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Viertes Kapitel: November

Cornelia Ring an Magda

auf Hallig Hooge, am 1. November

Liebe Magda, heute will ich nun daran gehn, Ihren Wunsch zu erfüllen und von uns Allen hier, besonders von Ihrem Freund Georg einen möglichst ›naturgetreuen‹ Bericht zu geben. Es ist später damit geworden, als ich dachte, aber Sie werden einerseits daran sehn, daß nichts Beunruhigendes zu melden war und ist, und andrerseits sind es ja immerhin sechs Menschen und drei Häuser, für die ich nun haushälterisch auszukommen habe, das reicht schon für den Tag.

Ich beginne mit Bogner, und über ihn glaube ich Sie recht beruhigen zu können, jedenfalls was seine Gesundheit angeht. Ich mache ihm täglich nach wie vor selber seinen Verband neu, da Frau Tregiorni den Anblick nicht ertragen kann, begreiflich bei ihrem Zustand, und sehe, wie es eigentlich täglich besser wird. Er selber klagt auf Befragen noch immer über Schmerzen beim Gehen, aber an Stellen, wo wirklich nichts sein kann außer schmerzlicher Gewohnheit von früher her, vom Liegen oder so, das Loch im Rücken braucht natürlich Fleisch zum Ausfüllen, und da er so wenig ißt … Doch denk ich, es wird schon werden, ich habe da allerdings mehr Vertrauen als er – obgleich er nicht davon spricht, weiß ich, daß er noch immer der Meinung ist, es gehe mit ihm zu Ende –, aber ich kenne einen ganz ähnlichen Fall aus Erfahrung.

Frau Tregiorni ist recht still geworden. An ihr zeigen sich alle Leiden dieses Zustands, Fröste, Fieberschauer, plötzliche Ängste, immer wieder Übelkeit, Abscheu vor diesem und jenem, heut einer Speise, heut einem Kleid, oder vor Menschen, nun – Sie werden wissen, wie das zu sein pflegt, und daß es an sich nicht besorgniserregend ist, obgleich ich schon sagen muß, daß es mehr ist als gewöhnlich.

Ja, und nun Georg. Sie möchten, daß ich ihn recht genau beschreibe, und in so etwas habe ich freilich gar keine Übung, wie denn meine ganze Berichterstattung wohl daran leiden wird, daß ich das Schreiben gewöhnt bin in allen möglichen Sprachen, nur nicht in der deutschen; es ist merkwürdig, wie wenig man doch weiß von einer Sprache, die man beständig spricht, und wie farblos mir selber alles klingt! – Körperlich scheint es ihm, Georg, ganz gut zu gehn; er klagt nur über Schlaflosigkeit. Das würde ich auf die See schieben – sie ist seit Ihrer Abreise fast ununterbrochen stürmisch gewesen –, aber er behauptet, »ohne die See könnte er nicht leben«. Ich kenne ihn ja auch wenig.

Aber ich kann wohl sagen, daß ich erschrak, als ich ihn zuerst hier wiedersah und kaum erkannte. Daran war allerdings hauptsächlich der dünne, rötliche Bart schuld, der ihm ums Kinn gewachsen ist, und der sein Gesicht älter macht, auch weicher und leidender. Am linken Mundwinkel hat er ein nervöses Zucken bekommen, indem es die Unterlippe ruckweise nach links zerrt, oft drei, viermal nacheinander, dann wieder versucht er es zu unterdrücken, und so kann man daran immer erkennen, wie sein innerer Zustand ist. Die Augen, die erst erschreckend eingesunken waren, kommen nun langsam wieder hervor, weil die Wangen etwas fleischiger werden. Wenn ich Ihnen nun noch sage, daß sein Haar über den Schläfen dünner geworden ist und um die ganze Stirn zurückgewichen, so werden Sie ungefähr wissen, wie er aussieht. Fast scheint es mir, er ist noch gewachsen während seiner Krankheit, das wäre ja nicht unmöglich, er ist nun fast einen Kopf größer als Sie und ich und dabei so schmal!

Es ist ja furchtbar schwer, im Innern eines Menschen zu lesen, dessen ganze Natur so wie die seine durch Erziehung und Vererbung darauf eingestellt ist sich zu beherrschen, aber ich kann doch erkennen, daß er Unbeschreibliches erlitten haben muß und noch immer leidet. Er ist nun, wenn man mit ihm spricht, von einer solchen – ja wie sage ich nur? – Demut, möchte ich fast sagen und weiß doch nicht, indem ich das Wort schreibe, wie und wo ich sie gesehen haben will. Er hat eine so unbeschreibliche Gebärde, wenn jemand ihm erzählt, so von Menschen, die man kennt – er will immer von Menschen hören und lauscht dann mit einer fast glühenden Angespanntheit, als ob er das Wichtigste lernen und nichts vergessen müßte –, so eine Gebärde, wollt ich sagen, mit der er dann die Hand hochhebt und einen ganz vertieft ansieht und sagt: Ja sehn Sie! – mit dem Ton auf sehn –, aber es läßt sich wohl nicht beschreiben, und ich will nun aufhören. Sie werden sich schon gewundert haben über all das wirre Zeug. Ein wenig betrübt es mich schon und beunruhigt mich auch, von Ihnen und Fräulein Renate so gar nichts zu hören seit Ihrer Abreise, und ich hoffe nur, daß dem nicht etwas Schlimmes zugrunde liegt!

Ich hoffe nur, daß Sie nicht ganz unzufrieden sind mit meiner Berichterstattung, die wie gesagt besser sein würde, wenn ich unglückliches Menschenkind eine eigene Sprache hätte, aber das ist nun zu spät. Ich grüße Sie und Fräulein Renate recht herzlich! Ihre

Cornelia Ring

Georg an Benno

Mein lieber Benno, wie geht es denn Dir? Teuerster Benno, die See ist des Teufels! Heute nacht – ich hatte der Abwechselung halber einmal ein paar Stunden geschlafen – fing ein großes Rumoren an, und als der sogenannte Morgen kam – ›ein Ding, das wie Nacht ist aus Lehm‹ –, war der Teufel los. Ich hause nämlich gewissermaßen auf einer Insel jetzt, ja, das wäre schon etwas andres als Serk, wo wir triumphierend wie die Vögel in der Höhe schwebten, sondern dies hier ist nichts weiter als ein kleiner Teller voll Erde, mitten und unten in der Unermeßlichkeit rollender Wasser, rundherum ist ein besondrer Wall, auf dem Wall ein Turm, in dem Turm ich, nicht völlig mir selbst überlassen, sondern ich habe allerlei Gesellschaft, als da sind: zwei Ziegen, eine Kuh, verschiedene Hühner, ferner Bogner, Ulrika, ein besonders notwendiger Hauptmann namens Ferdinand Rieferling, eine junge Dame mit Namen Cornelia Ring und mehrere Tote. Mein Turm steht auf dem Deich, und stehe ich auf dem Turm, so habe ich naturgemäß das ganze Panorama unter mir: Himmel, grau und schwarz in fürchterlicher Aufregung, ein unsagbares Fluchtgetümmel von Lapithen und Giganten, die vor Raserei sämtlich in Fetzen gehn, und darunter die ruhmwürdige Winterschlacht der bodenlosen Gewässer. Wie wäre es, wenn Du kämst? Hier säßest Du, wie gesagt, mitten darin und schlottertest vor Angst, die Wüstenei überrennte Dich kaltherzig im nächsten Augenblick; die Seele wird sich Dir umkrempen wollen (Notabene bist Du sicher, eine zu haben?), und wenn Du Dich nicht an der Brüstung hältst, so reißt Dich das riesige Saugen der Aussicht ins schwarze Brodeln hinunter. Tausend Satanasse von Gischt siehst Du da herumtanzen und denkst: Wie einfältig ist doch das Land gegen die See, eine fromme milchende Kuh gegen einen tollwütigen Stier. Hundert Millionen in Raserei aufgelöster Büffel sind hier zu sehn, wie sie herantaumeln, nichts in den Hirnen als die aberwitzige Vorstellung, sich allhier die Schädel einrennen zu müssen, und schon ists ein Erdbebenfeld von Legionen zertrümmerter Mauern, die dahergeschoben werden von einer entsetzlichen Leidenschaft, alldas zerspritzt und zerknattert sich zu Deinen Füßen, und das Gebrüll steigt zum Himmel, daß er davonjagt. Alles siehst Du wanken, die bewohnte Erde ist allerseits spurlos verloren gegangen, nun berennt hier die See ihren letzten Widerstand, auf dem Wir, die Letzten, herumkriechen wie die Raupen. Allein getrost! Begeben wir uns vom Turm hinunter ins Wiesental, so ist alles schon wieder ganz sanft geworden, ein wenig öde, ein wenig trostlos, aber der Teufelslärm hat sich gelegt und ist zum Orgelrumoren geworden.

Du solltest wirklich kommen! Wie war das noch? Vor einem Jahr ungefähr schriebst Du mir einen Brief in einer besondren Zeit, wo ich keine Briefe zu empfangen gedachte, und siehe da, ich war gekränkt. Nun haben wir wieder eine ähnliche Zeit, wo ich um Dein freundschaftliches Schweigen ersuchte, und Du schweigst wirklich, und ich bin auch gekränkt. So ist das Leben! Was tust Du? Korrepetierst Du fleißig mit Deiner Elfe das ewige Paternoster: Ich liebe Dich, du liebst mich und so weiter? Nein, laß das, es führt ja zu nichts, komm hierher, hier läßt es sich trefflich rasend werden, und paß auf, ich will Dir mein Haus beschreiben!

Stelle Dir vor: einen Turm, achteckig, nicht eben hoch. Kleine Tür, Du trittst ein und befindest Dich in einem großen und hohen Achteck, das dunkel scheint, nur von rechts und links und Dir gegenüber zerschnitten von bleichen Lichtbalken aus drei, nicht eben großen Fensterscharten, die gut ihre anderthalb Meter tief sind, denn so dick sind die Mauern, und außerhalb enger als innen. Sie liegen genau nach Norden, Westen und Osten, die Tür im Süden. Die Wände sind dunkelbraun getäfelt, in der Höhe befinden sich rundherum die vor Altersschwärze kaum noch erkennbaren Bildnisse der sieben Planeten. Die vorhandenen Möbel, bestehend aus einem Schreibbüro, rechts vom nördlichen Fenster, einem Ohrensessel irgendwoanders, einem runden Tisch in der Mitte des Raums nebst drei Stühlen, genügten dem letzten Wohner, genügen demnach auch mir. Eine eiserne Geländertreppe führt durch eine Luke in einen gleichen Raum, der als Schlafzimmer eingerichtet ist, und weiter hinauf zur Plattform des Daches. Der runde Tisch aber im unteren Zimmer ist besonders geeignet, immerzu rundherum zu laufen, es ist auch Platz genug für einen zweiten Läufer, also komm, Benno, wir laufen zusammen, einer so herum, einer so, wie die Daumen.

Was jedoch tue ich, wenn ich nicht laufe? Entweder ich laufe doch, bloß anderwärts, nämlich allein oder mit der gewissen Cornelia außen um den Deich, was bei Ebbe manchmal geht, aber wir müssen uns bei jeder siebten Welle an die Deichwand klemmen, – oder ich schreibe meine Memoiren. Memoirenschreiben ist wichtig, oder wie? Ein Mensch stirbt, keine Memoiren, was kommt zu Tage? Er hat gar nicht gelebt. Augenblicklich bin ich leer, darum schreibe ich erstens an Dich, und werde ich zweitens anfangen, Aussprüche von Bogner zu sammeln. Er tut immerfort ganz bedeutende Aussprüche. (Früher war er nicht so, nun ist er redselig geworden.) Willst Du einen? Da hast Du: Bei Gelegenheit unermeßlicher Ruhmreden auf allerlei Maler, darunter Kokoschka (ach, wohin verschwand mein früher so ebner und stetiger Bogner, nun ausschweifend in Empfindsamkeit und Erschütterungen?), verglich er dessen Bildnis des Schriftstellers P. Altenberg besonders trefflich mit dem ›Hinterteil eines Engels in einem Gestrüpp‹. Die Gesichter aus Kokoschkas Bildnissen, sagte er fernerhin, seien allesamt ohne Haut, das wolle sagen, er ziehe die Haut davon ab und sehe darunter nichts als wimmelnd zuckendes Schicksal und Leben der Seele, – so ungefähr, ich werde von nun an mehr acht auf die Worte geben. Bogner ist ein seltner Mann!

Und kurz und gut, ich will Dir sagen, wie es mit Bogner steht. Er ist verrückt. Platterdings, es läßt sich nicht anders ausdrücken. Mit einem Wort: fixe Idee. Plötzlich nimmt er mich beiseite, das heißt, er führt mich von Ulrika fort in ein Nebenzimmer, legt mir die Hände auf die Schultern, sieht mich trübe prüfend an und fragt: Was meinst du, Georg, sie wird es doch gut überstehn? – womit er das Kind meint, das sie kriegt. (Beiläufig hat er mir nämlich Brüderschaft angeboten, und siehe da, so wandeln sich die Zeiten! Einst, als ich ein pickliger Hering war, wie verging ich in Ehrfurcht vor diesem besondersten Mann, und nun, wo ich inzwischen so heruntergekommen bin, daß ich keinen Bissen mehr von mir annehmen mag, da stellt er mich zur Rechten seines Throns und bezeugt mir sein Wohlgefallen. Wie besonders ergötzlich, zumal wenn man bedenkt, daß es mein telemachisches Zwerchfell natürlich doch kitzelt!) Also, ich antworte: Glänzend! sie übersteht es glänzend! – Er nickt vor sich hin, sagt: Und ich, Georg, was hältst du von mir? – Ich – wie oben und so weiter … Lieber Georg, sagt er da trübsinnig, du irrst dich. Dies ist bloß Schein. Und, sei nicht traurig, sagt er so in seiner besondren Weichmütigkeit, aber – kurz und gut: mit mir ist es aus. – Ich bin sprachlos, murmele einiges, und da fängt er tatsächlich an, mir seine Idee zu entwickeln. Nämlich erstens: Geistig zeugerische Menschen dürfen keine Kinder haben. – Das nannte er ein Naturgesetz. Man, sagt er, darf nur auf eine Art zeugen. Gesetzt also, ich zeuge trotzdem auf eine andre, so ist damit bewiesen, daß die meine nicht gilt. Ich bin verworfen, sagt er unfehlbar, und geht und sitzt am Fenster bei den Fuchsien in Gestalt eines alten, gebrochenen Mannes. Mir brach das Herz, und er fährt mit einer feierlichen Wehmut fort: Sie – wird leben, und was aus ihr kommen wird; ich sterbe. – Ja, so stellte es sich ihm dar: sein Leben hört auf, das des Kindes fängt an. Worauf er anfängt, es mir andersherum zu beweisen.

Einsamkeit, sagt er, ist das Gesetz des Arbeiters im Geist. Dies, sagt er, habe ich an mir erprobt gefunden, denn immer, wenn ich versuchte, mit andern Menschen eine Verbindung einzugehn, gab es Unheil für sie und für mich. So auch jetzt, und jetzt das besonders Böse: Als ich mich mit Ulrika verband, tat ich unwissend etwas, an dessen äußerstem Ende mein Tod erschien. Ich legte Hand an meine eigne Form, ich zerstörte sie. Ich, schloß er, habe selber auf mich geschossen, nicht der Andre.

Und dann wieder von vorn und hundert Mal immer das gleiche in andern Gestaltungen.

Die Verwandlung dieses von mir geliebten Menschen ist zum Grausen. Früher die Stetigkeit selber und Feste, eine gotische Burg, ist er nun wie ein Erdhaufen, unter dem der Maulwurf arbeitet. Ich kann nicht umhin, unsrer ersten Gespräche vor Jahren zu gedenken. Damals – den Inhalt vergaß ich –, damals aber jedenfalls war ich der besondre Dialektiker, nicht ganz ungewandt, wenn ich auch heute weiß, daß meine Einfälle sich assoziativ einstellten, vermittels Luftwurzeln sich fortpflanzend, anstatt aus unterster Wurzel zu treiben. Heute kann ich mir immerhin einen gewissen Zwang nachrühmen, jeden Gedanken auf seinen Ursprung zu prüfen, er dagegen ist von einer Spitzfindigkeit ohnegleichen und fängt die Behauptungen aus der Luft, weil sie da funkeln. Zum Beispiel folgendes:

Nämlich die Rede war von dramatischer Kunst. Ich weiß was, sagt Bogner, das Drama ist die leibhaftigste, menschenhafteste Kunstform, und darum hat es fünf Akte wie die Hand fünf Finger. – Blendend, nicht wahr? Übrigens, fährt er fort, ist es dir auch schon einmal aufgegangen, daß sich das Drama zum Epos verhält wie das Gebirge zur Ebene? – Aufgegangen nicht, sage ich, aber wo du es sagst, kommt es mir ganz bekannt vor. – Denn siehst du, fährt er eifrig fort, so ein Trauerspiel ist wie eine Gebirgswanderung. Da giebt es überall Plötzlichkeiten, Täler, Abgründe, Schroffen, halsbrecherische Stege, einsam emporstrauchelnde Seelen, Anseilungen, und die großen unverhofften Ausblicke in dampfende Tale, Ängste und Entzückungen, mit einem Wort: Tragödie.

Als Einfall wieder blendend, wie schon bemerkt. Ich aber sagte, ohne mich zerblitzen zu lassen: Und aus diesen Gründen schrieb ja auch der Bergschotte Scott seine langen Romane, der Tiefländer Shakespeare dagegen Tragödien, Epen die Bergschweizer Keller, Meyer und Spitteler, der Tieflandfriese Hebbel dagegen nebst dem Märker Kleist Dramen, ebenso wie Grillparzer vom sanften Kahlenberge. – Bogner war ganz elend von meiner Beweisführung und wollte sich kläglich herauslügen: Keller hätte vor der Ebene gesessen (ich schrie: aber Blut und Geburt!), Shakespeare wäre als Genie überhaupt unkontrollierbar, Kleist hätte Novellen geschrieben und einen verloren gegangenen Roman (was der alles weiß!). Spittelers Werke wären erfüllt mit alpiner Landschaft und Scott überhaupt bloß ein Schriftsteller gewesen, und vor allem hätte ich vergessen: Balzac, Dickens und Dostojewski aus dem breitesten Flachland. – Ja, so spitzfindelten wir herum, und er schloß mit der tiefsinnigen Frage, ob das vielleicht deshalb so sei – wenn ich nämlich doch recht hätte –, weil, wie der Bauer seine Natur so gewohnt wäre, daß er ihrer nicht mehr gewahr würde, so auch der Dichter – und so weiter …

So viel vom Bogner. Ja, aber Benno, was muß ich da sehn? Du sitzt und liest und liest an einem Brief, und am Ende stellt sich heraus, daß Du ihn gar nicht gekriegt hast! Nein, ich werde mich hüten, ihn abzuschicken! Eine andre Form der schriftlichen Niederlegung meiner vor Gewohnheit ächzenden Seele wars, Benno, sonst nichts!

Aus den Papieren Georgs

(von Bogner)

»Georg,« sagte Bogner fast traurig zu mir, »ich glaube, du hast einen großen Fehler. Du willst zuviel wissen.«

Wir hatten nämlich halbe und ganze Nächte alles Denkbare bis ins Undenkbare erörtert, und ich dachte, als er mir diesen besondren Fehler vorwarf, ich hätte das auch tun können. Ich sagte deshalb, bloß um etwas zu sagen: »Wie kommst du darauf?« Aber diese Frage war ihm grade recht.

Nämlich in seinem Zimmer steht eine alte, hölzerne und geschnitzte Wiege, die Ulrika langsam mit den fertig werdenden Kleidungsstücken für ihr Kind anfüllt. Vor dieser Wiege saß ich eben, bewegte sie mit der Hand hin und her und fragte mich, warum das eigentlich angenehm für Kinder sei, gewiegt zu werden, da die selbe Bewegung doch für den größten Teil der erwachsenen Menschheit unerträglich sei, nämlich an Bord der Schiffe auf See.

»Nun möchtest du nämlich wissen,« sagte Bogner freundlich, »warum die Wiege hin und her geht. – Und ich weiß es«, setzte er leise hinzu.

Als ich aber nun um die Erklärung bat, wehrte er ab. »Du willst zu viel wissen, Georg, und weißt du, was du tun wirst? Du zerstörst dir deinen Gott.«

»Weißt du denn, wer mein Gott ist?«

»Alles, was dir unbegreiflich ist. Alles Rätselhafte in dir ist Gott.«

»Ach,« sagte ich, »dann werde ich ihn nicht zerstören, sondern im Gegenteil, ich werde ihn nur wachsen machen, denn je mehr ich davon in Erfahrung bringe, um so ungeheurer werden die Umrisse im Dunkel. Sag mir, was ist mit der Wiege?«

»Du mußt,« erklärte er nun, »wenn du es wissen willst, nicht die große Frage nehmen, sondern die kleine. Unbekannt? Also werde ich dich sie fragen: Warum geht die Wiege hin und her, von links nach rechts, nicht auf und abwärts von vorne nach hinten?«

Diese Frage kam mir schon so besonders vor … Aber ich wußte keine Erklärung.

»Weil«, sagte er da, »die Mutter, die in ihrem Leibe das Ungeborene trägt, es wiegt, indem sie es von einem Fuß auf den andern bewegt im Gehn, von links nach rechts. Aus diesem Grunde lieben wir diese Bewegung, wenn wir geboren sind, dann erinnern wir uns an vorher.«

Ich dachte noch: Das Kind fühlt sich in der Wiege, wie in der Mutter; und es glaubt, was es fühlt; aber der Mensch hat freilich Erfahrung und ist so groß geworden, daß er selbst im Meere sich nicht mehr fühlen kann, obwohl er ganz darin ist, denn er ist nun nur noch in sich selbst, und er glaubt an nichts mehr.

Ich kann aber nicht sagen, wie sehr mich diese Erklärung Bogners ergriff, ja erschütterte. Sie traf mich wie ein Blitz, und eine Sekunde lang wußte ich alles. Das war, als hätte die vorher immer grenzenlose Welt plötzlich ein ganz nahes Ende genommen. Dort, in der Mutter, war alles zu Ende.

*

Ich fragte Bogner heut in Erinnerung an das Gestrige, ob er an Gott glaube. Er sagte, wenn ich ›glauben‹ gleichsetzte mit Fürwahrhalten, so könne er nicht sagen, daß er glaube.

Ich fragte: Warum?

Er sagte erst nach einer Weile: »Ein religiöser Mensch, mit dem ich einmal über das Jenseits sprach, meinte, ich glaubte daran nicht, weil meine hiesigen Sinneswerkzeuge nicht imstande seien, mich über das Dortige aufzuklären und mir Beweise zu schaffen.

»Das war nun nicht der Fall«, fuhr Bogner fort. »Zwar bin ich der Meinung, daß es sinnlos ist, mich in meinen Sinnen mit Dingen zu befassen, die für eben diese Sinne unzugänglich sind. Ich habe aber eine Seele. Und warum ich diese Seele mit einem Dort beschäftigen soll, da sie im Hier vollauf Arbeit und Nahrung und Wachstum findet, das allerdings ist mir unerfindlich. Warum aber tun dies fromme Leute wie jener Frager?

»Sie tun es deshalb, weil eben ihr hiesiges Dasein ihnen keine Gelegenheit bietet, oder im Verhältnis ihres übervollen, sorgengefüllten Daseins zu geringe Gelegenheit, um sie zu betätigen, ja nur zu empfinden. Zu Essen und Schlafen, Sichbegatten und Plagen, zu Büroarbeit, zu Kinderschelten und -kleiden, zum Spaziergang und Musikkapelle haben sie eine Seele nicht nötig. Vielleicht daß sie es meinen, aber alledies und noch viel feinere Dinge würden sie mit der Vernunft allein und ohne Seele genau so gut besorgen, und die Tiere tun das in ihrem Maße, zum Beispiel die Ameise oder der Biber. Aber doch wissen sie von der Seele durch den Tod. Sie sind arm und wollen reich werden. Sie sind so arm, daß sie sogar einsehn: für einen Reichtum der Seele ist in diesem Dasein kein Platz. Sie müssen selber wider Willen einsehn, daß sie ihre Seele hier nicht brauchen können. Wäre Mitleid von allen Lebensvehikeln nicht das gefährlichste, so könnte man Mitleid mit ihnen empfinden.

»Ich,« sagte er langsam, »ich war ein glücklicher Mensch. Ein reicher Mensch. Ich brauchte auf keinen dortigen Reichtum zu sinnen. Ich habe durch über zwanzig Jahre meines Lebens jede Stunde und Minute jedes Tages meine Seele gebraucht. Ich war reich«, schloß er traurig.

(Dieweil er ja denkt zu sterben und also zu verarmen; er kommt immer zur selben Stelle zurück.)

Ob das alles sei, woran er glaube, fragte ich bald, um ihn abzulenken. Er schwieg lange. Endlich sagte er:

»Ich glaube ja nicht. Ich – bedarf. Du und ich, wir bedürfen des Göttlichen.«

»Und das ist?«

»Ich sage es ja: das Geheimnis. Es giebt die unbekannten Dinge, vor denen dich schaudert. Es giebt dich und mich selber, die wir uns so unbekannt sind, daß uns schaudert, wenn wir diese Stelle berühren. Warum mußte ich malen? Wenn ich diese Stelle an mir berührte, so sagte Gott: Ja. – Und ich sah ihn golden eingehüllt in sein Rätsel. Warum kann ich nicht mehr malen? Ich habe die Gnade verloren.«

Immer die gleiche Stelle. Er weinte. Wir wurden unterbrochen und kamen an diesem Abend nicht weiter.

*

Da wir heute von großen Menschen vergangener Zeiten sprachen, so malte Bogner in einer unbeschreiblich wunderbaren Weise von manchem das Wesen, mit Bildern aus drei Worten oft, wie ich es nie von ihm hörte (und immer mit diesem leichten Zittern von Tränen in der Stimme, das er jetzt bei solchen Gelegenheiten hat), und ich erinnere mich nur noch, wie er Hölderlins äußerlich rührend dürftige Gestalt hinstellte als einen abnehmenden Mond am Abendhimmel, dessen ganzes volles Rund doch im Unendlichen schwebe; wie er Jean Paul nannte: einen Pfauenschweif aus Regenbögen, und Novalis die Narzisse mit den Zeichen der Passion in Blüte verwandelt, – worauf er dann mir ganz unvermutet in Klagen ausbrach, daß es nur früher Menschen von solchem Seelenadel, solcher Reinheit, Größe, Süße und Einfalt gegeben habe. Ich mocht es nicht glauben, widerstritt aber nur unvollkommen: eben heute hätten wir andres …

Er seufzte. Was das für ein sinnloser Einwand sei. »Du vermissest eine Blume und sagst: aber jetzt habe ich einen Edelstein. Ist nicht das Dasein jedes Dinges gegründet auf seine Notwendigkeit? Gäbe es überhaupt etwas, das wert wäre zu sein, wenn es einen Ersatz dafür gäbe? Gut aber, du sagst, du habest jetzt den Edelstein, und eins machst du damit natürlich klar: daß der Edelstein, den du kennst, im Augenblick für dich einen solchen Wert hat, daß du den der Blume, die du nicht kennst, gar nicht begreifen kannst. Und so hättest du recht. Und noch aus einem andern Grunde sogar wirst du recht haben, denn du hast den Verstand für dich, der dir sagt: ich lebe heute; also muß das Heutige mir wert sein. Ja, Georg, der Nüchterne, der Unbewegte, oder der sich so stellt, der hat immer recht, wenn er linker und rechter Hand aufs Fluten hinabsieht und sagt: da und dort ist gleiche Stromgeschwindigkeit. Wen aber eigne tiefe Wallung der Stunde selber hineinriß in die Strömung, der hat nur das Jauchzen – nach vor- – und das Klagen – nach rückwärts, und morgen, Georg, morgen, wenn du im Strome liegst und ich am Ufer stehe, wirst du mit meinen Worten zu mir aufjammern, und ich werde dich und mich Lügen strafen.«

*

Ich fand Bogner über einer Bibel am Tisch; er schien auf mich gewartet zu haben, denn er sagte gleich: »Da habe ich die ganze Schöpfungsgeschichte gelesen, und weißt du, was ich gefunden habe? Es werden alle erschaffenen Dinge aufgezählt, aber ein ganz wichtiges ist vergessen. Es könnte vergessen scheinen«, verbesserte er sich. »Wenn ich es dir nenne, wirst du seine tiefe Bedeutsamkeit erkennen. Ja,« fuhr er eifrig fort, »angenommen, dies ist der Fall: ein Ding, das wir von Gott erschaffen glauben, wurde bei der Aufzählung des von ihm Erschaffenen nicht genannt, was muß die Folge sein?«

»Daß er selber dies Ding ist.«

»Gut, Georg!« Er lobte mich. »Und nun weiter: Was tat Gott, nachdem er den Menschen aus Lehm geknetet hatte? Er machte ihn lebendig. Wodurch? Dadurch daß er ihm seinen Odem einblies. Was aber war dieser Odem?«

Ich sagte: »Die Luft.«

»Und die Luft,« rief er, »die ist das Ding, das nicht aufgezählt ist unter den erschaffenen Dingen, wo doch Sonne und Sterne, der Himmel, das Meer und das Feste und was auf dem Festen wuchs, alles aufgezählt wurde. Konnte etwas wachsen, konnten Tiere sein ohne Luft? Dennoch wurde die Luft für den Menschen, für Gott vorbehalten, denn der Mensch war für den Schreiber dieser Geschichte das einzig wahrhaft Lebendige, und das Leben kam ihm und nur ihm mit der Luft. Und siehst du wohl,« fuhr er fort, »auf schlechten Bildern, Bildern, auf denen doch alles recht und deutlich gemalt ist, was scheint dir daran zu fehlen? Die Luft. Und sie fehlt sogar auf den Bildern der einfältigen Meister aus Niederland und Köln, aber warum vermissen wir sie doch nicht? Weil sie nicht nur die Gabe hatten wie die nichtswürdigen lustlosen Maler von heut, sondern etwas ganz Einziges: den Fleiß. Einen so großen Fleiß und eine so große Sorgfalt, daß er sogar die Luft und die Gnade ersetzte, denn im Fleiß war die Liebe, und in der Liebe«, schloß er triumphierend, »muß immer auch Gnade sein.«

*

Ich hatte Bogner aus dem Gedächtnis einige Gedichte von Stefan George gesagt, darunter zuletzt den ›Tag des Hirten‹: Die Herden trabten aus den Winterlagern … Schon bei der ersten Zeile sah ich seine Augen weit werden; bei der himmlischen zweiten: Ihr junger Hüter zog nach kurzer Frist … legte er das Gesicht in die Hände, und als ich dann schloß:

Er krönte betend sich mit heilgem Laub,
Und in die lindbewegten, lauen Schatten
Schon dunkler Wolken drang sein lautes Lied …

seufzte er dermaßen schmerzlich, als wäre ihm eine Welt untergegangen. Er sprach kein Wort mehr den Abend, und erst als ich schon gehen wollte, zog er mich auf einmal in die Arme, küßte mich und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

»Du kannst doch auch dichten, Georg,« sagte er dann, »du bist auch ein Dichter!« Und hierbei beharrte er eigensinnig, obwohl ich es ihm lang und breit abstritt, daß ich wohl Verse schriebe, aber kein Dichter sei. Fast wäre er ärgerlich geworden. »Wenn du es weißt, Georg,« sagte er, »wenn du weißt, wie es ist, wenn du Sprache hast, so mußt du es doch auch sein!« beharrte er und wurde erst unschlüssig, als ich es ihm an Malern nachwies, die zwar das Handwerk hätten, aber doch nicht die Kunst.

»Das mag für Maler stimmen,« meinte er dann, »aber doch nicht für die Sprache! Da sind Farben, Finger und Hände und Pinsel; was geht nicht alles verloren auf so weitem Wege, wenn einer nicht die ganze Kraft hat und Gottes Beistand. Aber in der Sprache ist alles! Sie allein ist unmittelbar und enthält doch eins im andern das Beide, sonst so Getrennte: Vernunft und Gefühl, verschmolzen im Tönen der Seele!«

»Die göttliche Sprache!« fing er nun an. »Ja, das ist das Wunderbare an ihr, das unterscheidet sie von allen andern Künsten und erhebt sie zur höchsten: daß sie so unmittelbar ist. Nichts als der zaubrische Mund! Da ist der Mensch, allein, und er selber ganz und gar und allein ist: Instrument. Die Öffnungen einer Flöte mit den Fingern betupfen, auf den Saiten einer Geige die Finger so und so stellen, mit dem Bogen so und anders anstreichen, – was andres tut denn der Mensch, der redende, wenn er die Zunge so und so an den Gaumen, an die Zähne drückt, die Lippen weit oder wenig, rund oder schmal öffnet? Und er tut ja mehr! Im Instrument ist der Ton, er bringt ihn nur hervor, tut Wissen und Handhabung hinzu, aber die Sprache, die bildet er ja selbst, er bildet das Wort, ganz und gar, außen und innen, Zeichen und Sinn, und wie aus einer Blume, so duftet die himmlische Seele daraus hervor! Und ist der Mensch selber das Instrument, so muß einer sein, der spielt, wer ist das? Der Gott. – Allem Alltäglichen, allem Irdischen und Menschlichen abgewandt, ganz hingegeben dem göttlichen Spieler allein, an seine Brust gelegt wie die Geige, – wie durchrauscht ihn sein Tönen! ›Die Herden trabten aus den Winterlagern‹. Sieh, das ist meine Sprache, alles ist da wie in meiner Sprache, aber vom ersten Hauche an fühlst, ja, noch ehe du die Lippen öffnest, fühlst du schon: es ist ein Andrer, der dir den Mund öffnet, und nun wird eine andre Sprache ertönen, erkennbar an keinem besondren Klang, oder Bild, oder Gedanken, sondern nur an diesem allein, diesem göttlichen Anderssein, das du so spürst wie – wie wenn du schlafend auf einen Stern versetzt wärest und erwachtest auf ihm und wüßtest gleich beim ersten Atemzug aus seiner Luft, aus der anderen Luft: du bist auf einem Stern. ›Die Herden trabten aus den Winterlagern …‹ Oh wie es da hervorduftet aus dem Unsichtbaren, wie am dunklen Morgen der Geist der Erdenkräfte schlafkühl duftet aus dem Schlummer der Geschöpfe. Jedes Gedicht aber, das so nicht ist, an dem man nur zu Stellen, wie den Kristall im Stein, das göttliche Dasein spürt, verkalkt, getrübt und unrein, ist Lästerung des Gottes, Georg, Vergiftung des Gottes, und sie wird sich rächen und die Seele dessen vergiften, der sie beging!«

»Du meinst mich«, sagte ich hierauf.

Aber nun wollte er es nicht gelten lassen.

*

Ich saß hinter dem Tisch auf dem Sofa, hatte die Ellenbogen auf der Platte, die Hände übereinander gelegt und das Kinn darauf, und so rauchte ich, und wir schwiegen. Auf einmal lächelte Bogner. –

»Warum lächelst du?« fragte ich.

»Ich lächelte über dich«, gab er zur Antwort.

»Du hast nämlich«, fuhr er auf mein Ersuchen fort, »mitunter eine so erinnerungsvolle Bewegung beim Rauchen. Mitunter, wenn du die Zigarette aus dem Munde nehmen willst, dann nimmst du sie zwischen zwei steife Finger, und dann schiebst du die Lippen ganz weit vor, wie zum Saugen, und dann lösest du das an der Lippenhaut klebende zarte Papier langsam ab. Dabei saugst du dich innerlich ganz voll mit Rauch, und nach einer Weile strudelst du ihn von dir mit einem traurigen Seufzer.«

»Gott segne deine Augen, Bogner,« erwiderte ich, »und was soll das alles?«

»Darin soll«, sagte er, »eine Antwort auf die Frage liegen: warum raucht der erwachsene Mensch? Es giebt ja Unverständige darunter, die nehmen bloß den Mund voll, aber der Wissende tränkt seinen ganzen Leib durch die Lunge mit dem schönen Gift. Warum, Georg? Aus Erinnerung. Er denkt an seine Kindheit und saugt wieder. Damals weiße Milch, heute braunes Gift. Und er muß den entseelten Rest des nur halb Verzehrten wieder von sich geben und tut es mit einem traurigen Seufzer.«

Bogner lachte bis zu Tränen, zog dann seine alte Pfeife aus der Tasche, die er nicht brauchen darf, betrachtete sie wehmutvoll und roch daran. Auch ich hatte erst lachen müssen, aber nun wurde ich von Schrecken ergriffen im Gedanken an das von der Wiege und der Mutter, und ich sagte: »Ja, ist es denn wirklich so, Bogner, daß mit unsrer Kindheit alles ein Ende nimmt, und wenn wir uns an Äonenfernes zu erinnern glauben, so war es nur zwanzig Jahr her?«

»Glaubst du das?« fragte er. »Ich weiß es seit langem.« Und er erklärte mir, daß er besonders deutliche Erinnerungen an früheste Kindheit hätte, und zwar nicht eingebildete nach Erzählungen Erwachsener.

Und da fängt er an, von den Erscheinungen seiner kindlichen Fieberträume zu sprechen, und sagt: »Da war nämlich das Große!«

Ich wäre gern in ihn hineingestürzt. Ich schrie: »Das Große! das kennst du auch? Dies entsetzliche schwarze Anwachsen und Riesigsein und –«

»Und dann der Gang, durch den man hindurchsoll, und der zu eng ist …«

»Ein Gang war bei mir nicht,« sagte ich, »bei mir war das Wälzen!«

»Nun, das ist gleich,« meinte er, »es hat ja den gleichen Sinn.«

Ich schrie wieder: »Es hat einen Sinn? Welchen Sinn hat es denn?«

»Du siehst, daß es einen Sinn haben muß, denn wie könnten sonst wir Beide es erlebt haben? Und nicht nur wir Beide. Ich glaube, daß jeder Mensch es kennt, und zum Beispiel in dem Buch von Rilke, da steht es auch darin.«

»Ja, aber was ist es denn, mein Gott?«

Er sagt: »Die Geburt.«

*

Heute will ich nur aufschreiben, was mir eben wieder ins Gedächtnis kommt aus den ersten stillen Tagen dahier.

Wir befanden uns in der noch lauen Nacht ohne Sterne oben auf dem Deich über der Ebbe des Meers. Zwei Tütvögel, die unsre Anwesenheit erregte, kreuzten unaufhörlich über uns hinweg, jeder eine Zeitlang, wenn er über uns war, anhaltend und mehrmals seinen mißtönigen Klageschrei ausstoßend, – der einzige Laut in der Stille. Ich lag auf meinem Mantel, die Füße in der Richtung der unsichtbaren See, die Hände unterm Kopf, im linken Augenwinkel, mehr gewußt als gesehn, den Schatten des sitzenden Malers auf seinem Feldstuhl. Wir hatten – nicht das erste Mal – von Ulrika gesprochen, und er deutete mir wieder Züge ihres Wesens und das Ganze auf eine unendlich innige Weise des Wissens. Dabei war es aber immer, als ob hinter seinen Worten sich das bewegte, was er mir später ›gestand‹, wie er sagte, das Geheimnis seines und ihres Lebens und Sterbens. An jenem Abend sagte er, er habe einmal in seinem Leben, vor Jahren, eine Frau so geliebt, daß er fast daran zu Grunde gegangen wäre; »und das«, sagte er, »schien mir später zuviel für einen Menschen, dessen Auftrag es nicht ist, Menschen zu lieben, sondern –«

Er schwieg, und ich glaubte das Ungesprochene richtig zu ergänzen, indem ich sagte: »die Kunst.«

Ich wandte mich zu ihm bei diesem Wort und sah nun sein eines Auge im Dunkel, der See zugewendet in einer Haltung des Kopfes, die mir besonders verzweifelt erschien.

»Nein, Mensch, wie kommen Sie darauf?« sagte er dann. »Glauben Sie, einer wie ich – liebte die Kunst? Denken Sie bitte einmal an das, was Sokrates im Gastmahl Platos feststellt: daß man liebt, was man nicht hat. Was ich nicht habe, ja, das liebe ich freilich, und das ist: die Form. Die Vollkommenheit. Das ist jedes Bild, das ich noch nicht gemacht habe.«

Ich sagte nun einiges Unvollkommene und Verlegene, wie daß Kunst selber eben die Liebe sei, die alles, was sie nicht habe – ewig und ewig die Form – mit solchem Wahnsinn begehre, daß sie es darstellen müsse.

»Ja, den Dämon,« sagte er leise, »wenn Sie den meinen, – den Dämon, der treibt und widersteht, den liebt man ja wohl.«

»Und übrigens«, fuhr er nach einer Pause gequält fort, »habe ich Sie eben belogen. Früher war das so. Nun, ja nun haben Sie recht, nun liebe ich die Kunst, die ich nicht mehr habe, und den Dämon erst, der mich verlassen hat, weil ich ihn verließ und zu Menschen ging.«

»Bogner,« sagte ich und legte die Hand auf sein Knie, »Bogner, das ist doch nicht wahr!«

Ich setzte mich auf. Der Schatten schlagender Flügel, Weißes vom Vogelleib fielen aus der Nacht herunter, deutlich scholl der Notschrei. Bogner ergriff meine Hand und hielt sie fest. Er nickte dann langsam mit dem Kopf und sagte leise und geheimnisvoll:

»Wenn es einer begreifen könnte außer mir, – was wäre es dann?«

Meine Hand ließ er nicht los. Ich fand kein Wort, und er blieb verschwiegen. Aber meine Hand hielt er fest, daß es mich jammerte im Herzen, bis wir dann aufstanden und ins Haus hinabstiegen.

(Cornelia)

Bei einer Wanderung, auf langer Straße im flachen Land, kann es uns wohl begegnen, daß wir in weiter Ferne zu unsrer Linken oder Rechten etwas Menschenhaftes gewahren, nichts weiter als einen Punkt, der menschenhaft erscheint, ohne Bewegung, und der die Weile, während der wir ihn im Auge behalten, sich nicht verändert noch deutlicher werden will. Vergaßen wir ihn dann lange Zeit über andern sehenswerten Dingen umher, so gewahren wir ihn plötzlich gar nicht weit von uns auf einer zur unsern heranführenden Straße, deutlich genug, um ihn an Gang und Kleidern als einen Menschen, wie wir selber es sind, zu erkennen, und dann betritt er vielleicht keine drei Schritte vor uns unsre Straße, hält an und erwartet uns, wir reden uns an, wir finden Gefallen genug an einander, zusammen zu bleiben für ein paar Stunden, wir verstehen uns gut mit ihm, oder auch er erscheint uns sehr merkwürdig während der nun gemeinsamen Wanderung, und schließlich fällt es uns wohl zu unserer Verwunderung ein, daß wir hier zusammen gehn und gut Freund sind mit jenem Punkt, den wir vor zwei Stunden keiner Beachtung, keines Gedankens von Möglichkeit einer Beziehung für uns wert hielten.

Es sind heut Jahre her – nach der gewöhnlichen Berechnung nur Jahre –, da sah ich Cornelia ganz von fern, nicht deutlicher, als daß sie zu erkennen war als ein weiblicher Mensch. Auf einmal sah ich sie zu meiner Straße heraufkommen; hier war es, hier sollte sie wenig Schritte vor mir meine eigene Straße betreten, ich gewahrte sie schon deutlicher, so daß, wenn wir etwa am Vormittag zusammen um den Deich gingen, heut, oder morgen am Nachmittag Tee tranken mit den Andern, oder einer las vor und wir lauschten: daß ich dies und jenes schon sicher an ihr wahrnahm: den Schnitt ihres Mantels, die Form ihrer Stiefel, Besatz an der Bluse, ihr Haar, ihren in den Fußgelenken schwingenden Gang, ihre länglichen Hände, die Lockerheit des Daumens, das Rund ihrer Augen und ihren Blick. Langsam bildete sich so ein Ganzes aus vielen Teilen, dieweil wir uns nun entschlossen hatten, nebeneinander zu gehn, – erkennbar schon als ein Ganzes, obwohl noch manches Stück fehlte und zwischen den vorhandenen die Risse und Fugen noch ungeheilt schimmerten. Aber sie heilten, denn nun kam auch Teilnahme, das formenschaffende Gefühl, ein Wesen bildend langsam, das mir wohlgefiel, das meinen Sinnen Wohltat, den fünfen und jenem unbekannten, nicht mit Namen zu nennenden, jenem Tastempfinden von Mensch zu Mensch, auf dem alle Möglichkeiten und Beziehungen der Menschen zueinander beruhen, der uns den andern Menschen atmen läßt wie ein besondres Arom in unserer Luft, und in dem dann bald die süße Flamme Ähnlichkeit sich gläsern erhebt, wie die Flamme der heißen Mittagsluft überm Wachholder der Haide, – sie zeigte sich über Cornelia.

Nun erschien sie mir schon besonders; nun erschien sie mir, meiner Veranlagung gemäß, vor allem: hübsch, und es deuchte mich angenehmer, beim Gehen die Hand in ihren Arm zu schieben, und so weiter. Es war bereits immer ein leises Freuen, wenn sie kam und zugegen war; was man sagte, dem hörte sie gut zu und gab die rechten Ergänzungen oder Erweiterungen, und so man nicht sprach, war sie's auch zufrieden und schwieg. Sie war nämlich bereitwillig.

Morgens kam sie selbst mit dem Frühstück, ich lud sie zu bleiben, und sie blieb, dann stellte sich heraus (nämlich ich mußte fragen, von selbst gab sie nichts preis), daß sie selber noch nüchtern war, und nun mußte sie ihr Frühstück mitbringen. Erlaubte es irgend das Wetter, so erwarteten wir gemeinsam am Strande das tägliche Boot mit meinem Kurier, dort trafen wir den notwendigen Hauptmann, standen in unsern Mänteln und hochgeschlagenen Kragen gegen den Wind gedreht, froren erbärmlich und sahen uns gegenseitig immer röter anlaufen.

Nun und so weiter …

Was aber war dann eines Tages anders geworden? – Nun hielten wir uns nämlich bei den Händen im Gehn, meine Stimme hatte den weicheren Ton der Vertraulichkeit, meine Hand das Recht, den vom Wind umgekrempten Mantelkragen zurechtzuschieben oder die schiefgewehte gestrickte Mütze gradezuziehn über ihrer Stirn, ohne daß sie oder ich dabei den grade begonnenen Satz unterbrach. Ich fand alte Gedichte und las sie ihr vor, ich kannte nun den besondren Ton ihrer Haut am Nacken, dort wo die Bluse sich ablüpfte, wenn ich ihr in den Mantel half. Ich kannte genau die Form ihrer Stirn und jede Bewegung ihres Mundes, und viele ahnte ich voraus und erwartete sie, und all dies ward mir sehr lieb. Ich erinnerte mich: dies hatte ich schon früher erlebt, und doch war es dadurch nicht abgenützt worden. Ich dachte aber nicht, daß ich sie küssen möchte, denn so besonders war mir noch von der Krankheit her.

Aber siehe da, plötzlich eines Nachts, schrieb ich diese Verse auf:

Diese Nacht aus dumpfem Schlummern
Fuhr ich auf: das Schweigen dröhnte
Mir ans Ohr, doch spürt ich: andres
Dröhnen, Fausthieb, Fausthieb draußen,
Zornig auf des Tores Bohlen
Jagte mich empor.

Gleich da wußt ich draußen stehen
Ihn vorm Tore, Eros, jenen:
Eros mit den Löwenfüßen,
Eros mit den Geierschwingen,
Eros mit dem Fackelantlitz
Donnerte ans Tor.

Am folgenden Morgen dann, siehe da gingen mir die Augen auf, und ich erkannte, daß sie weiblich war.

Bald darauf stellten sich von Augenblick zu Augenblick Worte oder Handlungen ein, die sich auf keine Weise besser begleiten ließen oder gar ausdrücken als durch einen Kuß, und ich küßte sie zum Dank, daß sie das Frühstück brachte, beim Gutenachtsagen, beim Morgengruß, beim Klettern über eine Buhne, beim stillen Hinaussehn über die See, kurzum bei jeder Gelegenheit. Küssen ist, wie wenns regnet; erst wenig, dann immer mehr.

Sie aber, sie hatte auf meine Veranlassung angefangen, mit mir zu frühstücken, mit mir spazieren zu gehn, sich vorlesen zu lassen, lange mit mir zusammen zu sein, schließlich auch sich küssen zu lassen und wieder zu küssen. Ich bedachte mich zuweilen, was in ihr vorgehen mochte. Sie äußerte nichts, außer auf Befragen. Und dies mocht ich nicht fragen, denn dann hätte der immer noch in der Entwicklung sich windende Satz plötzlich ein Ende genommen, ob mit Fragezeichen, Rufzeichen oder Punkt, – jedenfalls ein Ende, und ein ganz neuer hätte begonnen. Ich dachte: sie ist doch klug, sie sieht kein Ding halb, sondern rund, wie zum Beispiel auch den Mond, von dem man weiß, daß er rund ist, obwohl scheinbar eine Sichel. Nur: sie tat zu alledem nichts dazu. Sie schien immer mit allem zufrieden.

 

Ein Winterabend. Im Dunkel trat ich aus meiner Tür, ausgewiesen nämlich vom dortigen Eros. Unwandelbar dröhnte der Ozean. Das Tal unter mir schimmerte mattweiß, eine dünne Schneedecke war drübergefallen, es rieselte noch in der Luft, es war kalt. In der Tiefe zur Rechten zwei rötliche Rechtecke – die erleuchteten Fenster in Bogners Haus; in der Tiefe mir gegenüber ein gleiches. Dorthin ging ich; nicht daß ich erwartete oder verlangte, aber – was konnte nicht möglich sein?

Mir begegnete nichts unterwegs. Tote begegnen nicht, sie sind Wink. Ein roter Becher bei einem brennenden Leuchter … nahe darunter ein niemals vergehendes Lächeln. Jedes Lächeln nimmt ein Ende zu seiner Zeit. Dies endete niemals. Siehe da, welch eine Schattengestalt über den Lichtern? Josef Montfort. Zwei Tote. Damals zusammen, heut wieder zusammen; so stellten sie sich mir dar.

Ich kam aber durch die hartgefrorenen, dünn schneeüberzogenen Gemüsefelder an das Fenster, das zu ebener Erde liegt, und schaute hinein. Irgendwo stand ein brennendes Licht. Der Raum war klein und niedrig. Sie stand vor einem geöffneten Kleiderschrank, hängte eine blaßrosa Seidenbluse über einen Bügel, diese in den Schrank hinein und schloß die Türen; lautlos, denn in der Nacht brüllte der Eros über die See. Da klopft ich ans Fenster. Sie kam und machte auf. Ich sagte wohl: Guten Abend! und: Noch nicht schlafen gegangen? – Sie antwortete dies und das; wir küßten uns dann wohl.

Und es hatte nunmehr jene Frage zu kommen, die aussieht wie alle andren Fragen, die aber am unsichtbaren Faden weit hinter sich her etwas zieht, das nicht den geringsten Zusammenhang mit ihr hat. Ich fragte nämlich, ob ihr auch nicht kalt sei. – Sie konnte nun dies oder jenes antworten, es gab auf jeden Fall ein Gelenk, und sie sagte: Es geht – und Ihnen? – Nun tat ich scherzhaft, als ob ich gewaltig fröre, um Grund zu haben, sie fest an mich zu drücken, worauf sie wiederum – übrigens aus keinem besondren Grunde – tat, als ob ich ihr wehtäte, und sagte: Ich sollte lieber hereinkommen. Da schloß sich denn der Ring zur ersten Frage mit meiner letzten, (die ich jedoch erst nach einer Weile tat, damit sie auch recht bedeutungsvoll erschiene, und während der ich sie mit Behutsamkeit an dieser und jener Stelle des Gesichts küßte:) Ins Wohnzimmer oder in dieses?

Eine Antwort erhielt ich naturgemäß nicht. Aber nach wenigen Sekunden hatte die Erwiderung meiner Küsse einen andren Schmelz, und ich hielt einen andren Menschen im Arm. – –

Und als sie wieder lagen auf bekränzter,
Ermüdete, auf schmaler Lagerstatt,
Stand auch der Geiersittich sanft am Fenster
Und lächelte auf das erglänzte Watt.

Es schien nämlich (ganz nutzlos, aber doch überaus frohgemut und strahlend über seine Anwesenheit) schien der Mond vom Himmel herab, als ich wieder aus dem Hause trat, und geleitete mich mit meinem Schatten wie mit einer Hand fürsorglich durch das Tal bis nach oben vor meine Tür, wo er zurückblieb.

Wieder einmal aber, schlafesunbedürftig, sitze ich nun in der langsam verhauchenden Wärme des Ofens, verzeichne eine Stunde dieses nie zu begreifenden Daseins, blicke von unten in die Lampe, bin besonders ruhig, allem Ewigen so fern, ein kleiner Mensch im Gehäus, und ich beginne fruchtlos zu staunen über die Ahnungslosigkeit unseres Seins.

Da doch immer wir selber es sind, die alles tun, was unser Leben ausmacht, wie unbegreiflich, wenn man sich hineinversenkt, scheint es, daß wir vom tausendsten Teil des allen, solange es gegenwärtig ist, nicht die wirkliche Bedeutung erfassen. Was würden wir sagen, wenn bei der Begegnung mit einer fremden Frau ein Dritter uns darauf aufmerksam machen würde, daß uns über Jahr und Tag ihre besondre Art, das Strumpfband zu verhaken, nicht unbekannt sein würde und keine besondre Sache, und daß wir zusammenschliefen in einem noch nicht einmal gebauten Bett?

Es geschieht auch wohl einmal, daß die gewohnten Zusammenhänge mit unsrer Umgebung und uns selber unvermerkt sich in nichts auflösen; wir sehen mit einem Schlage auf uns selber herunter wie von einem Stern, sehen uns und unser Erdendasein in einem fremden Licht, im Licht der Lebensart auf jenem Stern, und da kommt es uns so fremd und ohne Sinn vor, daß wir uns fragen: Dies sind die Dinge, die dorten vor sich gehn? Dazu wird dorten gelebt? Warum sind sie so? Welche Gründe haben sie zu all diesem? Was frommt ihnen dies? Was haben sie davon?

Antworten aber giebt es keine. Aber so erkannte ich auf einmal sie und mich ganz von oben in jener Stunde, wo ich mich neben ihr in dem bäuerlichen Schrankbett fand, ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf. Ich hörte dumpf das Brausen der See. Ein Licht in einem Holzleuchter, bestehend aus einer größeren rot- und drei kleineren grünlackierten Kugeln als Füßen, bewegte leise die goldene Flamme mit gasblauem Kern im Luftzug der nahen Fensterfuge; dahinter hingen die stillen, weißen Gardinen hellbeleuchtet; es stand auf einem einfachen Tisch, hellblau gestrichen wie die übrigen Möbel, Stühle, Waschtisch, Kommode, Schrank – mit bunter Blumenmalerei – und hinter allen, die Wände empor, waren die stillen Schatten. Zwischen mir und der Wand im Bett aber saß, die Arme um ihre Knie geschlungen, das Kinn fast darauf, Cornelia, und ihre Augen, groß, rund und dunkel, waren ohne Bewegung auf das Licht gerichtet, von dem sie erglänzten. Sie sah aus, als wüßte sie genug. Weich und gerötet war die Haut ihres Gesichts. Sie sprach kein Wort wie auch ich. Und sie und ich, so enge beisammen, sie saß und ich lag, und wir dachten Beide weit weg unsrer Toten.

(Von Bogner)

»Rembrandt,« sagte Bogner, »er mußte nur immer malen.«

(Ich hatte Bogner mit einem großen und roten Buch voller Wiedergaben Rembrandtscher Gemälde angetroffen, und wir sprachen darüber.)

»Er mußte nur immer malen, und um ja nicht nachdenken zu müssen über einen Gegenstand – denn was ihn anging, war immer nur das Eine: das Leuchtende, wie es aufblüht aus der Nacht! – so malte er unaufhörlich sich selber. Sieh doch nur,« sagte er blätternd, »diese ungeheure Anzahl von Selbstbildnissen! Und nun sieh nur einmal, wie er es anstellt, Abwechselung zu gestalten! Hier, hier hast du drei, sieben, vierzehn Bilder aus benachbarten Jahren, aus demselben Jahr! Immer derselbe Mensch, und immer ein Andrer. Das ist die Kunst des Entfremdens. Ja, glaubst du, er hätte sich so verändert in so kurzer Zeit? Sieh doch an, was macht er hier? Er runzelt die Stirn, und schon wards ein andres Gesicht. Er setzt einen Hut auf, eine Mütze, einen Helm, eine Sturmhaube, und die geringe Veränderung, die der Kopfschmuck bewirkte, breitete er aus über das ganze Antlitz, und es gab neue Schatten, neue Lichtflächen, und schließlich bildete er sich alles nur ein und konnte Runzeln oder Falten oder Furchen, Glätten oder Rauhen oder Rundungen sehen, wo gar keine waren, gar keine. Sieh doch das hier! das –« er lächelte, »ja, da haben sie darunter geschrieben ›Bildnis eines jungen Mannes‹. Meinst du vielleicht, das wäre er nicht? Und hier –« er zeigte auf ein Bild, unter dem ein Name stand, den ich nicht im Gedächtnis behielt – »das ist er natürlich selber! Seine ganze Phantasie – glaube mirs, Georg – bestand im Verändern. Sieh doch hier diese Landschaft mit den geisterhaften Bäumen! Das ist nicht wirklich und ist nicht empfunden, nur sein Dämon griff hinein, riß und bogs auseinander und stellte sich mitten hinein.«

Er schwieg, schlug langsam die Seiten um, und ich sah, daß er zu den Altersbildern gelangt war. Gleich darauf begann er wieder, furchtbar ernst:

»Und nun sieh hier das. Siehst du, da kam es! Jahrzehntelang hatte er Mummenschanz getrieben mit seinem Gesicht, und nun – nun sitzt plötzlich einer innen und verändert willkürlich, von innen! – Da! siehst du das? Wer ist das? Ihre Majestät die Ruine. Nun kann er sich jeden Monat malen und jede Woche, jeden Tag, ja, jede Stunde – es ist immer Verfall. Er zerfällt, er zerblättert fürchterlich, es bläht ihn auf, es sackt wieder zusammen, es glotzt aus ihm, es grinst, es schluchzt, es sickert, es bröckelt, es – zerfällt, zerfällt, und er – er malt es, malt es, er ist ganz blöd, er denkt bloß, daß ihm auch das Verändern jetzt abgenommen ist, und daß diese Art des Veränderns noch genialischer ist als die eigene Methode, und er malt, halb blind, besinnungslos, ein Schwamm, ein morscher Stumpf, der phosphoresziert! Sieh die Gesichter, diese Larven einer Armenhäuslergalerie, diesen Katalog aller Krankheiten, ohne Geist und ohne Seele, ohne Zukunft, ohne Gott, nur noch Schicksal, wütendes Schicksal des Malenmüssens, das in seiner leiblichen Hülle sitzt. Und malt er denn noch, er? Seine Hände malen, in seinen Händen sitzt das Malen und rast mit den Pinseln, ohne Farbe, ohne Leinwand, ein Stück Brett und nasser Lehm, mehr ist nicht nötig für den glorreichen Triumph seiner Hände, drin die Natter Gicht sich verbiß. Und so bis zum letzten die ewige Glorie: Licht! Licht! Licht! das die vergrämte Ruine mit Seelenblut überlodert, die goldene Quelle, das ewige Rieseln aus der Nacht – Gott im Himmel, Georg, wenn aus Baumstämmen vom Druck der Jahrtausende Kohle wird, und aus Kohle Diamant: so müssen seine Augen, als er endlich tot lag, zwei Demanten geworden sein, zu lauter kristallenem Licht gepreßt in der ewigen Faust.«

Er schwieg. Ich dachte: er spricht von sich. Scheinbar aber hatte er doch an sich selbst nicht gedacht; er machte jetzt das Buch, das er im Schoß hatte, zu, legte es vor sich auf den Tisch, trocknete die übergelaufenen Augen und sagte nun mit sanfterer Stimme:

»Immer muß ich bald auch an van Gogh denken, wenn ich mich auf Rembrandt besinne.«

Ich meinte, da er wieder verstummte, das sei wohl der Fall, weil für ihn das Malen so sehr das Einzige, so sehr eine Raserei gewesen sei wie für Rembrandt.

Das nicht, erwiderte er. Dazu seien sie doch von zu verschiedenen Größenmaßen gewesen. »Raserei, sagst du. Ja, aber bei van Gogh doch nur die eines Menschen, während die Rembrandts an den Niagara denken läßt oder auch an eine dieser gewaltigen Maschinen, die still zu stehn scheint mit allen Rädern und Riemen, obwohl sie in ungeheurem Schwunge ist, und die dabei so sorgsam, zart und genau arbeitet wie eine Spitzenklöpplerin. Van Gogh flackerte ja. Nein, ich meinte den Gegensatz, nicht ein Gemeinsames.

»Ihrer beider Wollust war – bis zum Äußersten, wie bis zu einem gewissen Grade in jedem Maler – das Licht. Da war nun van Gogh leider von einem blinden Teufel besessen, der ihn zwang, geradeswegs mitten hineinzusehn in das Licht – und das malen zu wollen. Und – siehst du – da flackerte alles und zerstob zu Myriaden bunter Funken. Ich weiß nicht, wie sein leiblicher Wahnsinn an ihm sich geäußert hat, aber ich könnte mir denken – weil er so besessen war von der flammenden Erscheinung der Sonne –, daß er im Irrsinn nichts andres gewollt hat, als geradezu die Sonne malen – wie er es zuvor versuchte mit Hülfe der Landschaft –, nämlich ihre flammend brodelnde Goldscheibe selbst und sonst nichts. Und so, verstehst du? hat er die Wahrheit doch nie gesehn.

»Die Sonne, Georg, was liegt denn an der Sonne? Wenn ich blind bin, ist deshalb kein Licht? Die Sonne, hat sie nicht dunkle Strahlen der Wärme? Und der blinde Leib, hat er nicht seelische Strahlen eines Lichts? Was van Gogh sah, war die Erscheinung, das Sein, das seiende Licht, das von außen in ihn eindrang. Was liegt an ihm? Was ist selbst Dasein? Dasein ist nichts, Zeugung ist alles. Und – es zeugt, das Licht, das ist die Wahrheit! Es hat gezeugt – diese Erde, diese Wälder und Äcker und das Meer, jeden Baum, die Tiere und den Menschen und seine Seele. Es zeugte aus uns den Flammengeist, und es zeugte die Weiße der Narzisse; es zeugte die Wärme des Blutes und die Glut des Herzens. Die Wärme, Georg, die Wärme! Die aber hat er gefühlt, Rembrandt, und die hat er gemalt, Rembrandt! Er sah – die Nacht. Und in der Nacht sah er sich zeugen: das Licht, das ewige Juwel, die Wonne des erleuchteten Daseins mitten im Finstern, und Entzücken strahlte ihn an aus der Nacht, und so malte er das Licht in seiner unendlichen Fruchtbarkeit. Er malte es als Maler an malerischen Dingen. Er ließ es saugen am riesigen Leibe der Nacht, und überall taten sich Adern auf, und es schmolz hervor: Juwelen und Perlen, die Brokate und die Spitzen, Fahnen und Harnische und Fackeln, Stickereien und Sammet, das Lachen der Saskia und der Körper Hendrikjes, und hundert Male immer wieder – nur noch Leuchter fürs Licht – das eigene Antlitz, und hinter dem Antlitz die eigene, brennende, brodelnde, wollüstige, trinkende, schaffende, zeugende Sonne der Seele. Das ganze Dasein war ihm eine unendliche Nacht voller tausend Geschichten, die sich fortzeugten auseinander, und die ganze Nacht nur ein riesenhafter, schwarzer Spiegel, in dem meilenfern, ein verlorener Funken Goldes, widerglänzte die eigene Seele, ein Tropfen an Gottes Wimper.«

Dies, dachte ich, als ich durch die brausende Nacht zu mir hinüberging, blindlings im völlig Schwarzen, dies ist nun Bogner? Dieser einst gelinderte, wortkarge, sparsame Mensch? Freilich: damals malte er, die Seele glühte sich schweigend aus; nun muß sie reden und verbrennt dabei. Und ich erschrak, da ich bemerkte, daß ich nicht der einzige Unselige bin auf einer so kleinen Insel.


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