerks an allen vierundvierzig Stangen Räderwerke angebracht, die uns gestatten, das ganz oben befindliche, horizontal angebrachte, schützende Hautstück in ein paar Sekunden zur allerhöchsten Spitze des Turms hinaufzuschieben. Es ist alles vorbereitet. Aber es scheint mir vorsichtig zu sein, wenn wir noch ein oder zwei solche Hautstücke dem ersten nachsenden, wenn das erste zerreißen sollte. Hiermit müssen wir rechnen.«

Und nach kurzer Beratung beschloß man, noch drei weitere, horizontal abdachende Hautstücke hinter dem ersten aufzuspannen.

»Ich habe noch soviel Haut!« sagte Sofanti.

Und die drei Hautstücke wurden bald hinaufgeschafft und hintereinander in einer Entfernung von je dreihundert Metern unter dem obersten aufgespannt. Leicht auflösbare Klapplöcher befanden sich in jedem dieser Dachhautstücke.

 

Als nun die letzten Hautstücke langsam eines Morgens oben an der Laterne höher stiegen, saß Lesabéndio mit Biba zusammen außen am untern Rande des vorletzten Stockwerks auf einem der breiten, weit vorspringenden Balkons. Und die Beiden blickten nachdenklich in den violetten Himmel und in die grünen Sterne. Die Kopfhaut schützte die Beiden wie ein aufgespannter Schirm vor den blendenden Strahlen der Lichtwolke, die oben jetzt immer sehr heftig leuchtete, obschon sie öfters große schwarze Flecke zeigte, als wollte sie demnächst auseinandergehn.

Lesa sagte langsam:

»Ich traue meinen Kräften nicht so recht. Könntest Du nicht den Sofanti fragen, ob er das vorletzte Dachstück nicht so behandeln könnte, daß es, in der Mitte heruntergezogen und dann nachher losgeschnellt, so wie ein Sprungtuch für mich wirkt? Ich möchte zwischen den obersten beiden Dachhäuten allein sein und schließlich das oberste in der Mitte aufreißen, rasch auf dem vorletzten ganz hinaufkommen, plötzlich zurückgezogen und dann hinaufgeschnellt werden. Ich denke, daß ich so hoch genug komme.«

Biba versprach, den Sofanti zu verständigen, und eilte auf der nächsten Bandbahn davon.

Lesa saß allein und sah traurig in die Sternenwelt hinein.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke: er wollte noch ein Mal den Nordtrichter sehen.

Und er sprang mit einem Satz zum äußersten Rande des Balkons, hielt sich mit dem Saugfuß fest und beugte sich hinüber und blickte hinab in die Tiefe.

Er sah, wie die letzten Stangen an der Laterne langsam gleichmäßig hinaufstiegen. Und unten in der Tiefe des Nordtrichters sah er ein Funkeln in den Steinen, das er noch niemals dort gesehen.

Aber die Berge des Trichterrandes waren so fern, daß er seine Teleskopaugen ganz weit ausstrecken mußte, um noch ein Mal alles ganz deutlich zu sehen – Pekas Steinfundamente besonders – und auch die Nuse-Türme.

Es war da unten alles ganz hell und ganz still; kein Pallasianer schwebte da unten herum. Fast dreißig Meilen gings bis zum Centrum hinunter.

Die Manesi-Ampel konnte Lesa nicht sehen – und er bedauerte das. Und dabei mußte er sehr lebhaft an den Manesi denken, und er sah einige Ranken der Manesi-Ampel langsam unten an den Stricken, die zum Turm führten, hin und her schwanken.

»Es wäre wunderbar«, sagte er leise, »wenn an allen Turmstangen solche Manesi-Ranken hin und her schwanken könnten. Vielleicht sind wir doch zu hastig gewesen. Doch wir konnten ja nicht anders. Wir mußten doch erst hinaufkommen.«

Da sah der Lesa, daß sich das Funkeln in den Tiefen des Nordtrichters weiter hinaufzog. Und plötzlich funkelte es an so vielen Stellen im ganzen Nordtrichter, daß Lesa seine Teleskopaugen zurückziehen mußte; er konnte den neuen Glanz nicht ertragen.

Als Lesa wieder die Augen langsam vergrößerte, sah er das Funkeln nicht mehr.

Alles lag unten in der schauerlichen Tiefe still und feierlich da. Die weißen und blauen Felsen im oberen Teile des Trichters leuchteten ganz hell.

»Wie ruhig da unten Alles leuchtet!« sagte Lesa leise.

 

Als Biba zurückkam, blickte Lesa immer noch weit vorgebeugt am Balkonrande hinunter – in den großen Nordtrichter des Pallasrumpfes hinein.

Lesa merkte, daß Biba wieder da war; Biba lächelte und sagte sanft:

»Du nahmst Abschied!«

Lesa kam wieder zur Laternenwand. Und dann saßen die Beiden stumm nebeneinander.

Biba sagte:

»Sofanti macht alles so, wie Du es wolltest. Die Stangen werden noch vor Einbruch der Dunkelheit oben sein. Und morgen früh können die Stangen mit den Häuten aufgerichtet werden. Die Häute sind jetzt derartig an den Stangen befestigt, daß sie sich oben sofort zusammenschließen, ohne daß weitere Arbeit notwendig ist.«

»Ich danke Dir!« sagte Lesa, »ich fühle mich ganz wohl, obschon so viele Teile meines Körpers durchsichtig werden. Nur sehr kräftig fühlt sich mein Körper nicht.«

Biba richtete sich dreißig Meter hoch auf und rief:

»Ich glaube: ich fühle, was Du bald fühlen wirst.«

Dann wurde er wieder so klein wie Lesa, und dieser sagte langsam:

»Wenn ich nun dort oben weiterlebe, so will ich Dir ein Zeichen geben. Sei immer mitten auf der Ampel, wenn der Abend naht. Doch nein! Es ist ja garnicht wahrscheinlich, daß Nacht und Tag auch weiter auf dem Pallas wechselt wie bisher. Sei in Deinem Atelier – am Außenrande des Pallas – so oft Du kannst. Und ich werde versuchen, Dir meine Nähe anzuzeigen durch leise zitternde Töne.«

Biba nickte.

»Es ist vielleicht«, fuhr Lesa fort, »alles, was wir von dem Großen da oben gesprochen haben, ganz und gar falsch. Ich habe das Gefühl, daß alles ganz anders aussieht, wenn ich es oben – selbst vollständig verändert – durchschauen kann. Vielleicht ist es mir auch dort noch garnicht möglich, mehr von unserm Planetensystem zu durchschauen als hier. Ich glaube doch, daß die Welt so großartig ist, daß auch die Sterne ihre Großartigkeit noch garnicht erfassen können. Wir kommen wohl immer weiter – und sie, die Größeren, kommen auch immer weiter. Aber auch in der Erkenntnis kommen wir nicht an ein Ende. Die Welt, in der wir leben, ist in allen Beziehungen so, daß alles ins Unendliche führt und nicht zu einem Schluß. Das darf uns ja nicht traurig machen. Im Gegenteil! Gäbe es eine endgültige Lösung aller Rätsel, so könnten wir ja nicht mehr weiter.«

»Ja«, erwiderte Biba, »glaubst Du nun aber, daß ein Zusammenschluß der vielen Asteroïden möglich ist? Sie sind ja alle so verschieden voneinander, daß man daran wohl zweifeln kann.«

»Das«, erwiderte der Lesa, »habe ich mir auch schon öfters gesagt. Aber warum sollen denn nicht die Verschiedenartigsten zusammenkommen? Wenn ich bedenke, daß ich mit einem großen Kometensystem zusammenkommen kann – so können doch auch die vielen Asteroïden sehr wohl zusammenkommen, denn sie sind voneinander lange nicht so verschieden – wie ich von dem großen Kometensystem oben verschieden bin. Ich muß Dir allerdings gestehen, daß diese kolossale Verschiedenartigkeit zwischen mir und dem Großen da oben mich doch immer wieder mutlos macht. Ich wage beinahe nicht mehr, das zu tun, was ich wollte – und was Ihr jetzt alle auch von mir wollt.«

»Was ist kühn?« versetzte Biba hart, »ich möchte mich mit der Sonne vereinigen. Ist das nicht noch kühner als das, was Du vorhast? Allerdings – heute und morgen will ich das noch nicht. Ich denke nur, daß ich allmählich immer reifer werden könnte. Ich habe Dich bisher Deines Mutes wegen so viele Male bewundert. Ich glaube, daß der Mutigste das größte Glück haben wird. Bleibe Dir treu, damit ich Dir auch treu bleiben kann.«

»Aber«, sagte nun Lesa, »ich will garnicht mehr das größte Glück. Es gibt ja doch noch immer ein größeres. Ich denke garnicht mehr daran, daß ich selbst etwas will. Ich werde von einem starken Luftzuge weitergetragen. Ich kann garnicht mehr so, wie ich selber will. Ich muß so tun, wie der Luftzug es will. Aber ich frage mich, ob ich auch würdig bin, so von dem großen Luftzuge mit fortgerissen zu werden. Ich komme mir nicht so groß vor. Das ist es. Und ich bin traurig, daß ich nicht mehr so stürmisch weiterkann wie einst. Und ich fürchte, daß ich meine Schwäche verschuldet haben könnte durch nicht genügende Konzentration meines ganzen Wesens. Wie oft schweiften meine Gedanken ab und nahmen einen ganz gewöhnlichen Flug – dachten an Kleinigkeiten und unbedeutende Verhältnisse. Das macht mich traurig. Ich war nicht immer so ganz von Ehrfurcht vor dem Großen angefüllt – wie ichs stets hätte sein sollen.«

»Es soll«, sagte Biba, »doch wohl auch Ruhepausen geben. Wir dürfen uns nicht zu heftig anstrengen. Wir müssen doch auch mit unsern Kräften Maß halten.«

»Vielleicht«, versetzte Lesa rasch, »ging es dem Stern, den wir Pallasrumpf nennen, mal auch so. Und vielleicht kam dann das kometarische Kopfsystem und erweckte langsam wieder den sogenannten Sternenrumpf. Und darum mußten wir den Turm bauen.«

»Ich glaube«, versetzte Biba rasch, »daß es wirklich so ist. Und deshalb kannst Du ruhig wieder Mut fassen.«

»Ich wills versuchen«, sagte Lesa.

Und dann saßen die Beiden still da, und Biba legte seine rechte Hand in Lesas Linke und drückte die Hand.

 

Als es Nacht wurde, waren die letzten vierundvierzig Stangen allesamt ganz hoch oben.

Und die große Laterne leuchtete in die Nacht hinein.

Und Lesa bat den Biba, dafür zu sorgen, daß alle Pallasianer unten in dieser Nacht schliefen – damit sie frisch sein könnten am großen Morgen.

Und man tat, wie Lesa wollte.

Nur Sofanti blieb bei dem Lesa und öffnete ihm die Klapptüren, sodaß er in die oberste Kammer kommen konnte.

»Darf ich nicht bei Dir bleiben?« fragte der Sofanti darauf.

Aber Lesa sagte still:

»Laß mich jetzt allein. Und morgen früh leiste mir den letzten Dienst. Ich muß mich sammeln. Ihr werdet hören von mir – durch Biba – wenn ich mich hörbar machen kann. Das weiß ich ja noch nicht.«

Da strich Sofanti sanft über Lesas Kopfhaut und ließ ihn allein und begab sich auch nach unten auf die große Ampel, wo er bald einschlief – denn er hatte in der letzten Zeit mehr gearbeitet als alle andern Pallasianer.


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