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Fünftes Kapitel

Erasmus

Renate gewann sich erst wieder, als sie schon das Rasenoval in der Richtung zum Hause überschritt, und gewahrte sogleich von rechts her auf dem unter der Terrasse einherführenden Wege drei Gestalten, langsam schlendernd in kleinen Abständen wie schaulustige Fremde: zwei in schwarzen Lodenumhängen, von denen Einer sehr groß war, der Andre schwarzbärtig. Der Dritte in einem glänzend braungelben Ölmantel sah sich um, gewahrte sie und blieb stehn, indem er mit einer leicht zurückfahrenden Bewegung die Hände ausstreckte.

Nur flüchtig erkannte Renate in diesem Bogner. Denn sie stand, angewurzelt in einer betäubenden Dumpfheit, die schmerzhaft ihren Kopf und auch ringsum vor ihren Augen alles zusammenzog und verdunkelte, gespensterhaft anzusehn, da dennoch der Mittag glühte, wie eine Sonnenfinsternis. Und während sie inständig an der Frage nagte, wer jener große Mensch da vorn sei, zuckten mit blitzhafter Schnelle und Leichte Bilder des Tages durch sie hin: Das schmerzhaft dumpfe Sitzen und Reden beim Frühstück, Bennos betrübtes Gesicht; dann: wie sie auf der Bank gesessen hatte am Weiher, nun erleichtert, in einer süßen und trauervollen Hingegebenheit an das Licht und den Anblick der Grabesinsel, wo mehr als die eine Tote sich ausschlief. Die Wanderung mit Georg und ein heiliges Leichterwerden, immer leichter, ihrer Brust mit jedem ihrer Worte in der seltsamen Kapelle des Eichbaums. Und sie sah noch Georg in der Allee vor ihr stehn. Einen Augenblick später war all dies erloschen; sie spähte mit heißer Angst links und rechts, wohin sie noch entfliehn könnte, sah die Gestalten fern wie Gestalten eines Traumes und setzte sich jetzt schwer in Bewegung, gehend, ohne es zu spüren, und Schritt um Schritt mehr entleert von Bewußtsein. Sie sah die zwei Andern und sah sie auch nicht; sie ging auf den großen zu, auf Erasmus, der entgegenkam, den Hut in die Hand nehmend. Ihn starr anblickend fragte sie:

»Heut kommst du, Erasmus?«

Er erwiderte: »Es ist Charfreitag.«

Renate wollte noch nicht verstehn, obwohl sie aus dem Wort auch das unausgesprochene hörte: Dein ernstester Tag.

Warum war sein Gesicht so verzerrt? Diese furchtbare Erschöpftheit in den vorquellenden Augen! Und den Mund bewegte er geöffnet wie im Kauen. Dabei ging sie immer weiter, und er neben ihr, zur Terrasse, die Stufen hinauf, über die Fläche und in die offene Tür des Vogelsaals, wo sie dann keine Kraft mehr hatte und stehen blieb. Hier war eine kleine Tafel weiß gedeckt und mit Tellern am Rande. Sie mußte zu ihm aufsehn.

Tropfen standen auf seiner übermäßigen Stirn. Er bemühte sich offenbar schwer, ruhig zu scheinen. Sie fragte:

»Woher kommst du?«

»Von zuhaus.«

»Zu Fuß?« fragte sie wieder, um etwas noch hinauszuschieben.

»Zu Fuß«, sagte er stumpf.

»Dann hast du wohl Hunger?«

»Ja,« sagte er gequält, »Hunger.«

Sieh, da stand ein kleiner silberner Korb mit Brötchen, und sie hielt ihn schon und hielt ihn Diesem hin, der Hunger hatte, wie er sagte, aber er legte eine riesige flimmernde Hand darauf und sprach, während alles zu Boden fiel aus ihren plötzlich kraftlosen Händen: »Nicht danach!«

Ihr Kopf sank hintenüber; die Lider fielen zu; sie hob die Hände, legte sie auf ihre Brust und fragte so: »Willst du?« und stöhnte.

Dann fühlte sie, daß sie gehalten wurde, legte willenlos den Kopf an der Schulter fest, die sie fühlte, und verlor sich für Sekunden in einem Schluchzen der Geborgenheit. Im nächsten Augenblick hatte sie sich losgerissen, und sie schrie irgend etwas – »Warte!« schrie sie, »warte noch! einen einzigen Augenblick!« – und fand sich nach einer Flucht, von der sie nichts wußte, auf den Knieen liegend vor einem Stuhl ihres Zimmers, in einer Angst, einer Ratlosigkeit, einer Zerflammtheit der Not, in der ihr die Sinne vergingen. Sie schrie, ohne Wort, ohne Laut, um Hülfe nach irgendwem, sie stammelte Sinnloses: »Nicht beten! nicht beten! Brennen! opfern! ich kann nicht! muß es denn sein?« Und sie stand wieder, mitten im Zimmer, den Kopf in den Händen, wie blind.

Trotzdem gewahrte sie dann ihre Schreibmappe auf dem Tisch und wußte gleich, daß etwas darin war. Sie hielt sie schon in der Hand, klappte sie auseinander und zog, ohne sich zu besinnen, aus der innersten Tasche jenen großen, vergessenen Brief hervor, auf dem die Hand Josefs die Worte geschrieben hatte, die sie erkannte: ›Zu lesen nicht vor meinem Tode; auch dann nur bei Lebensgefahr.‹

Aber sie zitterte nun so, daß sie sich setzen mußte. Als nach einer Zeit ihre flatternden Hände sichrer geworden waren, riß sie den Umschlag auf, nahm einen Pack stark und schwarz beschriebener Blätter heraus und las dort, wo ihr der Anfang zu sein schien, die Worte: ›Auszug aus meinem Tagebuch vom 28. März bis zum 3. April‹ und eine Jahreszahl. 28. März – das war der Todestag ihres Vaters. – Sie las weiter den Eingang: ›Seltsame und kaum zu erwartende Begebnisse …‹, und in einer der nächsten Zeilen das Wort ›Erasmus‹.

Es betraf sie, sie und ihn, da war kein Zweifel. Nun versuchte sie zu lesen, aber die Buchstaben tanzten vor ihren Augen bis zur Zimmerdecke hinauf; sie wartete, aber umsonst, und – Nein, das muß er doch lesen! dachte sie und ging zur Tür. Die Tür zum Vogelsaal, die gleich dahinter zu liegen schien, öffnend, sah sie den Erasmus mit dem Rücken nach ihr stehn. Während er sich wandte, erschien neben ihr Egloffstein mit einem Tafelaufsatz, und sie winkte Erasmus mit den Augen. Augenblicke später stand sie im Klaviersaal, drückte Erasmus die Blätter in die Hand und sagte: »Dies mußt du lesen!«

Er zuckte mit den Augen, als er die Handschrift sah.

»Jetzt?« fragte er.

»Jetzt! Vorlesen, bitte!« bat sie hülflos, zurückweichend, und sah ihn zaudernd in der Richtung der Fenstervorhänge gehn, die in der Sonne dunkelgelb glühten. Dort setzte er sich zwischen zweien auf einen Armstuhl. Sie ging ihm näher, lehnte sich ihm gegenüber an die Kante des Tisches und faßte sie mit den Händen, erschreckend vor ihrer Kälte.

»Das kann ich nicht lesen«, sagte er, die Hand mit den Blättern sinken lassend.

»Ach, Erasmus, du mußt aber! Handelt es nicht von dir?« Er nickte. »Und von mir?« Er bejahte wieder. »Dann lies!« sagte sie aufatmend und legte die Hände zusammen.

Erasmus las.

›Seltsame und kaum zu erwartende Begebnisse in einem Pastorenhause.

Wir kamen – Erasmus, der in Marburg zu mir stieß, und ich – am Nachmittag in B. an, von wo wir das Kirchdorf Flor in einer kleinen Gehstunde erreichen sollten. Es wurde ein schöner Gang. Die spätmärzliche Luft atmete vielfach umher, lau und gefeuchtet; auf der lehmig festen Straße standen noch Lachen vom Nachtregen, in denen Weißes und Blaues vom Himmel sich spiegelte. Dort oben war die jugendliche Sonne des Jahrs rüstig am Werk, noch vor Abend die grauweißen Eiswälle des Gewölks fortzutilgen, die nun schon, weithin sichtbar nach allen Seiten, überall durchbrochen, davonjagten in voller Flucht. Mächtige Bläuen schwebten segelnd und großherzig dazwischen; die Sonne kämpfte rastlos. Strahlen vergoldeten das grüne Land in der Tiefe überall, und es dampfte. Unsern Weg entlang – Alleen weißblühender Kirschbäume – schloß sich Obstgarten an Obstgarten. Das waren ganze fremdländische Stadtsiedlungen niedriger weißer oder rosigbehauchter Kuppeln, Städte von unendlicher Zartheit, Leisheit, Empfindlichkeit. Zwischen ihnen, kräftig und derbe, lagen Wiesenstücke und einzeln die wirklichen Häuser, in deren Blumenvorgärten die großen Silberkugeln den Himmel zeigten, andre im Sonnenfeuer lohten und blitzten, und darunter blühten Aurikeln und Narzissen, standen die Tulpenreihn grade in papierner Buntheit um die Beetränder. – Ach Gott, sagte ich zu Erasmus, man muß zu andrer Zeit sterben! Und wir beklagten den toten Mann, dessen wir uns vom Begräbnis des Großvaters her wohltuend erinnerten. Wie er damals unerwartet erschien: weißhaarig und -bärtig, unter der mildesten Stirn, die ich sah, Augen von eisklarem Blau, tief leuchtend, mit dem durchbohrenden Blicke der Wahrheit, Lippen umspielt vom ruhigen Lächeln des Weisen: so hätte er uns hier grüßen sollen vom Zaun eines dieser freundlichen Gärten, Freund der Fluren, von dem es heißt:

Dann sieht man zwischen Reben ihn mit Basten
Die losen binden an die starken Schäfte,
Die harten grünen Herlinge betasten
Und brechen einer Ranke Überkräfte.
Er schüttelt dann, ob er dem Wetter trutze,
Den jungen Baum und mißt der Wolken Schieben.
Er giebt dem Liebling einen Pfahl zum Schutze
Und lächelt ihm, dem erste Früchte trieben.

Im Dorf, das sich allgemach aus der Straße entwickelte, wars um so stiller, als die ganze Bewohnerschaft im Freien, in ihren Gärten oder vor den Türen war, schwarz gekleidete Männer und Frauen in Gruppen überall, leise miteinander sprechend über ihre Heckenzäune hinweg oder auf den Türsteinen, und auf Bänken und Treppenstufen saßen die reinlichen Kinder verstummt, großäugig nur nach uns blickend. Schön, wie hier vom Wesen des Toten letzte Flämmchen verflackerten, von bekümmerten Händen beschirmt. Die Hauskatzen, die sich in sonnigen Flecken an Mauern putzten, schienen sich unbehaglich zu fühlen, obwohl sie sich unbesorgt stellten. Der Lehrer vor der Schulhaustür in einem Kreise von Männern, barhaupt, kenntlich an seiner überhohen Stirn, ein Mann in den dreißiger Jahren, den wir nach dem Wege zum Pfarrhause fragten, brachte die allgemeine Kümmernis mit wahrer Ergriffenheit zum Ausdruck. »Ein Mann,« sagte er, »wie es keinen zweiten giebt. Unser aller Vater und lieber Freund.« Er schloß sich uns an, augenscheinlich gesprächsbedürftig, und begann alsbald uns auf eigentümliche Dinge vorzubereiten, die wir sehen würden, über die er weiter nicht mit der Sprache herauswollte. Plötzlich hatten wir dann, um die Ecke in eine Seitengasse geführt, die reizvollste kleine Barockkirche vor Augen, durch deren, den Turmhelm tragenden Säulenkranz Himmel und Wolken sich bewegten, und leise wankten die Säulen.

Die Kirche lag ein wenig erhöht, vom Friedhof umgeben, den eine niedrige, leuchtend gelb getünchte Mauer umschloß; darüber blitzte von vielen Stellen her die Vergoldung schöner, altertümlicher Grabzeichen aus schmiedeeisernem Arabeskenwerk um ihr Kruzifix unter bogenförmigem Dach, und manche hatten mit starkem Blau übermalte Schilde. Zur Linken um die Kirchhofsmauer im Bogen führte eine alte Kastanienallee, blühend übersternt mit weißen und roten Kerzen, zum Pfarrhaus, von dem eine Seitenwand mit zwei Fenstern übereinander sichtbar war: ein zweistöckiger, warm gelb getünchter Bau von schlichtem Barock, wie ich hernach sah.

Auf die Einladung des Lehrers, uns die Grabstelle zu zeigen, gingen wir zwischen den gleich Betten säuberlich bereiteten Gräbern voller Blumen hindurch; allein das für den neuen Kömmling bestimmte Grab zeigte naturgemäß keinen andern als den unbehaglich gähnenden Ausdruck all dieser Löcher aus gelbem Sand.

Dafür hatten wir von ihm aus über eine nahe kleine Gittertür hinweg einen anmutigen Blick: im Ausschnitt einer wohl hundert Schritt langen Allee noch unbegrünter kleiner Kugellinden, deren Stämme durch beinah mannshohe grüne Hecken verbunden waren, das schmale Portal über drei Stufen mit sandsteinernen Bogenstücken überm Sims; darüber den leise vergoldeten Korb des Balkons vor der oberen Glastür, und endlich das gebrochene, schwarzbraune Dach, auf welches eine große und schöne, schneeweiße Wolke aus dem ganz reinen Blau sich eben so anmutig niedergesenkt hatte, daß der Lehrer davon berührt wurde und zu sprechen begann in einem zierlichen Vergleich mit einem Schrein oder Schiff, das sich auftun möchte, eine kleine Schar singender und musizierender Engel zu zeigen. Er fuhr fort mit gedämpfter Stimme:

»Sie« – seine Dorfleute meinend – »glauben, daß er mit solcher Liebe an der Erde hing, daß er sich nun nicht losmachen kann; und sie würden gewiß nicht erstaunen, wenn solch ein Wunder sich zeigte, daß er mit himmlischen Instrumenten hinaufgelockt würde. Denn« – er lächelte – »wir sind zwar gut lutherisch dahier, aber ganz vergessen ist die alte Lehre doch nicht. Davon zu schweigen, daß das Wunder das liebste Kind jeden Glaubens ist.« Er verstummte, auf das schwärzliche Netzwerk der nächsten Lindenkuppel deutend. Die schwarze Figur einer Amsel saß darin, als sei sie gefangen. »Sie singt nicht,« sagte der Gute, »alle Sänger sind seit vorgestern völlig verstummt. Freilich, –« setzte er verständig hinzu, »viele sind ja noch nicht zurückgekommen, doch haben wir mehrere Meisenarten allein, die überwintern.«

Der Erasmus nickt ernsthaft. In Naturwissenschaft ist er mir mit dem Lehrer weit voraus, und so mag er lange bemerkt haben, was mir entging. Auch zeigte alles sich so frisch, luftig, österlich! Noch, als wir den Lindengang hinab und vor dem Hausportal waren, mußte ich mich künstlich vorbereiten auf Tod und Totes. Allein – was war nun das, was wir fanden im Haus?

Der Papa trat uns im Hausflur entgegen, verweint, aber doch mehr bedrückt aussehend als schmerzlich, grüßte uns leise und führte uns durch ein großes und mit weißen Abgüssen von Büsten und Figuren zwischen den Bücherregalen feierlich heiteres Arbeitszimmer in ein um so einfacheres Schlafgemach, wo der Schein zweier Kerzen im verdunkelten Tageslicht wie mit einem Ruck alles deutlich und fest machte, – sonderbar genug, wie immer das Kerzenlicht am Tag nicht erhellt, sondern zu verdunkeln scheint. Diese beiden, wächsern und lang in hohen Leuchtern, brannten auf einem durch eine schwarze Decke zum Altar verwandelten Tisch an der Wand; zwischen ihnen das Bibelbuch, blinkend in Goldschnitt, vor einem glatten braunen Kreuz, ohne Heiland, jedoch, wie der Tisch, mit einer Girlande von Aurikeln und Primeln umwunden. Zur Rechten davor der Sarg zeigte offen sein bettweißes Inneres; der Deckel lag daneben. Links stand das Bett mit dem Toten, von dessen Antlitz mein Vater das Tuch fortnahm.

Aber so hat von allen Toten, die ich zu sehen bekam, noch keiner ausgesehn am dritten Tage des Totseins. Anstatt in der wächsernen Gelbe, zeigte diese Stirn und das Sichtbare der Wangen sich so weiß wie das Haar und der Bart; weiß, durchscheinend gleich Alabaster, und die Hände waren ganz so. Erschreckend darin die zwei Augen; weitoffen, gefüllt mit stumpfem Blau, starrten sie nach oben.

Ob sie nicht zu schließen seien, fragte ich nach einer Weile. Der Papa stand weinend und zuckte die Achseln. »Wer sagt denn, daß er tot ist?« murmelte er dann erschöpft. Ich fragte: »Der Arzt …?« Er schüttelte den Kopf und bat uns, ihm zu folgen.

Durch das Arbeitszimmer zurück führte er uns über den Flur und öffnete eine Tür an der Westseite des Hauses. Alle Drei standen wir da geblendet vor einem Raum aus Feuer und Gold; einem nicht eben großen, quadratischen Zimmer mit, wie ich bald wahrnahm, weißgoldenen Wänden, durch dessen gläserne Gartentür und das Fenster die tiefe Sonne in prachtvollem Strome hereinschwoll. Der Raum schien menschenleer; vor seiner einsam lodernden Feierlichkeit befremdete mich der Anblick von uns drei großen und schwarz gekleideten Eindringlingen, und ich sah die beiden Andern zögern, hineinzugehn. Nun blickt ich mich um, und ich glaube, selten etwas so Liebliches gesehen zu haben wie dies einfache Gemach mit weißer, leise golden getupfter Tapete, wo kleine graue Stahlstiche hingen, und mit goldgelben Möbeln aus den zwanziger Jahren, Schreibsekretär, Vitrine, Kommode und Spiegel. Ein runder Tisch im Kreise der Stühle trug einen Kristallkelch mit einigen Narzissen; er stand vor dem Sofa an der Wand, das mit einem erdbeerfarbenen Damaststoff bespannt war, und dessen eines Ende verdeckt war von dem einzigen Düsteren im Raum, einem schwarzen japanischen Wandschirm mit eingestickten silbernen Bambusrohren und dergleichen, auch er, wie alles umher, von der Verzaubrung des Lichts mit glühendem Rot überzogen. Fee oder Göttin, dachte ich, was für ein Wesen mag das sein, dem dieser Feuerschrein als Behausung dient? – Und noch, während ich den Papa auf Zehen durch den Raum gehen sah, besann ich mich vergebens auf Gestalt und Züge einer flüchtig gesehenen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen mit Namen Renate.

Indem rückte mein Vater den Wandschirm überseite und enthüllte die sitzende, gleich rosenhaft überflossene Gestalt eines schönen, anscheinend blonden Mädchens in weißem Kleid, das uns aus groß offenen, hyazinthblauen Augen so gläsern anstarrte, als wärs eine Puppe. Den Erasmus sah ich zurückfahren. Es war freilich gespenstisch, sie ebenso hinter dem Wandschirm sitzen zu denken, wie sie nun fortfuhr, ohne Bewegung, ohne Blick.

»Aber sie ist nicht tot?« hörte ich die Stimme meines Bruders sehr tief. Mein Vater verneinte stumm. Wir traten näher.

Sie war schön. Untadelhaft schön. Schöner vielleicht als alles. Die Starrheit der Augen beeinträchtigte die Umgebung. Das Haar, nicht blond, sondern von einem mir unbekannten hellen Braun, war, in der Mitte gescheitelt, so um die hohe Stirne gelegt, daß sie ganz frei blieb, dann tief nach unten gezogen, wie man es auf Bildern der vierziger Jahre sieht, und der Adel und die Reinheit dieses Giebels von Alabaster war unendlich ergreifend. Das ganze, schmale Gesicht war schneeweiß und durchscheinend klar wie des Toten; ebenfalls das Paar der Hände und bloßen Unterarme, und ich hatte so sehr den Eindruck des aus allen Gliedern zum Herzen hineingesogenen Blutes, daß es mir dort innen erschien wie ein Glasgefäß, herzförmig, blutrot gefüllt; in einer Figur aus gesponnenem Glase.

Ich rührte eine von diesen Händen an; eiskalt und steif; kaum zu bewegen.

»Was ist mit ihr?« fragte ich. Allein statt einer Antwort vom Vater hörte ich das leise Klirren der Glastür und sah ihn ins Freie treten. Als ich mich nach Erasmus umwandte, stand er, die Hände auf die Tischplatte vor sich gestützt, übergebeugt, die Sitzende so starr anblickend wie sie ihn, ohne meiner zu achten.

Meinem Vater nachgehend, sah ich ihn jetzt so hübsch in dem Garten stehn, auf einem bewegten Grund weißgetünchter, weißwolkiger Obstbäume, blühende Zweige zu Häupten, zwischen Tulpenrabatten, etwas schief haltend wie zumeist den von der Abendglut noch rosiger als gewöhnlich gefärbten Kopf, seine goldene Brille putzend mit dem Taschentuch, – so hübsch, wie gesagt, so lebendig, daß ich ihm ernsthaft wünschte, als Pfarrer hierherzugehören, anstatt den Fabrikherrn spielen zu müssen, was ihm doch nie recht gelang.

Ich begab mich hinaus zu ihm und wiederholte meine letzte Frage: »Was ist mit dem Mädchen?«

Er sagte: »Seit ihr Vater tot ist, ist sie so. Er starb – der Arzt sagte, daß er starb; wir waren Beide zugegen – er starb unerwartet gegen Morgen. Ich wollte sie rufen, als er noch atmete; da saß sie schon fast wie jetzt, nur furchtbar keuchend, sonst starr. Ich mußte sie verlassen. Seitdem haben Beide sich nicht verändert. Nun schon den dritten Tag. Und«, er stockte, »ich fürchte mich, ihn zu begraben.«

Ob er glaube, fragte ich, daß da Zusammenhang sei zwischen der Lebenden und dem Toten? Und ich wiederholte ihm die Worte des Lehrers vom Nichtfortkönnen des Toten.

»Muß mans nicht glauben?« murmelte er gedankenlos, ich weiß nicht auf welchen meiner Sätze als Antwort.

»Der Arzt?«

Sei ratlos wie er selber.

Das Verhältnis, meinte ich, von Vater und Tochter sei zweifellos sehr innig gewesen.

»Das innigste!« Nun wurde er beredt. »Sie lebten jeder nur dem Andern und durch den Andern. Ihre Mutter starb ja, als sie zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte ihn verstoßen. Alldas mußte sie ihm sein. Wenn du im Dorf fragst, wirst du Wunder erzählen hören von dem Mädchen, seiner Schönheit und seiner Klugheit, seiner Lieblichkeit, Güte und Würde. Er war einer der tiefsten Menschen, und sie wuchs ganz aus seinem Erdreich, in seiner Luft. Die Leute sagen: sie war sein lebendiger Segen unter uns. Ich hörte sie die Orgel spielen, kurz vor seinem Tod. Stelle sie dir vor –, eine andre Cäcilie.«

»Vermutlich also«, fragte ich in plötzlicher Eingebung, »spielte auch dein Bruder die Orgel?«

Er nickte.

»So muß man«, sagte ich, »die Orgel spielen, um sie aufzuwecken.«

Er sah mich verwundert an. Das sei ein Gedanke, meinte er, wie ich darauf komme?

»Willst du spielen?« fragte er nach einer Weile.

»Leider«, mußte ich bekennen, »ist mir die Orgel ganz fremd. Es müßte auch ein Stück sein, das der Tote kennt, ein Lieblingsstück vielleicht, und ich lese, wie du weißt, keine Noten.«

Damit schlug ich den Lehrer vor, der wahrscheinlich Organist an der Kirche sei.

Ich hatte mich aber noch kaum zur Türe zurückgewandt, so ereignete sich das Seltsame, daß die Orgel ertönte. Klar auftretende, lang gezogene Töne kamen herüber, andre Stimmen mischten sich präludierend herein, noch leise; dann mit plötzlich erschreckendem Brausen und voller Macht breitete sich die Kantate Bachs: Mein gläubiges Herze, frohlocke sing scherze! wundervoll jubelnd in die Lüfte. – Später erfuhr ich dann, daß der Lehrer, dem es eingefallen war, das »Leibstück des Seligen«, wie er sagte, zu spielen, es freilich nicht aus unserm Gedanken heraus, sondern schlicht aus seiner und Aller Bedrängnis gespielt hatte.

Als mein Vater und ich in die Tür traten, hatten wir die befremdliche Erscheinung, in der rechten Ecke des Sofas uns gegenüber – in der linken saß das Mädchen – den Erasmus sitzen zu sehn; den Arm auf der Rücklehne, seitwärts und zu ihr gewandt, saß er still und wie sie unbeweglich.

Aber keine Wirkung des Orgelspiels ergab sich; nicht die geringste.

Ich weiß eigentlich nicht, warum das so war. Wenn es wahr war, daß diese Beiden einander so verhaftet waren im Leben, daß sie sich nicht losreißen konnten; daß nun die Lebendige hier angeschlossen war an die Erstarrtheit des Todes, und der Tote angeschlossen ans innere Feuer des Lebens, zu einem grausamen Gleichgewicht Beide des Nichtsterbenkönnens und Nichtlebens, – so mußte es einen Weg geben, das magische Band zu zerreißen. Magische Bande sind stark, aber zart, und allzuzart immer gegen das Hiesige. War die Erstarrung so tief? War sie ganz taub für die Welt? Sie blieb unverändert.

Es dunkelte derweil. Der Choral: Nun ruhen alle Wälder legte sich wie ein dunklerer Strom über das schon versinkende Licht, und als er verstummte, hatte die schweigsame Welt sich geteilt in weite, leuchtende Klarheit oben, in verschüttete Enge unten, wo mit bleicherem Weiß nur die blühenden Kuppeln noch das Licht festhielten.

So ist es nun. Die Nacht kam; ich übernahm für den erschöpften Papa die Wache beim Toten und schreibe in mein Buch, das ich durch Lis vorahnende Aufmerksamkeit im Koffer fand. Wo ist Erasmus? Ein drittes Mal war ich eben an der Tür von Renates Zimmer, und nach wie vor fand ich ihn in der Ecke des Sofas, ruhig scheinbar, sitzend mit untergeschlagenen Armen, ihr zugewandt, die dasitzt unverändert, eine lebensgroße Puppe, starräugig im Dunkel.

Geheimnisvolle Vorgänge fördern das Geheimnisvolle zutag. Doch war mir stets klar, daß in diesem riesigen und etwas ungeschlachten Leib sehr zarte Kräfte daheim seien. Und so wie Andre die feine Dryas das Blattwerk der Eiche haben zerteilen sehn, so konnte ich wohl im Nachtdunkel, über seine Schulter geneigt, das erschimmernde Haupt jenes Rätselhaften gewahren, dem es einmal sich loszumachen gelang und seine Kraft zu gebrauchen.

 

Die dritte Nacht unseres Hierseins, die fünfte seit dem Tode des alten Mannes. Es ist nichts verändert. Wir haben ihn nicht begraben. Selbst wenn ich nicht an einen Zusammenhang der zwei Menschen glaubte, dessen gewaltsames Zerreißen dem lebendigen Teil überaus schädlich sein könnte, würde ich nicht dazu raten, einen Menschen unter die Erde zu bringen, bevor er deutliche Zeichen des Verstorbenseins, der Verwesung von sich gab. Die Luft aber in diesem Haus –, sie kommt mir fast reiner als anderswo vor. Seitdem ich es weiß, empfinde ich lebhaft das Verstummtsein der redebegabten Natur, und ich habe Stunden damit verbracht, in der Nähe des Hauses Spatzen und Meisen zu beobachten, die keinen Laut hören lassen. Äußerst selten einmal ein schwaches Zirpen, das augenblicks erstirbt; sonst nichts. Ärzte, die wir riefen, kamen und gingen kopfschüttelnd: wer den Toten sah, sprach vom Mittel des Aderöffnens; hatte er danach auch das Mädchen beobachtet, so hüllte er sich in Schweigen. Der Papa ist am Rande seiner Kraft, ich selber bin ungewöhnlich erregt. Dies dauert bedenklich lange; kein Ende ist abzusehn, – bei meinem Dämon, ist das Liebe, was dergestalt Lebendes und Totes zusammenschmolz, oder ist es nur Blut? Und wenn ich mich hineindenke: Allmächtige Dinge und andrerseits soviel Ohnmacht? Dann: Wie schauerlich dieser Kampf der zwei Kräfte, von denen keine die Oberhand gewinnt, und man glaubt sie keuchen zu hören durch die ewige Stille: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Und wo ist hier Jakob, wo der Engel? Wie lange die Nacht solchen Ringens? Wie lang zum Hades, Psyche, dein Weg?

Und nun dazu: emsig, emsig die dritte Kraft bei ihrer Arbeit zu wissen, die sich hineingraben will in den Gneis. Erasmus, seltsamer Geist, der sich augenblicks, so bereit, als habe er nichts andres im Sinne gehabt, in dieser Aufgabe verfing, – davon zu schweigen, daß kein Andrer vielleicht sie gesehen hätte. Solang wir hier sind, während mein Vater hülflos seinen Gestorbnen betrachtet, ich mich in der Landschaft herumtrieb, mit den Dorfleuten sprach – die übrigens gar nicht so verstört scheinen, sondern vielmehr als verstünden sie sehr gut, was hier vorgeht –, oder ruderte auf dem Rhein, der in einer Biegung halbstundenweit dem Dorf nahe kommt, – tagein und tagaus, nachtein und nachtaus weicht er nicht von dem Fleck, den er besetzte. Wann er schläft, kann ich nicht sagen. Speise nahm er erst keine; später, als wir Milch und Weißbrot neben ihn stellten, merkten wir nach einiger Zeit in Pausen einige Verminderung und konnten es auch erneuern. Der Wille, sagt man, tut Wunder. Und der seine, geschult seit immer, wie ich glaube daß er ist, muß ihm folgsamer zu Dienst sein als jedem Andern. Möchte es ihm dann gelingen, diese reine Seele in die seine hinüber –

 

Ich wurde unterbrochen. Erasmus kam ins Sterbezimmer, wo ich schreibend saß, augenscheinlich auf der Suche nach mir, denn er erklärte – ganz ruhig übrigens, beinah sanft –, er verlasse das Haus für eine Weile und würde mich später um etwas zu bitten haben. Seitdem sind drei Stunden vorüber; auch dieser schön ersonnene Versuch ist gescheitert, aber die Ungewöhnlichkeit des Vorgangs macht mir ihn wert, ihn zu beschreiben.

Erasmus also kehrte zurück, eine Decke in der Hand, in die er das Wesen hüllte, worauf er sie auf die Arme nahm und mich aufforderte, mit ihm zu kommen.

Die Nacht war sehr kühl, sternlos, windig und feucht; vollkommen dunkel. Erasmus mußte die Wege in der Gegend von seinem früheren Besuche her kennen, denn er ging mit vollkommener Sicherheit durch das Finster, kaum einmal strauchelnd im aufgeweichten Boden. Da meine Augen die Gabe haben, besser als andre im Dunkel zu sehn, erkannte ich bald den Weg, der durch die Weingärten zum Rhein führen würde. Erstaunliche Einfälle, bei Gott, hat dieser Mensch! Physik und Metaphysik, welche von beiden, dacht ich, hat ihn auf diesen Gedanken gebracht, denn ich will nicht mehr Montfort heißen, wenn er nicht vorhat, das starre Geschöpf in den Rhein zu tauchen. Sie ist aus diesem Boden gewachsen, der Gedanke ist vernünftig, die Natur hat unbekannte Kräfte, Verbindungen, Zauber, – wahrhaftig, er hat recht, man muß sie in den Strom versenken, und was auch die Folge sein wird, Tod oder Leben, das unnatürliche Band wird zerreißen, und wenn er Glück hat, so gelingt es ihm, ihre Seele feurig aus dem Gewässer zu heben, wo er ein eisiges Bildnis versenkte. So dacht ich und fühlte das Kostbare der vom Rhein herüber hauchenden Luft von fast feuriger Kälte; reinen Odem der Erde und so ungebraucht, daß ich mich zurückversetzt fühlte in der Zeit um Jahrhunderte.

Wir kamen ans hohe Ufer, das uns für Minuten der Mond, ein kaltes Halbgesicht im Gewölk, sehen ließ, dazu in der Tiefe die ruhig nachthin strömende Fläche, rastlos erfüllt von einem andern als dem Geiste der Feste, – zu der eine schmale Treppe zwischen den Rebstöcken hinunterführte. Der Schattenriß eines langen Kahns war dort unten. Die kahlen Ufer, hügelig im verfahlten Licht, erschienen öde. Mein Bruder senkte seine Last auf den Boden des Nachens und legte sie, wie sie liegen konnte, seitwärts, worauf er zwei lange Stangen aufnahm und mir eine gab mit dem Bemerken, hier sei es zu tief für ihn, aber weiter unten im Strom eine Furt. – Weshalb er schon jetzt seine Kleider abwarf und am Ufer niederlegte, erklärte er mir noch, indem er mich bat, falls das Mädchen zu sich kommen sollte, allein mit ihr ans Ufer zu fahren und ihn zu erwarten, der zu Fuß zu seinen Kleidern zurückgehen würde.

Im Fahren hatte ich dann meine Freude an seiner heroischen nackten Gestalt, die in der Spitze des Kahns mit erhobenen Armen gleichmäßig einmal über das andre die Stange ins dunkle Gewässer senkte und wieder heraufholte. Wir stießen den Kahn in die Strömung und konnten ihn treiben lassen. Wir fuhren lautlos und rasch; kaum vernehmbar, von den Ufern her, rauschte das Wasser. Einige Minuten später hörte ich den Kiel auf Steinen knirschen; wir saßen fest. Erasmus sprang in die Flut und watete zum Ende des Kahns, wo sie bereits seine Hüfte überstieg; ich hob die Scheintote aus ihrer Decke, legte sie in seine Arme, sah ihn tiefer ins Dunkle watend versinken und sie mit ihm. Als nur noch ihr Haupt, bleich und wie steinern, die Fläche überragte, schienen mir anderthalb Jahrtausende noch nicht gewesen zu sein. Der Rhein floß durch die römische Provinz; wir senkten geheim ein Götterbild in den Strom, letzter Schutz vor den Eifernden einer neuen Lehre.

Erasmus dauerte aus. Mir fielen die Augen zu, geschläfert vom einförmigen Gurgeln des Flusses, der lauter und lauter zu rauschen begann. Dann hörte ich die Arbeit des Gewaltigen durch die Jahrtausende, die den Schiefer benagte, furchtbar rastlos. Die Einsamkeit wuchs überm Strom. Es war kalt. Aber in einem Halbjahr würden diese jetzt kahlen Hügel überschüttet sein mit den süßen Gefäßen des Feuers, eine einzige Glut alles überwogt haben, brennend vom ausgeschütteten Pfeilhagel einer unerschöpflichen Sonne. Und hier bei mir im Strom – – bei halbgeöffneten Augen sah ich im Zenit der Nacht quellendes Licht, Wolkenumrisse, und jetzt in meiner Tiefe dunkel die Fläche des Stroms, glänzend darin eine Mannsschulter, nackt, ein dunkleres Haupt, und daneben das Alabastergesicht über dem Wasser. Ganz mächtig im Eisigen dieser Flut spürte ich da die lebendige Glut seines Leibes, seiner Seele, und so tief, daß es mich schauderte meiner Kühle. Rufe die Götter, dacht ich, Pygmalion! Ich ward fast neidisch.

Ich fuhr auf, da etwas vor mir niedergelegt wurde, – der schöne, leblose Leib in triefenden Kleidern, und Erasmus, erschöpft, übergeneigt aus dem Wasser, die Fäuste im Kahn aufgestützt, keuchte etwas wie, daß er sie in Blut baden möchte.

In Blut. Er meinte das seine und starrte mich böse an, als ich sagte, daß man vor einigen tausend Jahren ein jugendliches Roß oder jungfräuliches Rind geopfert haben würde. Die Unselige dauerte mich wahrhaftig, und dieser Blutgedanke ließ mich lange nicht los, während wir uns stromauf stakten. Alle Zauber wohnen allein in dem Blut. Ein mittelalterlicher Quacksalber würde ihr längst eine Ader geschlagen haben und womöglich das Rechte getroffen.

In der Haustür empfing uns die alte Dienerin, die von Erasmus verständigt sein mußte, denn sie ging uns wortlos voran bis in ein kleines weißes Schlafzimmer, wo sie Licht, Decken und Tücher bereit hatte, und wo wir sie mit der Leblosen auf ihrem Bett allein ließen. Erasmus frottierte sich warm, legte sich und schlief alsbald ein; weniger abgemattet als er und heftiger erregt machte ich mich ans Schreiben. Eben ist die Sonne am Aufgehn.

 

Fünfter (oder siebenter) Abend. Mein Vater entschloß sich, das Begräbnis für morgen anzusetzen. Die ganze Umgegend ist in Aufruhr, die Leute strömen in Scharen herbei, es kostet Mühe, sie vom Zimmer Renates fernzuhalten, wo unveränderlich, wie ich ihn fand am Vormittag nach jener Nacht, Erasmus ihr gegenüber sitzt, und sie anglüht rastlos mit brennenden Augen der Seele. Dieser Mensch macht mir Grauen mit seiner Leidenschaft. Wenn er seine Seele aushauchen könnte als eine Glutwolke um die Erstarrte, so würde ers tun. Armer Pygmalion, wenn sie wirklich erwacht und ist dann nur ein Mensch, der nichts weiß und nichts ahnt, was dann?

Gleichfalls unwandelbar der Tote auf seinem Bett, unverwesend. Neben dem sitzt sein Bruder, unselig, verfallen und hülflos. Ich greife mir an den Kopf und frage, woher das Ende kommen soll?

 

Und da ist es, das Ende.

Preis und Ehre dem Siegreichen! Ja, alle Ehrfurcht, mein Bruder, vor dir, ich hatte das nicht von dir gedacht, und sei überzeugt, ich werde es dir nicht vergessen!

Schlafen gegangen nach Mitternacht, erwachte ich vom dumpfen Laut eines Falles und sah, daß die Sonne noch über den Rand der Erde nicht herauf sein konnte. Das seltsame Luftgrau des Morgens. Ich lausche, höre Bewegung unter mir im Zimmer des Toten, wo mein Vater auf einem Diwan schläft, springe aus dem Bett, eile treppab und treffe im Flur mit dem Vater zusammen. Wir öffnen die Tür; vor uns, fast daß wir über ihn strauchelten, liegt ein riesiger Körper, Erasmus. Und das Mädchen, Renate? Es ist hell genug, daß wir sehen können: sie sitzt dort, aber nicht wie bisher. Ihr Kopf ist vornüber geneigt, die Schläfe liegt am Polster der Lehne, wir treten hin zu ihr, da hören wir schon, daß sie atmet. Sie schläft. Ihre Hände, ihr Gesicht waren heiß, ihre Wangen glühten, kleine Perlen standen in der Nähe des Haars. Als die Sonne da war, konnten wir sehen, wie die Wangen gerötet waren: ein ganz helles, scharlachnes Rot, zart wie Morgenhimmel und so unschuldig wie eines schlafenden Kindes.

Auf die Bitte meines Vaters hin hob ich sie auf und trug sie zu ihrem Bett, ohne daß sie erwacht wäre. Ihre Glieder waren sehr weich; sie war wieder schwer.

Dann, mit einiger Mühe, gelang es uns, den Erasmus zu wecken, der beim Fortgehn dort zusammengefallen sein mußte, und ihn mit vereinten Kräften treppauf und zu seinem Bette zu schleppen, wo er hinfiel und schlief. Später am Tag sah ich ihn dort. Auch sein Gesicht glühte, erschöpft, schweißbedeckt, gemagert, aber umlodert von solchem Adel, daß ich mich abwandte.

Der Tote aber verfiel so schnell, daß wir nicht genug eilen konnten, ihn einzusargen. Schön war noch dies: Wie jeden Morgen war der wackre Lehrer der erste, der anzufragen kam. Nachdem er die Schlafende gesehn, entfernte er sich eilig, und Minuten später hörten wir die Orgel überlaut Te deum laudamus brausen. In die Haustür tretend, sahn wir den Heckengang unter den Linden von der Kirche bis nahe ans Haus gefüllt von knieendem Volk. Mein alter Vater winkte ihnen mit den Händen und weinte erschöpft auf; da brachen sie Alle in Schluchzen aus, das die Orgel übertönte. Mir fiel ein, daß es gut sein möchte, wenn der löwenhafte Zerreißer jenes Bandes auch in sich selber die alte Kette zerrissen hätte, die ihn solang als gefesselten Sklaven zwischen uns herumgehen ließ. Siehe da, der Sklave war stärker als Alle!‹

 

Renate befand sich, als die lesende Stimme schwieg, nicht mehr an dem Tisch gegenüber, sondern in der entlegensten Ecke des Raums, wohin sie ohne ihr Zutun geraten war. Dort saß sie im Stuhl vor dem Harmonium, die Hände lautlos ringend auf dem Deckel, dann und wann aufblickend unter den Schnitten der Qual, wo in klar leuchtenden Farben ein Bildwerk hing, eine sitzende weibliche Gestalt in der Landschaft, an die sie umsonst ihr wortloses Stammeln richtete. In ihrer übermenschlichen und namenlosen Aufgabe begriffen, grübelte sie wieder und wiederum väterlichen Lehren nach, doch nicht ihm selbst, dessen Namen nicht einmal sie zu denken wagte; unzähligen seiner Auslegungen um den Kern seiner Lehre, die ihr zu einer Erkenntnis helfen sollten, und eine ewige Weile lang schien alles vergebens. Plötzlich sah sie Erasmus dasitzen, ganz still, den Kopf gesenkt, die Blätter noch in der Hand, nichts als ergeben, – und mit einem zuckenden Schrecken spürte sie, daß etwas am Gelingen war, wie ein Ding, an dem sie würgte und knetete, oder als hätte das Ungeborene eben gelächelt. Und nun weiter, weiter in der ganzen wütenden Not und Mühsal und Verzweiflung und Zerrissenheit des Gebärens, wälzte sie Glied um Glied und Atemzug um Atemzug näher zum Leben, was herauf sollte aus dem erstickenden Schlund, – und endlich mit einem reißenden Schmerzensstrom und einer sausenden Wonne zugleich, fuhr es, stand es, schwebte es in das Leben, und es war Demut.

Glieder und Odem und Blut aus seliger Demut: ihre geborene Seele trug sie nun, lallend, weinend, behutsam, noch ungläubig, – trug sie durch einen Raum weitoffener Leichte zu jenem Menschen hin, der da saß wie ein stiller Mönch, und sagte: »Mach du mich rein!« Ihre Knie beugten sich tiefer, ihr Nacken bog sich in dieser neuen, heiligen Wonne der Dienstbarkeit, ihre ausgestreckten Hände brannten von Eifer und Seligkeit, das reinlich erschaffene Juwel der Empfängnis hinzulegen. Und so lag sie wohl auf dem Boden, lächelte, weinte und sagte:

»Ich will dich lieben!«

Erasmus (Fortsetzung)

Als Renate die Augen aufschlug, fühlte sie sich zuerst sehr müde. Mit einem schwachen Gefühl der Enttäuschung, daß sie nicht schlief, erinnerte sie sich, die Besinnung nicht verloren zu haben, und deutlich auch, daß Erasmus sie aufgehoben und davongetragen, dabei zweimal nach dem Weg zu ihrem Zimmer gefragt –, ja, daß sie zuerst gesagt hatte: In mein Zimmer! Sie hatte die Wände, das Treppenhaus an sich vorbeiziehen sehn, und nur war das in einer Art Starre vor sich gegangen; ihr Körper schien Ähnlichkeit zu haben – und vielleicht auch die Seele, – mit einem von betäubendem Schlage getroffenen Glied, das empfindungslos geworden ist, und sie meinte noch jetzt, ihre Hände, ihre Füße, ihren Kopf nicht zu fühlen. Als sie aber jedes ganz leise bewegte, war es da, nur äußerst leicht und entfernter als sonst. Und dies – sie wußte es wohl – diese Leichte, diese Wärme, das war alles wie damals; damals als er, der sie heute trug, sie zum ersten Mal aus dem Eise befreit hatte … Daß sie die Augen geschlossen hatte, als sie niedergelegt wurde, wußte sie, und bestimmt, daß sie höchstens einige Minuten geschlafen hatte. Nun sah sie die Fenster ihres Zimmers, das im Schatten lag, etwas kahles Gewipfel und den Regen, der leicht niederfiel. Es war hell draußen von entferntem Sonnenschein, und sie hörte Gezwitscher. Und im Fenster zur Linken – sie war etwas geblendet – befand sich ein menschlicher Schatten: Erasmus.

Plötzlich spürte sie die Wärme, in die sie gebettet war, ja, die ihr ganzes Wesen erfüllte, und daß sie trotz schwerer Müdheit mit einem unendlichen seelischen Behagen gesättigt war. Eine von innen quellende Wärme, die duftete und an die wundervolle Wärme eines uralten Kachelofens erinnerte mit seinem Holzfeuer und vielen kleinen Darstellungen aus dem Leben Mosis, im heimatlichen Flor. Sie meinte, sich weder bewegen, noch einen Laut hervorbringen zu können, aber das Gewebe der Wärme, aus dem sie ganz und gar bestand, regte sich so atmend auf und nieder, daß sie zu fühlen glaubte, wie sie es mit ihren Atemzügen an sich zog und ausdehnte, und sie dachte: ich bin wie ein Licht.

Die Helligkeit blendete nun nicht mehr, und nachdem sie ihr Auge von der Steppdecke, mit der sie bedeckt war, über die Wände mit ihren vielen kleinen, zartfarbenen Pferdebildern hatte gleiten lassen, ließ sie es an Erasmus haften, leicht hängen bleibend wie ein Falter.

Er saß auf der Fensterbank mit einem Oberschenkel, das andre Bein leicht ins Zimmer gestreckt, das ihr der Tisch vor dem Sofa etwas verdeckte, und sah, etwas vorgebeugt, nach unten, so daß sie sein Gesicht fast ganz im Profil vor sich hatte. Dabei hatte seine Haltung mit dem einen auf den Schenkel gestemmten Arm einen Ausdruck von Ermüdung und großer unbewußter Würde. Und nun mit immer der gleichen Leichtheit im Bewegen ihres Blickes alle Linien seiner Züge nachziehend, fand sie, daß er sonst nicht schöner geworden war. Das Ganze schien so überaus unglücklich zusammengestellt; das Kinn viel zu klein, obgleich es an sich recht fein, ja fast zierlich gemeißelt war; die Oberlippe zu lang wie die Nase, die obendrein eingedrückt war; und nun erst diese zwei unmäßigen Buckel der Stirn über den überstarken Augäpfeln, Felsen gleich, die aneinandergelehnt sind, und die Einbuchtung zwischen ihnen war oben tief eingegraben, und dort schlug sichtbar ein Puls. Das mißfarbene Haar war dünn und auf der Kopfmitte gelichtet; Nacken und Hinterkopf, wie mit dem Beil geschlagen, zeigten eine einzige lange Linie. Und trotz allem diesem machte das Ganze keinen abschreckenden Eindruck; höchstens einen etwas furchterregend anziehenden, und es gefiel Renate, daß seine Lider, nicht wie bei anderen Menschen, klappten, sondern sich ruhig und selten nur legten und wieder hoben. Da war Geduld, Gelassenheit, Ruhe, und es erinnerte übrigens an Bogner.

Eine Hand neben sich aufstützend, richtete Renate sich auf, im Bewußtsein berührt von einem sehr zarten Gefühl für diesen Menschen, und nun überrascht von der Leichtigkeit, mit der ihr jede Bewegung gelang. Ach, die schöne Wärme, die mit in Erschütterung gekommen war und nun an vielen Stellen zugleich quoll und verrieselte! Sie setzte sich, erfreut, daß es unhörbar gelang, in der Sofaecke aufrecht, und sagte dann leise nichts als: »Nun?«

Er wandte sich, stand auf und kam an den Tisch, lächelnd mit einem Schatten von Besorgnis; sehr wohltuend war ihr dann das innerliche Dröhnen seiner Stimme, als er fragte, wie sie sich befinde, und ob sie etwas wünsche.

»Befinden?« sagte sie, »gut. Und wünschen möcht ich gern, daß du dich wieder hinsetzest wie eben.«

Er gehorchte lächelnd, nur daß er jetzt den Arm nicht aufstützte und Rücken und Hinterkopf grade an den Rahmen des Fensters legte, erhobenen Haupts, und diese Haltung von Stolz und Geduldigkeit gefiel Renate noch besser. Ich glaube, dachte sie bei sich, diesen Menschen zu lieben, ist das Leichteste von der Welt.

Es tat ihr nun alles wohl; ihre Gedanken bewegten sich sacht, schwebend und doch sicher, nur war sie auf eine angenehme Weise geteilt in Nähe und Ferne, so daß es eng war um sie selber und alles andere fern, und daß sie niemals mehr als einem Gedanken zurzeit nachgeben konnte. Laut zu sprechen, war nicht gut möglich, aber auch nicht nötig.

»Und nun, Erasmus,« bat sie nach einem Weilchen, die Augen schließend, »mußt du mir alles sagen. Ja, jetzt gleich. Ich will dir sagen, wie ich es meine.

»Es giebt eine alte jüdische Legende vom Tode Mosis. Gott schickte alle Engel zu Moses, um ihm zu sagen, daß er sterben müsse, aber er weigerte sich. Da kam Gott selber und begann, ein Grab zu graben. Und während er dies tat, erzählte Moses dem Herrn sein Leben.«

Obgleich sie wußte, daß es auf dem Ofen in Flor von diesem Vorgang keine Darstellung gab, sah sie deutlich die alten, dunkelgrünen Kacheln mit den undeutlich gepreßten Bildchen und darunter das, wo Moses am Berge sitzt; etwas unterhalb der langbärtige Herr tritt eben mit dem Fuß auf den eingestemmten Spaten.

»Nicht,« fuhr sie fort, »daß ers wüßte, – denn er wußte alles. Nicht daß ers wüßte, sondern daß ers einmal von Angesicht zu Angesicht erführe, so wie's gewesen war. Daß ers von ihm, von Mose hörte, der es ja gelebt. Daß er es einmal sagen könnte; einmal ihm zeigen könnte, sagen: Also war es …«

Erasmus löste seine Haltung, setzte sich wieder vor und sagte nach einer Weile, während seine Augen schwer wurden und angestrengt unter der Last der Stirn: »Ich muß wohl. – Es wird schwer gehn.«

»Ich will dirs abfragen«, sagte sie sanft, und er nickte langsam vor sich hin.

»Weißt du, Erasmus, nun habe ich eben gesehn, was du hast. Ein sehr schönes Ohr. Aber das andre wird auch so sein. Hier –« sie zog mit dem Finger den Umriß in die Luft – »hier oben ist eine sehr schön gebogene Schleife; dann wirds ganz eingezogen, und das Ohrläppchen ist sehr lang und gerundet.« Ja, wie schön, dachte sie innerlich, in einem so unvollkommenen Gesicht eine so vollkommene Sache; vielleicht gilt überhaupt nur die und das andere gar nicht! »Es ist genau,« schloß sie, »wie ein großes Fragezeichen, und das muß so sein.«

Er hatte das Gesicht hergewandt. »Weswegen denn das?«

»Na, Ohren, was tun die denn? Sie horchen, sie fragen doch immer! – Aber nun will ich fragen.«

Nach einem langen Stillschweigen dann, während es draußen dunkler wurde und der Regen rauschender fiel, die kleinen Bilder an den Wänden fast ihre Farbe verloren, begann sie:

»Erasmus, wie warst du als Junge?«

Es dauerte eine Weile, bis sie ihn sagen hörte: »Zu!« und sie dachte, es käme noch eine Ergänzung, aber nichts.

»Und als Jüngling?«

»Böse.«

»Und als Mann?«

Er beugte sich weiter vor und sagte: »Hülflos.«

»Zugeschlossen«, wiederholte sie leise. »Du durftest nicht zeigen, was in dir war. Oder du mußtest es heimlich tun, nicht wahr? Wenn du deiner Stiefmutter etwas schenken wolltest, so trugst du es in ihr Zimmer, wenn sie nicht darin war.«

»Woher weißt du das?« fragte er erstaunt.

»Ach woher! Ich weiß eben! Dann bist du auch so langsam gewesen und kamst immer zu spät, und Alle lachten. Da ließest du es lieber ganz sein. Und keiner, dachtest du, mochte dich leiden.«

»Das dacht ich. Mein Vater fürchtete sich vor meinem Gesicht.«

»Ja. Und mein Vater hat sich vor dem Großpapa gefürchtet, es war grad umgekehrt. Und dann war Josef immer da und viel leichter, nicht? In der Schule fielen dir die Antworten zu spät ein, und das genügte nicht. Ach, guter Erasmus, ich sehe deine Kindheit wie einen kleinen Stern hinter einer schweren Wolke. Nun wird alles besser werden.«

»Als aber«, fing sie bald darauf wieder an, »Mathematik und Naturwissenschaften kamen, da hattest du einen guten Ofen, der wärmte, nicht wahr? Darin warst du Allen überlegen, und sie fingen an, dich zu achten. Bekamst du da Freunde?«

»Erst nicht. Dann Bogner. Der hatte es ähnlich zu Hause wie ich, wenn auch in andrer Weise. Er machte mir Zeichnungen, und ich seine Aufgaben. Schließlich lief er doch weg.«

»Wobei du ihm halfst. Dann kam das Examen bald, und du gingst –«

»Nach Berlin. Da wollt ich allein sein.«

»Lerntest du da Klemens kennen? Wie war das?«

»Nicht besonders. Ich ging zuweilen in Arbeiterversammlungen. Da stand er einmal neben mir, und wir kamen ins Gespräch.«

»So. Du kamst in Gespräche …«

»Diesmal.«

»Wie lange bliebst du in Berlin?«

»Bis zum Verbandsexamen. Dann war ich in Kiel. Dann in Marburg.«

»Warum warst du da böse?«

»Weil ich nicht wollte. Ich wollte niemand kennen, niemand nützen. Mir lag nur an meiner Arbeit.«

»Was für eine Arbeit?«

»Gewisse akustische Phänomene. Beobachtung der Schallwellen …«

»Ach,« sagte Renate verstehend, »wegen deiner Ohren! – Was ist daraus geworden?«

»Nichts. Als ich vor drei Jahren nach Altenrepen mußte, blieb alles liegen.«

»Du warst ganz allein?«

»Ja. Ich lief in den Wäldern herum und fluchte.«

»Und dann kamst du in die Fabrik?«

»Nein,« sagte er, sich abwendend, »da kam ich erst nach Flor.«

Renate zitterte bis in die Füße. Nun gedachte sie erst wieder, daß es dieser Mensch war, dieser, der sein Wesen immer in einen furchtbaren Knoten geschlungen trug, und der sich einmal an ihr Leben gelegt hatte wie an eine Giftwunde und gesogen; im höchsten Augenblick aus allen Enden der Glieder zurückgesogen hatte das Gift wie ein Allmächtiger. Aber der Knoten blieb ungelöst und mußte zerhauen werden.

Es dauerte lange Sekunden, bis sie fragen konnte: »Wie war das – in Flor?«

Da er abgewandt blieb, hörte sie seine Stimme undeutlich. Er könne es nicht sagen. Er hätte keine Worte dafür. Es sei dumpf gewesen.

»Als ich wieder aufgewacht war,« sagte Renate mit mehr Sicherheit, »da konntest du nicht kommen und sagen: Du gehörst mir!?«

Ja, wie denn? Ob sie ihm denn gehört hätte? Wenn ein Mensch ins Wasser fiele und ein Andrer hole ihn heraus …

»Ach, das paßt aber doch gar nicht, Erasmus! Ins Wasser springt es sich leicht. Dazu gehört nur Schwimmenkönnen und etwas Mut. Ins Wasser wäre Josef auch gesprungen.«

»Vielleicht«, gestand er, »glaubte ich, du würdest mirs ansehn.«

»Ja, da hattest du recht. Damals war ich blind, und nun sehe ich.«

»Es hat so sein müssen.«

»Und so blieben wir aneinander gebunden. Als wir uns wiedersahn in Altenrepen, was dachtest du da?«

»Daß meinem Bruder kein Mensch widerstanden hatte.«

Renate schwieg. »Viel fehlte ja nicht. Wenn er nicht zwei Schatten gehabt hätte …«

»Zwei, Renate?«

»Zwei Schatten, dicht nebeneinander, wie wenn Licht brennt am Tag. Glaubst du an Doppelgänger? Ich glaube, es war einer.«

»Bei Josef war alles möglich.«

»Ich sagte es keinem, nicht einmal mir selber richtig. – Und dann ging Josef, und du dachtest –«

»Er wird bald wiederkommen.«

»Ja, du glaubtest immer an alles, außer an dich.«

»Er kam auch nach anderthalb Jahren.«

»O das hast du gewußt?«

»Ja. Es war so ein Zufall, wie sie sein müssen.«

»Wann denn?«

»Einmal – du warst im Garten, mit Saint-Georges erst, dann allein. Du gingst zum Zaun und kamst nicht wieder. Ich sah alles vom Fenster. Dann mußte ich dir nachgehn. Ich wußte schon, wer da war. Und dann sah ich euch, wie ihr auf der Schaukel wart.«

»Und als ich zum Abendessen heraufkam, warst du wie immer …«

»Du auch. Man beherrscht sich ja.«

»Ja, wir Menschen sind wunderlich … Und was kam dann?«

Renate konnte nicht verstehn, was er sagte, oder ob er schwieg, denn in dem Augenblick brauste der Regen schallend auf, eine, zwei Sekunden lang, worauf er ebenso schnell sanft wurde, verhallte, und gleich darauf hörte sie nur lautes Tröpfeln. In der Ferne, wo sie den Himmel blau sah im Fenster, ging die goldene Gestalt einer Sonnenhelle wandernd einher und winkte nach allen Seiten, daß der Regen aufhöre. Renate mußte lächeln.

Wenn ich nur wüßte, dachte sie, wie einer Frau zumute ist, die geboren hat! Auch erst so kalt und steif, wie als Erasmus mich trug, und dann so gewichtlos und warm?

»Komm zu mir!« bat sie mit schwacher Stimme. Er kam und mußte sich auf den Stuhl neben ihr setzen, worauf sie seine eine Hand nahm und hielt. Sie war trocken, warm, beinah glühend, und sie dachte: Ach, aber die muß man kühlen! – Warm, fiel ihr ein, wenn uns friert, und kühl, wenn uns glüht, denn er ist beides. – Wer hatte denn das gesagt? Jason wohl, es klang so nach Jason. Derweil befühlte sie mit unmerklichen Drucken die große Gliederung dieser Hand, betrachtete auch verstohlen ihre Bildung. Sie war sehr derbe, die Fingernägel ganz rund, unedel – bis auf den Daumen, der für sich allein aussah wie – Renate fiel ein – ein Konnetabel von Frankreich. Sie schloß nun die Hände um das ganze, große und gestaltete Werkzeug und fand endlich die leise Frage nach Josefs Tod:

»Gab es nur die eine Lösung?«

Es zuckte sofort in der Hand. Die Stimme des Menschen, zu dem sie gehörte, und den Renate neben sich kaum noch erblicken konnte, sagte:

»Ja. Wenn es eine war. Immerhin – ich bin frei geworden. Sogar mein Verstand –« Sie hörte ihn unbehülflich lachen.

»Wie meinst du das?«

»Es war alles locker geworden.« In der Hand liefen Wellen, die an ihren Händen zuckten und zerrten, immerfort hin und her. »Vorher war das – wie Gänge. Aus einem konnte man nur in den nächsten. Erst waren die Naturwissenschaften. Nein, erst war Josefs Mutter. Dann lange Zeit nichts, und das war schlimmer. Dann wie gesagt … Dann das Studium, und meine Arbeit; dann Altenrepen, die Fabrik. Und du auch. Immer ein Gang und eine Höhle. Es war immer niedrig, ganz eng, ich konnte eben drin hingehn. Es war alles vorgeschrieben, und – auch Lesen, Spaziergänge – das war nur, wie wenn ich die Hand hob und an der Decke kratzte.«

Er schwieg – und fuhr wieder fort mit einem Stoß.

»Nun war die Decke fort. Der Himmel sah nicht herein. Der Tote sah herein, und wir sprachen miteinander. Erst im Traum nur. Dann auch … Wir hatten uns ja sonst niemals schlecht vertragen die letzten Jahre; und er war allzeit großartig gewesen und trug nichts nach. Nun war auch immer etwas Hinterlist dabei, so wie er sonst nicht war. Und er wollte mir beweisen, daß ich ganz recht getan hatte. So war Josef.«

Es kam nichts mehr. Renate sagte: »Weiter, Erasmus!« die Hand festhaltend wie ein warmes Tier, das immer davonwill.

»Wir verglichen,« stieß er sich wieder vorwärts, »wir verglichen mein Leben und seinen Tod. Immer fehlte etwas bei mir am Gewicht. Ich dachte, ich würde verrückt. Wir hockten da beieinander und suchten und fanden es nicht.« Er stockte.

»Das hat lange gedauert. Alte Begriffe sitzen sehr fest an einem. Es giebt so eine Konchylie, die am Bauch der Schiffe sich festsetzt und steinhart wird. Man muß sie mit der Axt abschlagen. Und man hat so gelernt: Tod muß mit Tod bezahlt werden. Aber das war locker geworden, und ich dachte: Stimmt das? Ein Mann hat einen andern erschlagen, und das Volk sagt: Gerechtigkeit! er muß auch sterben. – Wenn nun die Gerechtigkeit erfüllt wird, so empfindet das Volk Genugtuung. Ich arbeitete so mit Schlüssen. Es empfindet Genugtuung über die Gerechtigkeit, und das stellt sich dar in Genugtuung über einen zweiten Mord. Ist das gut? Nein. Aber der getötet hatte, empfand auch Genugtuung. Heben die beiden sich auf? Die Algebra sagt: Minus mal Minus giebt Plus.

»Ja, so hab ich gerechnet«, fuhr die immer mehr dröhnende Stimme fort, während die Hand in Renates Händen feucht wurde und klebend. »Und dann fiel mir ein: Gott machte an Kain ein Zeichen, und keiner durfte ihn anrühren. Unstet und flüchtig heißt es. Er wollte also keinen zweiten Mord. Er wollte, ich soll unstet leben.«

Renate sagte leise: »Und dein Vater? Er hatte doch ver–«

Sie endete nicht, da er seine Hand aus den ihren nahm, um eine abwehrende Bewegung zu machen.

»Er – ja, für sich! Aber für mich, und Josef, und die Welt? Nein, soweit war das schon richtig mit Gott.« Er sprang auf und stellte sich irgendwo im Zimmer auf, unsichtbar hinter Renate, deren Hände plötzlich aufatmeten.

»Aber nun das mit dem unsteten Leben«, hörte sie seine Stimme verdeckt und sah, sich ein wenig wendend, ihn an der Wand stehn, eine Faust darauf und auf sie die Stirne gelegt. Sie sah wieder fort.

»Wie soll man sich das vorstellen? Es war doch ein langes Leben wohl? Wovon lebte er denn? und wie? Immer auf der Flucht? Da dacht ich: das sind so menschliche Vorstellungen. Die Menschen erraten zuweilen etwas, es blitzt etwas auf, so das mit dem Zeichen, das Gott machte. Weiter wissen sie dann nicht, und das war eben das Wichtige. Er sühnte so – und es ging sie ja auch nichts an.«

Nun sprach er schneller und immer heftiger weiter.

»Ich hab das immerzu gedacht. Gerechtigkeit ist so ein irdischer Begriff. Er kommt vom Wert. Jedes Ding wird gleich gewogen mit einem zweiten, und Gerechtigkeit läßt sich kaufen. Früher kauften sie auch Frauen, und es giebt Länder, wo Blut mit Gold bezahlt wird. Hilf mir doch weiter!« stöhnte er plötzlich, und erschrocken sich umwendend sah sie ihn in einer seltsamen und furchtbaren Haltung vor dem Schrank, die Stirne ganz tief dagegen gesenkt und mit ausgebreiteten Händen auf und nieder gleitend an den Kanten, – so wie ein Tier, das irr geworden ist von Gefangenschaft. Renate war gleich darauf bei ihm, er ließ sich aufrichten, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und blieb so eine Weile. Plötzlich machte er sich dann los, setzte sich in Bewegung und redete vor sich hin, auf und ab gehend, und ohne die gesenkten Augen und den Kopf zu erheben; die Hände griffen dabei.

»Die Rechnung stimmt eben nicht. Jedes Ding ist einzig. Das Volk denkt: Wenn mein Weib stirbt, nehm ich ein andres. Das hab ich immerzu gedacht. Kann Gott – ich meine: wenn es einen giebt und er hat eine Gerechtigkeit, kann sie auch so –?

»Nein. Für ihn ist alles einzig und unersetzlich. Ist das menschlich zu wägen? Nein, hin ist hin.

»Aber dann dacht ich: kann der Mensch nicht etwas tun? Nehmen und dann wiedergeben, und wenns ihm auch sauer wird, ist doch keine Leistung. Was aber noch? Ich dachte: der Mensch kann mehr tun.«

Renate hatte sich auf den Stuhl am Tische gesetzt und die Hände darauf gefaltet. »Das hast du gedacht?« fragte sie ergriffen.

»Es ergab sich so. Man muß rechnen, und man muß immer weiter denken. Früher, wie gesagt, war da Gang und Höhle, und so ist es mit dem Denken: links, rechts, rechts, links, und dann die Wand. Nein weiter: oben – unten …«

Stehen bleibend, sah er Renate mit jenem beschränkten und unbeholfenen Frageblick an, den sie kannte. »Mußtest du immer denken?« fragte sie behutsam. Er begann wieder zu gehn. Erst nach einer Weile rief er:

»Na ja, was denn, was denn? Denken, der Mensch muß denken! Langsam kommt man vorwärts, und ich trat immer auf dieselbe Stelle und sah mich um. So muß mans machen.

»Also nun das Mehr-tun. Wie fängt man das an? An den Menschen ist freilich immer zu tun, aber –« er brach enttäuscht ab. »Ihnen ist ja nicht zu helfen!«

»Ich meine, versteh mich recht,« fing er gleich wieder an, »nicht auf meine Weise! mit meinen Mitteln! Was läßt sich denn ausrichten? Ich hab doch nur Geld. Was kann man machen? Wenn ich alles verteilt hätte, wenn ich jedem so viel gegeben hätte, ich meine jetzt: meinen Arbeitern, daß er so viel hatte wie ich selbst, das wäre doch ungerecht gewesen! Dann hätte ich doch zu wenig bekommen! Und was kann man sonst tun? Da sind überall die Gleise: Krankenhäuser, Pensionen, und bessere Wohnungen, und dergleichen –« Er schöpfte Atem. »Was ist denn damit gedient?

»Man kann immer nur flicken. Das ist ja auch alles nicht der Rede wert, das war ja für mich alles viel zu wenig, da bin ich auch bald abgekommen. Ich habe einfach – gerechnet! Ja!« schloß er mit großer Bestimmtheit, vor Renate stehend mit schwerem, aber fast zufriedenem Blick. Und nun sprach er schnell weiter:

»Einem hab ich genommen, einem muß ich geben. Das Dasein hier, das ist ganz aufgebaut auf Zwein. Zwei machen die Zeugung, ohne die steht alles still. Zwei sind das Letzte. Wer Allen was tun will, der muß sein – wie Christus. Ich meine: so einer kann ihnen doch nur mit der Seele helfen. Das ist doch klar! Ja, die Mathematik, wer die begreift, das ist eine göttliche Kunst! Es giebt eine Zahl darin, laß dir sagen,« redete er inständig, doch scheinbar ohne sie recht zu sehn, auf Renate ein, »das ist die Null. Die verzehnfacht jede Zahl, wenn man sie dahinter stellt. Ist das nicht ein Geheimnis? Wie macht sie das? Durch ein andres Geheimnis, nicht wahr? Null ist nämlich in der Mathematik gleich Unendlich!« schloß er mit ausgestrecktem Zeigefinger vor Renate hin.

»Null ist gleich Unendlich. Und das Unendliche in Verbindung mit einem Endlichen wirkt in endlicher Weise, und mit einem Irdischen in irdischer Weise. Die Kraft des Unendlichen wirkt durch Verzehnfachen, Verhundert-, Vertausendfachen. An sich ist sie nichts, ist Null, für uns, ja für uns Null. Oder x, die Unbekannte. Null ist gleich x. In jeder Aufgabe, die sich löst, muß x gleich Null sein.«

Renate bemühte sich, mit dem offenen Blick des Verstehens und Einverständnisses an diesen, jetzt quellenden und glühenden Augen zu hängen, ohne doch dabei sie, die verwirrenden, richtig zu sehn; und sie klammerte sich an etwas, das ferne hinter ihnen, und hinter all diesem Sinnlosen und wieder Sinnreichen, zu dämmern schien wie ein Auge voll großer Vernunft.

»Aber«, sprach er weiter, »wenn du nun Übertragungen vornimmst auf die menschlichen Zustände, so gehts wie mit allen Übertragungen des Göttlichen: es geht immer nur bis zu einer gewissen Grenze. Ich stand gleich vor einer Schranke, vor zwei Schranken, ja, und hinter jeder warst du!«

Er rief ihr das zu – so wie man einem etwas ins Gesicht ruft, damit er endlich begreift, und erst hinterher schien ihm bewußt zu werden, was das denn hieß, denn er brach ab, legte das Gesicht auf die Seite und versuchte zu lächeln, ohne Renate anzusehn, auf sehr traurige Weise. – Sie sagte nur: »Weiter, Erasmus!« und als hätte es nichts weiter gebraucht als das, war er wieder in Erregung und sprach, jedoch ohne sie anzusehn, gegen den Tisch:

»Die eine Schranke war so. Einem Menschen hatt' ich genommen, einem andern mußte ich geben. Was? Das Leben. Ja, mein Gott, was solltest du mit meinem Leben? Damals warst du krank. Was sollte ich tun? Konnt ich wie damals? Wenn ich kam, liefst du weg und schriest –«

Er verstummte. Sie konnte die Augen nicht offen halten, schaudernd vor der Erinnerung an ein Tier, an den Tiger, der ihr damals zuweilen Entsetzen eingeflößt hatte.

»Weiter, Erasmus, weiter!« flehte sie.

»Das war die eine Schranke. Die andre war das Unendliche. Wie läßt es sich binden? Kann man hineingehn? Ja, kannst du denken, was ich damals beabsichtigt, ganz ernst beabsichtigt habe?«

Die Augen öffnend, fand sie die seinen wieder darauf eingestellt, fragend.

»Ja, Erasmus,« sagte sie, in einem Blitz erratend, »du wolltest Mönch werden.«

»In ein Kloster gehn. Aber es paßte doch gar nicht. Ich muß tätig sein. Was sollte ich anfangen in einer Zelle?«

»Also einen andern Weg? Also zu einem Menschen? Da war wieder die Schranke, – und du!« endete er unsicher.

»Ich weiß«, sagte sie sanft. Aber wie weiter? Was nun?

Es verging eine Zeit, und sie sah ihn nun wieder wie im Anfang auf der Fensterbank sitzen, nur viel erschöpfter, den Kopf angelehnt, das hagere Gesicht durchglüht und beperlt, ein Taschentuch in den Händen, das er unbewußt zusammendrückte und zog.

»Erasmus,« fragte sie, »glaubst du an Gott?«

»Ach,« versetzte er ablehnend, »wer kann das wissen! Man glaubt und auch nicht. Die meiste Zeit des Lebens geht ohne ihn hin, und eines Tages, wo man ihn haben müßte, ist er verloren. Ganz recht, denn das wäre was, sich das halbe Leben nicht um ihn kümmern, und dann plötzlich, wenn man ihn braucht. Er wird sich um uns auch nicht kümmern.«

»Ja, aber wozu dann –« fragte sie in plötzlicher und dunkler Ahnung eines ablenkenden Wegs.

Er setzte sich härter und gerader fest. »Wenn es einen giebt, muß er schon so groß sein, daß er sich um uns nicht bekümmern kann!« sagte er verächtlich.

»Wirklich, ach! Was du nicht sagst!« rief sie entschlossen, jetzt ganz leicht zu reden. »Ich glaube, an dieser Stelle hättest du getrost auch weiter denken können.«

»Wieso?«

»So groß«, sagte sie, »kannst du dir Gott denken, daß er deiner nicht achtet. Warum dann, Erasmus, warum nicht noch um so viel größer, daß er deiner doch achtet? Wie wird denn die Größe bei dir gemessen? Wäre das nicht erst wahrhaft Größe: so groß – und doch deiner achtend?«

»Das wäre!« sagte er tief und sah sie mit Staunen an. »Das läßt sich ja begreifen!«

»Und das Unendliche,« fragte sie voll Hast weiter und innerlich schon triumphierend: »wenn es das giebt, hat es einen Anfang? oder ein Ende?«

»Nein.«

»Kannst du also am Anfang oder Ende stehn?«

»Nein.«

»Also wo!«

»Mitten.«

»Und das Unendliche selbst, wo kann es nur sein?«

»In mir.«

»In dir, Erasmus, ja in dir! Der Kreis, der ewige Kreis, der du bist, und dessen Umlauf nirgend, und dessen Mitte allüberall ist. Wie konntest du denn – ach, nun fällt mir etwas ein, es ist zum Lachen, aber höre nur! Neben unsrer Kleinbahn bei Flor standen in Abständen auf dem Damm immer Pfähle mit einem wagrechten Brett oben, wie Wegweiser, die senkrecht weg von der Bahn zeigten, und darauf war das mathematische Unendlichkeitszeichen gemalt – so!« Sie malte mit dem Finger die liegende Acht in die Luft. »Und ich weiß noch, wie ich zu Papa gelaufen kam, als ich das Zeichen gelernt hatte, außer mir, weil da überall Wegweiser standen mit dem Zeichen. Hier gehts zur Unendlichkeit! nicht wahr? und natürlich hatten sie recht, da alle Wege in sie münden. Aber in Wirklichkeit: liegt es denn da draußen irgendwo, das Unendliche? Und sahst du nicht immer nach oben oder unten, nach draußen, um es zu finden? Was also hättest du tun müssen statt dessen?«

Gott erhalte mir jetzt meinen Verstand, betete sie inbrünstig und nahm all ihren Scharfsinn zusammen, dieweil sie ihn antworten hörte: »Nach innen sehn!« und hinzusetzen, ungläubig: »Aber – da war doch nichts!«

»Nichts, Erasmus? Mit dir hat man seine Not! Wo, sagtest du eben, sei das Unendliche?«

»In mir.«

»Und in welcher Gestalt? göttlicher oder menschlicher?«

»Menschlicher.«

»Die wie aussieht, du sagtest es vorhin?«

»Wie eine Null.«

»Und die was tut in Verbindung mit der Zahl?«

»Verzehnfacht.«

»Was ist verzehnfachen? Ich meine: wie nennt man – etwas, das verzehnfachen kann?«

»Eine Kraft.«

»Also stellt das Unendliche sich menschlich dar in einer gewaltigen Kraft, die verzehnfacht. Hast du einen Namen für solche Kraft, wenn du sie dir vorstellst?«

Er zauderte. »Du meinst – Liebeskraft.«

»Ja, Erasmus, Liebeskraft, ja, das ist die Kraft des Unendlichen, durch die sie Wesen hat und waltet! Hast du sie nicht gehabt?«

»Ich glaube …«

»Ach, du glaubst! Nun, und was tut man mit ihr?«

»Man – man soll sie anwenden.«

»An wen?«

»An Menschen.«

»Was für einen Menschen?«

»Der sie braucht.«

»Kanntest du solch einen?«

»Ja.«

»Wer war denn das?« rief sie, fast zerrend an seiner Langsamkeit.

Seine Augen verdrehten sich etwas. »Du.«

»Nun? Und nun?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber – Renate! Da ist ja wieder die Schranke.«

»Nun Gott sei gelobt,« sagte sie strahlenden Auges, »das war alles, was ich wollte!«

Da begriff er. Sie erhob sich langsam, während er auf sie zukam, und sagte: »Sollt ich nicht auf meine Art auch beweisen, Erasmus?«

Er nahm ihre Hände und legte sie sich auf die Schultern. »Du verdrehst es nur so«, meinte er stockend.

Plötzlich schlug ihr Herz wie im Fieber, und Müdigkeit nach der Anspannung des Denkens schwemmte heiß über sie hin. Sie legte einen Augenblick die Stirn gegen seine Schulter, stand auf einmal in ihrem Schlafzimmer, am Fußende des Bettes, und dachte besinnungslos nur: War das der Anfang – –?

Sie ging um das Bett, setzte sich auf die Decke, und in einem Schwindelgefühl erschien ihr Jason in ebendem Bett, auf dem sie saß, wie er krank darin lag vor Jahren. Sie und Magda saßen abwechselnd bei ihm und hörten ihn endlos aufsagen aus der Abgründigkeit seines Gedächtnisses.

Ja, dachte sie weiter, ich muß ihn reden lassen, immer wieder, und ihn immer wieder auf einen andern Weg bringen, bis er sich ausgeschöpft hat.

Wenn er sich ausschöpfen läßt! entgegnete unhörbar eine Stimme.

Oder bis er es müde wird. Denn, setzte sie auflächelnd hinzu, außerdem wird noch das Leben sein, und alles –

Sie vermochte nicht zu Ende zu denken, gab, verspürend, daß sie umsank, langsam nach, lag und zog auch die Füße herauf. Ihre Augen fielen zu, sie glühte und gab sich der Müdigkeit hin mit einem Seufzer der Lust. Noch hörte sie die Stille und draußen das unablässige Aprilgezwitscher der Vögel, und sie dachte in der Erinnerung Jasons:

Er hat es überstanden, – und du und ich, wir werden es auch überstehn. – –

Damit entschlief sie. Sie fuhr aber schon Augenblicke danach mit einem zuckenden Schrecken empor und saß aufrecht. Sie horchte; nebenan war Stille. Eine halbe Minute wohl saß sie so, keinen Laut vernehmend als den dumpfen Schlag ihres Herzens und das ferne Klappern einer Dachrenne. Etwas – mußte nebenan sein, und da sie doch die Vorstellung hatte, das Zimmer sei leer, dachte sie besinnungslos: er hat sich hinausgestürzt! mehrere Male; vor Augen das offene Fenster dort. Der Schlag ihres Herzens trat in ihre Kehle, sie schluckte und atmete behutsam.

Und behutsam nahm sie die Füße vom Bett, dabei entdeckend, daß sie ihr Kleid nicht mehr anhatte und weiß war in Unterrock und Leibchen. Ihr fröstelte; aber in dem Augenblick, wo sie leise aufstehn und zur Tür gehen wollte, wußte sie, daß er dahinter stand, und rief schon: »Erasmus!« angstvoll blickend zur Tür, bis zu der das Fußende des Bettes reichte.

Die ging auf, und er kam herein. Ohne sie anzusehn, kam er um das Bett und stürzte vor sie hin, umschlang ihren Leib, wühlte die Stirn in ihren Schoß, ächzte und schluchzte, auf und nieder geworfen von Stößen, daß sie ihn kaum zu halten vermochte. Aber sie preßte ihn an sich mit aller Kraft, küßte ihn, weinte und stammelte, was ihr einfiel: »Ja, ja, Erasmus, ja! O mein Gott, ich hab zu wenig getan, das war ja nichts, ich weiß, ich hab es ja gewußt! Sag mir, was ich tun soll, ich will alles tun! Sag doch, o sag doch!«

Langsam wurde es in ihm stiller. Er hob den Kopf hoch, sah sie an mit unseligen Augen und sagte: »Gieb mir –«

Er brachte nichts weiter heraus, setzte zwei- und dreimal zum Sprechen an, und indem hatte sie erraten, was er wollte, und schrie, sein Gesicht an die Brust drückend: »Die Kinder!«

Und weiter mit immer erneutem Pressen und Küssen und an sich Drücken flüsterte sie in ihn hinein, jagend in Worten, von denen sie kaum wußte: »Die Kinder, ja, ja, ich hab es ja gewußt, nur das kann uns retten! Warte nur, o wart nur ein wenig, bald, bald, es geht ja schnell, und wir wollen gleich – – Erasmus! Willst du gleich? Jetzt! Heut nacht, heut, o ich will dich lieben!« schrie sie brennend, »ich will dich lieben wie Gott, und dann kommen sie, du wirst sie bald hören, das Neue, Erasmus, das neue Leben, das nichts weiß! Ach!« weinte sie, »wenn du nur erst sein Herz in mir schlagen hörst! Ach, wenn du fühlst, wie es sich bewegt, dann wird es ja gut werden. Dann wird es ja gut werden!«

Sie hob sein Gesicht mit beiden Händen, damit er sie ansähe, strömend von Tränen, durch die seine Züge dunkel und verschwommen erschienen wie in Wasser. Aber er sah sie nicht an, er schien über ihre Schulter ins Leere zu starren oder in die Ferne, und so sagte er dann:

»Ja. Aber – – und dann …«

»Was denn, Erasmus? was denn?«

»Dann muß man – es – sagen …«

»Sagen? Was sagen, Erasmus, wem denn?«

In seine Augen trat ein entsetzlicher Ausdruck von Lüsternheit, mit dem er flüsterte: »Mein Sohn …«

Sie erriet. Sie schrie: »Um Gottes willen, Erasmus, was willst du –«

»Wenn er soweit – ist …«

»Nein, Erasmus!« jammerte sie, »nein, nein!«

»Dann will ich ihm sagen – – dein Vater – ist –«

»Nein, du tötest uns, Erasmus, nein!«

»Mörder –«

»Du bist es ja nicht! Lieber, Lieber! du bist es ja nicht!« klagte sie.

»Und dann – – wenn ers – erträgt … Wenn – ich – einen Sohn – habe –« sagte er langsam, »der es – erträgt, dann – ist es gut.«

Er sank an ihr nieder, erschöpft, sein Gesicht fiel auf den Bettrand, und sie saß leise weinend daneben, mit der Hand über sein feuchtes Haar streichend, und verstand, daß es so sein mußte. Es sei denn, das Leben selber brauchte seine Gewalt.

Er stand von den Knien auf, wandte sich ab und ging zum Fenster, wo seine Gestalt den schmalen Raum ganz verdunkelte. Aber draußen war Helle, und Renate konnte aus ferner Höhe die leise Drosselstimme der Kindheit schlagen hören, friedfertig in Pausen, durch die Stille.

Es war Charfreitag; Ostern stand bevor.


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