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Zweites Kapitel: September

Georg an seinen Vater

I

Jason sagte (und nämlich im Auftrage der Andern, denn sie hielten ihn für den Geeigneten, und er wars auch!), Jason also sagte mir, daß Du gestorben seist. Aber das ist auch wieder so ein Ausdruck! (Übrigens, ich erinnere mich, es war ein so besondrer Augenblick, wie ich ihn noch nicht erlebt zu haben glaube, auch kaum mehr vorstellbar, doch war es so, daß Jason ganz weiß von oben bis unten in einer pechschwarzen Wolke saß, in der es donnerte. Dann liefen sie haufenweise zusammen, und diese, ich muß gestehen, ziemlich unglaubliche Erscheinung verschwand.)

Aber wie gesagt: das ist auch wieder so ein Ausdruck. Dir ist bekannt, denn wir sprachen mehr als einmal darüber, daß wir im Zeitalter des Ausdrückens leben, auch Expressionismus genannt. Dichter und Maler: was das Wesen ihres Wirkens in Wahrheit ist, nämlich: die Form, das weiß ihrer keiner mehr (ausgenommen wie immer George), und eines jeden ganzer Stolz ist es, wenn er für irgendeine Nervensache einen Ausdruck gefunden hat. So auch die übrigen Menschen, und so auch in diesem Fall und so weiter.

Nämlich, ich will sagen: die Umstände reden ja gewissermaßen zugunsten der Andern. Mordanschlag eines Irren … ich beklage Sigurd nicht weiter, als ich ihn eben verstehe, das heißt, ich habe alles, was Vernunft und Sinnenordnung heißt unter den Menschen, so oft hirnverbrannt finden müssen, an Andern und an mir, daß ich durchaus nicht weiß, ob wir nicht in die wahren Ordnungen gerade dann eintreten, wenn die uns bekannten gesprengt scheinen, und übrigens, wer sagt denn: gesprengt? Ebensogut können sie ja nur erweitert sein. Attentate auf Fürsten sind auch von sogenannt vernünftigen Leuten nicht selten verübt worden, und so ließe sich in Sigurds Falle besonders gut annehmen, daß es für ihn, um zu dieser Tat zu gelangen, eben jener Erweiterung bedurfte, die uns unter dem Ausdruck Irrsinn bekannt ist. Auch wieder so ein Ausdruck!

Ferner Trauer im Lande, an den Kleidern, betrübte Mienen und so weiter, vor allem unbedingt Deine sonst ganz unverständliche Abwesenheit, – wie gesagt, all das spricht für Totsein, aber, wie ich auch schon sagte: das ist eben der gängige Ausdruck. Und eine Nervensache ist es ebenfalls, denn wie? Wenn ich wirklich glaubte, Du seist tot, in dem üblichen Sinn des nicht mehr Vorhanden-, des Abgeschiedenseins: müßten nicht meine Nerven reißen im Augenblick? Mit einem Wort: ich stürbe vor Angst?

Nein, mein Glaube bleibt die Form. (Übrigens ist es, wie mir einfällt, gerade Sigurd, dem ich die frühste Belehrung hierüber verdanke.) In der Form offenbart sich die Seele; Deine Seele aber, wie könnte sie gestorben sein? Ich habe es nicht gesehn. Ihre stoffliche Erscheinungsart, ja, die hat sie allerdings in außerordentlicher und besondrer Weise gewechselt, so wie die Vernunft es eben tut, indem sie rasend wird. Einzig wunderbar aber bleibt, daß die Form, in der Du nach wie vor Wesen hast und lebst, daß sie ganz und gar zusammenfällt mit der Form, in der ich Dich empfinde. Und ist nicht dieser Gedanke fast göttlich: Du, gemacht aus väterlichem Stoff, eingesetzt in die Form des Vaters für unsre Lebenszeit, nicht leiblich mein Vater, aber ganz und ewig im Geist? Nein, besondrer konnte es unmöglich erdacht werden. Mir verbleibt.

Sieh, da war er wieder eingeschlafen! Er schläft immer ein, dieser Knabe Georg! Ich dachte erst, das Schreiben würde ihn munter erhalten, aber es scheint mir doch nun wieder eine besondre Nervensache. Mein Geist, das merkst Du wohl, ist schon wieder scharf wie ein Eisbrecher (übrigens, in Chöttingen sagt man Cheist, – ich weiß nicht, es reizt mich so besonders, wenn ich nicht alles aufgeschrieben habe, was mir eben einfällt. Nicht wahr, es könnte ja grade das von ausschlaggebender, mit einem Wort von besondrer Wichtigkeit sein!), also wie ein Eisbrecher, wie gesagt, aber du lieber Gott, meine Hand ist so schlaff wie meine Beine und so weiter.

Nämlich –

Oder vielmehr –

Nein, es tut mir besonders leid, aber ich kann nun das Ende des Satzes oben nicht mehr finden. Nun, Geduld, Geduld, wenns Herz auch bricht, Mit Gott im Himmel hadre nicht und so weiter, wie der Doktor Bürger so schön singt, aber – das ist auch nicht so einfach!

II

Denn (um an meinen ersten Brief anzuknüpfen): warum bist Du fort und ich hier allein? Ist das nicht zum Hadern? Du bist freilich nun der große Strahlende geworden, ja der so blendend Strahlende, daß ich gar nicht die Augen zu Dir aufheben darf, und schon deshalb ist das Schreiben sehr dienlich, – ich aber blieb hier in der kranken Dämmerung, und wenn ich nicht die Hoffnung hätte wie einen Felsen, wie einen rocher de bronce, in nicht gar zu langer Frist dorthin zu gelangen, wo Du bist – wie wäre dies Dasein sonst zu ertragen? Lieber Papa, verzeih schon, ich weiß, daß die Äußerung von Gefühlen früher nicht üblich war zwischen uns, aber damals ging es uns Beiden ja verhältnismäßig wohl. Nun verstehst Du wohl: meine Einsamkeit macht mich mitunter recht weich.

III

Standhaftigkeit sagst Du. O gewiß, natürlich! Ich weiß ja auch: es lebt niemand in der Dämmerung, der nicht recte hineingehört, und schon daß ich darin bin, wäre mir ein Beweis. Und nun der lange schwere Weg, den ich vor mir habe, dieser furchtbare und erhabene Weg zu Dir, der mich besonders entmutigen würde, wenn ich es wagte, ihn ganz ins Auge zu fassen: ich muß schon sagen, ich bin mitunter recht verzagt. Du würdest mir ja gern helfen, ich weiß, aber da es verboten ist, so sehe ich es ja vollkommen ein. In Deine Klarheit, in Deine Hoheit, wie fang ichs an? Wo ich doch ganz unten erst auf dem Punkte stehe, wo man tausend Fehler um sich her sieht wie ein grausames Dickicht, und ganz fern – o himmlisches Grün hinter Bäumen! – dämmert die heilige Wahrheit …

IV

Ich weiß nicht, als ich neulich meinen ersten Brief an Dich begann, war ich so besonders glücklich und munter, aber bei mir hält auch rein gar nichts vor. (So war es immer in meinem Leben. Zum Beispiel Cordelia. Kaum war sie da, war sie auch wieder fort.) Dann ist auch diese elende, besondre Müdigkeit … Ich glaube, ich fahre bald nach Helenenruh. Da Du in Trassenberg bist, darf ich ja leider nicht dorthin, und Helenenruh – ja, Helenenruh, das steht immer vor einem wie eine Fontäne! Helenenruh war immer Sommer. Und die Kindheit, was ist die? Ein einziger Sommer. Folglich ist Helenenruh eine einzige besondre Kindheit, und daraus wieder die einfache Folge ist, daß ich nach Helenenruh fahren muß, um – wenn ich schon in die Väterlichkeit nicht gelangen kann – wenigstens in die Kindheit zu gelangen. Und führt wirklich ein Weg zu Dir hinauf: nur dort kann er beginnen.

V

Da hier nun Geist zu Geist redet, mein lieber Papa, so unterließ ich bisher eine meinen Körper betreffende Mitteilung von nicht besonderer Wichtigkeit. (Immerhin giebt es auch an ihr etwas Bedeutsames.) Ich bin nämlich krank gewesen, ja, und denke Dir, es war aufs Haar genau dieselbe Krankheit, an der Sigune starb! Ist das nicht besonders merkwürdig? Genau die selbe! Und sie starb daran, und ich lebe. Welch ein unmenschliches Glück, nicht wahr, für diesen Knaben Georg? Denn wohin wäre er gelangt, wenn er jetzt schon gestorben wäre? O die Tiefe ist ja nicht auszudenken! Nun blieb ich am Leben und bin Dir um so viel näher immerhin, das heißt: Du mußt verzeihn, wenn meine Berechnungen vielleicht ganz unsinnig sind, denn was sind Entfernungen in unserm Land? Dein letzter äußerster Strahl gelangt bis zu mir mit solcher Kraft noch, daß er mich zu blenden vermag, und das ist alles, was ich weiß.

Darüber müssen wir noch viel reden zusammen. Denn ich weiß nicht: mir wird eigentlich tagtäglich schwerer und unseliger zumut. Du bist so schwer zu fassen! Früher, ach weißt Du noch? ›Wie wir einst in grenzenlosem Lieben – Späße der Unendlichkeit getrieben …‹ Ja, damals war alles leicht.

Und wenn schon die gewöhnlichen Menschen sagen, der Tod trennt, und es manchmal kaum zu ertragen wissen, was soll da erst ich sagen? Sie haben es doch leicht. Um die Trennung des Todes aufzuheben, was brauchen sie nur zu tun? Sie legen sich hin und sterben gleichfalls. Haha, es ist fabelhaft! Legen sich hin und sterben. Ich aber, ich? ich muß noch lange, lange leben, muß schaffen und streben und mein goldenes Kleid aus lauter verknöselten Fäden weben.

Ach, und es geht mir so schauderbar viel durch den Kopf, was ich nie im Leben zu Papier bringen werde. Ich glaube übrigens, es wird besser mit mir werden, wenn ich erst wieder gehen kann. Dann läuft sich vieles so an den Sohlen ab. Aber die Beine, o je! Ja, das kommt von der Krankheit. Glaube mir, Papa, es war die reine Hölle! Ich will mal sehn, ob ich es Dir beschreiben kann.

Das Schlimmste war – abgesehen von dem ganz, dem besonders Schlimmen – das lange Fahren. Immer dieser merkwürdige Wagen ohne Pferde, in dem ich vorne so angeschmiedet saß, als wäre ich ein Stück mit ihm, und neben mir auf dem Bock – meist war es wohl Helene, die fuhr, aber auch Andre müssens gewesen sein, die allesamt, wenn ich mich recht erinnere, munter und gesprächig waren – untereinander –, während ich selber keinen Laut äußern konnte und nichts begriff und nichts fühlte als den entsetzlichen Druck, in den mein ganzes Sein eingepreßt war. Und dann die schaurige Langsamkeit! (Seltsam, wenn wir uns sagen, daß es in Wirklichkeit doch kaum Minuten waren, während ich umgebettet wurde, und doch diese Unendlichkeit, zu der das Delirium die Minuten dehnte! Es ist also gewiß, daß es nur außerhalb unsrer, und für uns nur insofern wir mit dem Äußern in bewußter und vernünftiger Beziehung stehn, Zeit giebt, nicht aber in uns selbst.) Fahren, fahren und nicht vorwärts kommen, manchmal zwischen den unsäglich grauen Feldern, ohne Himmel, jedoch immer bedrückt von der schweren Niedrigkeit, unter der sich alles bewegte, dann wieder die endlose Mauer entlang, endlich durch die Höfe, die zahllosen Höfe, dann die Räume dieses öden Hauses, das nichts hatte als seine Wände, langsam, grauenvoll langsam, immer wieder Stillstand, bis ich endlich lag, angeschmiedet wieder ins Liegen wie zuvor in den Sitz (und es kam wohl, weil sie mich unter den Armen und Knieen faßten beim Umbetten, daß ich mich so in halb sitzender Stellung befand – das Fahren! – jedoch schwer hing und nicht saß), bis ich dann merkte, daß sie mich ja wieder aufgehängt hatten, an den Füßen aufgehängt an der Wand, ohne daß ich mich bewegen konnte, wobei ich doch nicht eigentlich hing, sondern lag – ein im Wachen nicht vorstellbarer Zustand, das heißt ich hing, aber um mich herum war alles, wie wenn ich wagerecht läge. Und daß dies immer wieder kam! Und immer waren sie Alle herum, Onkel Salomon, Magda, Renate, Du Papa, Virgo, Schley, Klemens, sprachen miteinander, nichts war für mich zu verstehn, ich flehte, ich war für sie gar nicht vorhanden. Es war die Hölle! Ich glühte festgegossen, hing, – ach, Sigune, hast du nicht auch so gelegen, den Kopf hintenüber, das Genick schon versteift? Hast du nicht ganz das selbe ertragen? Sieh, so habe ich es dir nachgelitten!

Doch war dies alles ja nichts gegen – das Große.

Mich friert, wenn ich nur das Wort denke. Beschreiben kann ichs Dir nicht mehr, es läßt sich ja nur träumen. Es war nur Empfindung. Es war Nacht, – und ich war selber die Finsternis. Ich war ausgedehnt und überall. Es war das Große, das ungeheure schwarze Wälzen vor mir, über mir –, und ich selber war das Wälzen. Ich war zum Giganten geschwollen und hatte eine entsetzliche Angst, nicht wieder klein sein zu können. Ich sollte das Große umwälzen, es war ein grauenvoller Drang, umzuwälzen, und es wälzte mich um. Es war eine so wahnsinnige Angst … Nein, kein Großes, kein Wälzen, kein Ich. Nur Angst. Es war das Sterben.

Und doch – ich erinnere mich – es war schon einmal da, das Große. Wie ich die Masern hatte als Junge, war es da, und als ich, ganz klein, Lungenentzündung hatte, muß es dagewesen sein. Ja, und damals selbst kann ich es nicht zum ersten Mal erlebt haben; damals schon – ich erinnere mich – muß ich mich erinnert haben, wie ich mich heute erinnere. Und ja – mein Gott! ich glaube, das Fürchterlichste war die Erinnerung, daß es schon einmal da und damals schon nicht zum Ertragen gewesen war. Und Erinnerung eigentlich war die ganze Angst, – aber wann? wann?

VI

Dieser besonders gute Jason war eben da und erzählte mir etwas Niedliches, das ich meinem lieben Papa nicht vorenthalten will, doch muß ich einige Erklärungen vorausschicken.

An jenem 31. Juli nämlich, der uns am Abend die Trennung brachte, wo der große Mummenschanz war, mit einem Wort: an jenem besondern Tag, das heißt während seiner ganzen ersten Hälfte war ich – kurz und gut: gewissermaßen berauscht. Damals wußte ich es natürlich nicht, das heißt als ich es nicht mehr war, da fiel es mir auf. Es war jedoch ein besondrer Rausch, nämlich nicht im Kopf allein, sondern in allen Gliedern, es war ein ganz rasendes Behagen, es war quasi nichts als ein ganz gewaltiges, besondres Strotzen von Lebenskraft.

Ja, und noch etwas! In der Nacht vorher hatte ich – sagen wir: Erscheinungen. Nun, wo Jason mir alles erklärt hat, erinnere ich mich erst deutlich wieder. Ich saß nämlich um die besondre Mitternachtstunde oben auf der Sternwarte, weintrinkenderweise, eine etwas romantische Idee, obwohl ich im allgemeinen kein Romantiker bin. Dann erschien auf einmal jener Montfort bei mir, Josef, dann kamen diese optischen Erscheinungen, Kugeln aus Feuer und so weiter, auch so besondre Ausfälle im Gesichtsfeld, wie man das nennt, und schließlich stellten sich drei Gugelmänner vor, so besondre Femrichter, die allerlei unvergeßliche Dinge sagten, das heißt – nun habe ich sie ja doch vergessen. Bis auf eins: den Vornamen meiner richtigen Mutter, nämlich Kaja.

Und nun höre diese entzückenden Zusammenhänge! Ja, also am 31. nachmittags kam doch jener Klemens mit einem in russischer Sprache abgefaßten Brief meiner Mutter, den Virgo ein paar Tage vorher irgendwo gefunden hatte, und in eben dem drin stehen sollte, daß die Schreiberin meine Mutter sei, ich hielts nicht für wichtig, ihn zu lesen. Mit diesem Brief in der Hand war besagter Klemens nun die Tage vorher umhergelaufen (entschuldige gütigst: vorher umher klingt abscheulich, aber es langweilt mich nun schon ein wenig!) auf der Suche nämlich nach einem besondern Russen, der ihn übersetzen könnte. Wen findet er am Ende? Natürlich jenen Jason, der bekanntlich alle Sprachen spricht, aber siehe da: dor hatt en Uhl seten, und er konnte wohl und konnte auch nicht, das heißt, der Brief war so unleserlich, Jason fehlten ein paar besondre Worte, und kurz und gut, ihm fällt ein, daß ja dieser Josef Montfort vorhanden ist und grade aus Rußland gekommen, und nun wandern sie selbander zu ihm, das heißt in das Haus von Maler Bogner, wo Montfort wohnt.

Und wie sie dahin kommen, was herrscht daselbst? Allgemeine Heiterkeit! Es hatte nämlich besagter Montfort aus Südamerika, wo er auch gewesen ist (in dem Lande der Chinesien bin ich auch einmal gewesien!) ein besondres Gift mitgebracht namens Macu, das daselbst von den Indianern zu Kultzwecken gebraucht wird, und dessen besondre Wirkung eben darin besteht, wunderbare optische Erscheinungen hervorzurufen. »Und da,« sagt Jason, »da sitzen sie nun auf einem Berge, diese guten Indianer, und machen sich gegenseitig ihren schönen blauen Dunst vor.« Das selbe nun taten allda jener Maler, Montfort benebst seinem Chinesen – er hat einen Chinesen! –, seine Freundin Cornelia und sein Freund Saint-Georges, der zu diesem Zwecke geladen war. Auch Jason sagte natürlich: gieb mir die rote Speise, – und so war es eben. Wie nun aber Jason, oder vielmehr Klemens seinen Brief herauszieht, was kommt zutage? Josefs Kenntnisse in Russisch sind überaus mangelhaft, aber sein Chinese, der kann es glänzend, bloß – er kann nun wieder keine russischen Buchstaben lesen, und kurz und gut: da sitzen sie schließlich allesamt und raten auf den Brief und bekommen ihn auch schließlich heraus.

Siehe, da sagte jener Montfort: bedeutsame Vorfälle und so weiter, mit einem Wort: ob ich nun schon wisse, was in dem Brief geoffenbart wurde, oder nicht, und ob Klemens es mir sagen würde oder nicht (derselbe nämlich ging wieder fort und sagte, er wollte es sich überlegen, und das tat er auch den ganzen folgenden Tag lang), ihre Pflicht sei, mir eine besondre geheimnisvolle Warnung zukommen zu lassen; ein schöner Gedanke, nämlich in Hinsicht auf die königliche Würde, die ich in jenen Tagen auf mich zu nehmen gedachte, und Montfort in seiner ungeheuren Beredsamkeit dringt so lange auf die Andern ein und entwirft so köstliche Bilder und so weiter, daß sie allesamt einsehn: es ist notwendig, es muß geschehn. So kauften sie denn am folgenden Tage – nämlich das heißt: Montfort und Saint-Georges, und Jason sollte dabei sein, weil er eine so musikalische Stimme hat und am besten Verse aus dem Stegreif aufsagen kann – kauften sie diese besondren Femrichtertrachten, und das Gift nahmen sie auch mit, um es mir zu verabreichen, dieweil, wenn ich schon vorher Erscheinungen hätte, ich auch die Gugelmänner für ebensolche halten würde. Jason, das muß ich noch sagen, war eigentlich abgeneigt, allein was geschieht? Zu ihm kommt jener Sigurd, und wie Jason das einmal an sich hat: Sigurd beichtet ihm alle Tyrannendolche, die er in seinem Gewande trägt, und Jason? Ja, da meinst Du nun wohl, er habe die Obligation gehabt, zum Kadi zu rennen, allein da kennst Du den Jason zu schlecht. Der weiß nämlich haargenau, daß er an etwas, das geschehen soll, nicht das geringste ändern kann. Er kann nicht eingreifen, er ist gleichsam handlos oder bloß Kopf, oder wie er es ausdrückt: er wäre nur eine Begleiterscheinung. – Immerhin findet er sich bewegt, Kopf zu sein und ergo mit Femrichter zu spielen, – bin ich klar?

Und siehe da, wie sie um Mitternacht zum Schlosse wandeln, was geschieht? Sie sehen meinen Schatten oben auf der Sternwarte. Nun kommt Montfort herauf, um Hausgelegenheit auszubaldowern, wie die Gauner sagen, »und da saßen Sie ja«, sagt Jason, »und tranken Ihren herrlichen Christitränenwein, oder wie solche besondren Weine heißen«. Nun, und kurz und gut, das Gift ist im Wein, ich trinke, Montfort schwand ›und Goethe schwindet, und wer unbelohnt gelitten, strahlt in neuer Herrlichkeit‹ und so weiter. Und dann kamen sie, und es war alles schauerlich und sehr schön, bloß ich natürlich, ich schlug alles in den Wind, naturgemäß – meiner Natur gemäß –, das heißt: in diesem Fall war ich gewissermaßen unschuldig, denn eben jenes besagte Macugift hatte neben jener optischen auch die Wirkung, während der optischen äußerst schlaff und elend zu machen, hinterher jedoch eben jenes Strotzen von besondrer Lebenskraft hervorzurufen, das mich am folgenden Morgen prompt überfiel. Aber es war doch sehr schön, und ich bilde mir schon was darauf ein, so besondre Heroen wie diesen Josef und gar Jason zu meinem Seelenheil in Bewegung gesetzt zu haben, und dieser Josef hatte ja auch noch eine sehr feine Idee, nämlich einen Schmetterling, auch aus Südamerika. Er war so groß wie meine Hand, ganz blau wie lauter Türkise, und dran hing eine seidene Schleife, auf deren Bänder die Drei ihre erlauchten Namen eingetragen hatten, worauf sie das Ganze irgendwo in meinem Palast anbrachten, damit ich am andern Tage wenigstens wüßte, wers gewesen war, aber siehe da, was geschieht? Ich wußte es ganz und gar nicht.

So geht es, Papa, so geht es! Aber nun muß ich leider aufhören, ich hätte allerdings noch viel zu sagen, aber Du mußt verzeihen, ich bin so fürchterlich müde!

VII

Ach Gott, nein, sind die Menschen dumm! das ist ja nicht auszuhalten! Im allgemeinen weiß mans ja, aber diejenigen, die einem besonders nahestehen, die hält man doch gemeinhin für Ausnahmen.

Heute war mein Freund Benno da, zusammen mit der kleinen Virgo Schley. (Da ich mir bisher alle Besuche verbeten hatte, meinten sie wohl, es wäre ein Aufwaschen.) Virgo – ich irre mich doch nicht, daß Du sie einmal bei mir kennen gelernt hast? – brachte inzwischen Zwillinge zur Welt, was merkwürdigerweise auf ihr Äußeres nicht den geringsten Eindruck gemacht zu haben scheint, und sie sieht nach wie vor süß und wie ein halber Knabe aus. Nur weniger unschuldig; den besondren Ausdruck aller jungen Frauen von Wissen ohne rechtes Begreifen, weich und ein bißchen erstaunt, den hat sie schon. Von ihren Kindern erzählte sie naturgemäß tausend Geschichten. Benno schwieg sich aus in Kindheit, Rührung und vermischten Gedichten. Von Dir schwiegen sie natürlich, die überaus Zarten. Als sie im Begriff zu gehen sind, frage ich, ob ich vielleicht Grüße an Dich ausrichten soll. Was ereignet sich? Allgemeines Staunen. Nun und so weiter, ich habe keine Lust, ihre Dummheiten obendrein zu Papier zu bringen. Dennoch, dieser Mensch! Da waren wir nun so und so viel Jahre lang ein Herz und eine Seele, und nun stellt sich heraus: alldas war bloß Oberfläche. Er ist so flach wie eine Furt für Kühe. Nun, er heiratet ja demnächst auch diese japanische Ente, die er sich da angebändelt hat. Obendrein rückt er mit der Absicht heraus, durch meine Vermittlung eine demnächst freiwerdende Korrepetitorstelle am Hoftheater zu erhalten. Wer dahintersteckt, war zu erraten: die dicke Person von Schwiegermutter, der die Unterstützung eines ums Haar zu den Toten versammelt gewesenen gekrönten Freundes nicht geheuer scheint. Mag er denn hingehn zum Theater und sich die Seele vollends verschandeln lassen. Die nächste Forderung der Dicken wird wohl sein, daß er eine Operette komponiert von wegen der Tantièmen und so weiter.

Gute Nacht, Papa, ich bin heute zu abgespannt zum Schreiben. Dies mit Benno hat mich auch wieder recht aufgeregt. Armer Benno! Da hängt er nun wie der selige Absalon mit seinem langen Haar an den Ästen meines Nervenbaums, und noch habe ich die Kraft nicht, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Ach, könnte ich nur gleich den ganzen Baum bei den Wurzeln abhacken und ins Feuer werfen! Etwas derart muß ja geschehn, ich weiß, damit die Seele ganz frei und rein werde – für Dich! Du willst keine Götter neben Dir haben – o nimm doch nur, nimm alles, was Du willst, wäre es nur mehr, was ich geben könnte, jeden Freund, jede Geliebte, alles, alles will ich Dir ja zum Opfer bringen, leichter zu werden, eisiger, ruhiger im Beschreiten des Weges zu Dir!

VIII

So nüchtern und kalt und altersschwach wie jeder bisher sah mich heute der Morgen an, der mich aus einem Traum von Dir weckte. Ich hatte schon alles zur Abreise nach Helenenruh vorbereiten lassen – Doktor Birnbaum übersiedelt mit mir, um die Verbindung zwischen mir und den Regierungspersonen aufrechtzuhalten, obschon ich gestehen muß, daß ich noch nicht mehr tun kann als unterzeichnen, was er mir vorlegt –, und nun zögere ich wieder.

Mir träumte, daß ich in Trassenberg ankam und in die Gruft hinunterstieg, zu der aber die Treppe in den Grabenrest am alten Pallas hinabführte. Das Gewölbe unten, in das ich gelangte, war aber leer, zuerst. Dann erkannte ich ganz in der Ferne vor einem bunten Fenster Birnbaum, der an einem Tisch saß und in einen sonderbaren Trichter hineinsprach. Es war sehr still, mir war ängstlich, weil Du nicht da warst, dann bemerkte ich eine Tür, und wie ich behutsam näher trat, sah ich Dich in einem kleinen, ganz kahlen und niedrigen Raum sitzen auf einem Stuhl. Du hattest Dein gewöhnliches Aussehn, saßest ganz still da, die Hände geschlossen auf den Knien, und sahst nach dem Fenster hin. Meiner hattest Du nicht acht, und wie ich dann näher zusah, waren auch Deine Augen geschlossen, und Dein Gesicht war ganz gelb. Plötzlich wendetest Du Dich, öffnetest schwer die Augen und sahst mich fremd an …

Früher einmal gab mir Josef einige Anweisungen zur Traumdeutung, aber hier versagen sie mir ganz, und es scheint mir auch verboten.

Aber es soll wohl so sein, daß es täglich schwerer wird. Helenenruh wäre ja eine Erleichterung.

Wieder eingeschlafen über dem letzten Satz. Mich friert immer noch so trotz hundert Decken, ich sitze vor der Gartentür – das heißt also: im Zimmer – und versuche an den nassen Blättern der Büsche zu erraten, ob es regnet oder nicht. In Helenenruh, denk ich mir, scheint die Nachmittagssonne auf die Dächer, die Schwalben kreisen um die Türme, ich sehe sie, wie ich sie immer sah: die Luft über dem Schloß ist wie ein riesiger Trichter, gefüllt mit dem Durcheinanderjagen der hundert schwarzen Flügelleiber; manchmal, wenn eine sich herumwirft, sehe ich die weiße Brust; sie kreuzen sich wie lange gebogene Klingen, und außen um den fernsten Rand des Trichters streichen ein paar ganz eilige in großer, sausender Fahrt. Mariä Geburt – Ziehen die Schwalben furt. – Ich habe so eine Ahnung, als ob Mariä Geburt um diese Zeit sein müßte.

IX

So schreibe ich Dir denn doch heute aus Helenenruh, aber wenn ich zuletzt etwas von Erleichterung sagte, so muß ich das zurücknehmen. Eher dürfte es schwerer geworden sein. Ich möchte nur wissen, was es eigentlich ist! Aber es läßt sich nicht feststellen. Ich bin einfach ganz schwer geworden. Von Sonne keine Spur. Wind und Strichregen, dazu viel welkes Laub. Rosen blühn noch unter der Terrasse. Ich versuchte es mit dem Gehn, hielt auch schon eine kleine Viertelstunde aus, aber dann dachte ich, daß Du es ja auch nicht bis zum richtigen Gehen gebracht hast, solange Du hier warst, und nun sitze ich wieder unter meiner Decke, immerhin im Freien.

Es ist ja auch alles leer hier. Von uns Allen blieb nur Birnbaum mit seiner Arbeit. Übrigens bin ich mit Deiner gütigen Erlaubnis in Dein Schlafzimmer eingezogen und in das große Bett mit den geschnitzten Evangelistentieren auf den vier Pfosten – Bewunderung und Ehrfurcht der Kindheit!

Aber sage mir, warum nur dies mich so besonders erschreckte? Bei meinem heutigen Gehversuch gelangte ich bis zu Helenes Grab und betrat, um mich etwas auszuruhn, den Pavillon, in dem noch der Sessel von Dir stand. Auf einmal, wie ich da saß, entdeckte ich auf dem Bretterboden das zertretene Ende einer Zigarre von Dir. Oh Gott, ich kann nicht sagen, wie das mich entsetzte! Es war ein so leibhaft lebendiges Stück von Dir, und nun ist mir, als hättest Du mich drohend angesehn aus dem Fußboden. Die Rechenschaft, ja, ich weiß, ich weiß ja, ich schob sie immer noch hinaus, es ist die alte Schwäche, allein – gedulde Dich nur noch zwei Tage, nur noch einen! Es ist so schwer, ich habe noch immer nicht alles beisammen, es sind immer noch ein paar Lücken da, aber wer kann denn inständiger als ich hoffen, zum Ende zu kommen! Morgen ganz bestimmt, oder wenn nicht dann, übermorgen sollst Du mich bereitfinden! Rechne darauf! Ganz bestimmt!

X

Es dröhnt die riesige Posaune des Letzten Tags; an Felsen, an Grüfte, an Totes schlägt das Engelswort: Auf! und da kommen sie hervor, staunend, schwankend, erlöst, aber siehe da – welche Verwandlung ging mit uns vor nach diesem Tod? Keine, keine, denn wehe uns, wir haben nichts vergessen, es ist alles da, was wir verließen, in unsrer Erinnerung grauenvoll da, jedes Jahr, jede Stunde und Minute, jedes Wort, jeder Blick, jeder Schritt und Gedanke ist mit uns lebendig geworden, warum? Rechenschaft abzulegen darüber.

O Gabe des Vergessens, die allein
Uns möglich macht das ungeheure Leben!
Du wundervoller Allernächtewein,
Von dem wir trunken über Schlünden schweben!
Der gute Heiland wußte, was er tat,
O Lazarus, als du im Tod erschlafft;
Er kannte wohl die nicht geheime Kraft,
Er sah die süße Schwester, die ihn bat,
Und lächelte dich los aus deiner Haft.
Der Honig von der Götterlippe schmolz
Und tropfte Süße in dein krankes Herz,
Und Grünes sproß aus dem verdorrten Holz,
Da sahst du auf, und dieser Blick war Schmerz.
Der erste wars, an dem Erinnerung
Von innen saugte in die Nacht zurück.
Der zweite Kosten schon, der dritte Trunk,
Und alle andern waren wieder Glück …

XI

Nun sieht auf einmal der Himmel mich an. Es ist Abend. Hinter dem Eichendickicht im Westen lodert ein scharfes Gold. Der südliche Himmel von graublauen zarten Zügen, leise vergoldeten, wölbt seine reine Muschel über mir. Selige Schale! Geliebtes Gold, o geliebter Hauch, geliebte Bläue, dein Anblick ist schmerzlich, wie er es dem Verbannten sein muß, der das goldene Abendwunder der Heimat sich über fremdem Ufer entfalten sieht, – erinnernd an alles, was einmal war.

Übrigens bemerke ich, daß ich nichts datiert habe in diesen Briefen. Da es mich auch nichts angeht, ob es Stunden sind, Tage oder vielleicht schon Wochen, die vergingen, während ich schrieb, und sie also einer wie der andre das Siegel einer und der selben Stunde an sich tragen, so muß es wohl heißen, wie C. F. Meyer an seine Schwester schrieb: ›Aus allen Augenblicken meines Lebens.‹

XII

Kennst Du diese Verse von Greiner, Papa?

Und immer fremder sind mir Tag und Räume …

Was weht um mich? Man sagt: ein Menschenwort.
Was rauscht um mich? Man sagt: die alten Bäume,
Die rauschen noch aus deiner Kindheit fort.
Und Gärten stehn im abendlichen Land,
Ihr Schatten grüßt mich kühl und altbekannt.
Ich aber wandre dunkel fort, im Innern
Ein uralt Schattenbild, das leise weint.
Die nenn ich Mutter, diesen nenn ich Freund
Und lächle tief und kann mich nicht erinnern.

Sie passen – und sie passen auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich einmal als ein Andrer gelebt habe, damals als all dieses um mich her war, wie es heute ist, und doch anders, oh so anders! Oder ist dies kein Leben mehr? Es wird sich mit der Zeit herausstellen, ob es Leben ist, und ob es möglich sein wird, es zu leben oder nicht. Sollte jenes der Fall sein, so müßte es mir in der Tat gelungen sein, die ganze Oberschicht menschlichen Wesens, die uns gemeinhin bedeckt, abzukratzen ( grattez le Russe!), die ganze moralische Haut sozusagen, jene, in der auch das sogenannte Gewissen steckt, das Alltagsgewissen, nach dem man so behaglich lebt, dieweil es mit Gründen für alles voll steckt wie ein Brombeerbusch im Oktober. Möglich, es ist so. Möglich, das qualvolle Unbehagen, das mir das jetzige Leben verursacht, kommt davon, daß ich die Haut verlor und nun schauderbar friere in der Nacktheit. Worauf es ankäme, wäre dann wohl, nicht, wie ich es unbewußt bereits vorhaben werde, eine neue Haut zu bilden – die nur die alte werden könnte –, sondern vielmehr den Zustand der Hautlosigkeit als dauernden zu ertragen, mit Frieren aufzuhören, ihn lebensfähig zu machen.

Wie soll mans nennen? Nur – Mensch zu sein. Alle Strahlen des Lebendigseins aufzufangen – mit keiner spiegelnden Netzhaut, die Bilder hervorfluten läßt und verwirrende Gestalten –, sondern sie aufzusaugen in den innerst glühenden Kern des Menschseins, wo sich von selber zu ätherischer Reine und Klarheit die ewigen Begriffe bilden, die zeitlosen, die unwandelbaren Formen, in denen die Gottheit sich darstellt.

Aber das sind alles wohl nur so Ausdrücke …

Fest steht, daß ich bis zum 31. Juli dieses Jahres nichts weiter war als ein blasser und nichtemal besondrer Nervenbaum. Nun sehe ich, daß ich in den Zweigen oben eine nahezu völlig unbenützte Seele sitzen habe, – leider keinen goldenen Fasan, sondern so ein besondres Zwitterding von Sperber und Nachtigall. Warum es so stille sitzt, darf uns nicht wundern. (Total verlaust!)

XIII
Rechenschaftsablage an meinen Vater

Zuvor habe ich zu gestehen, daß der einzelnen Schuldposten einerseits so viel sind, und andererseits in einem so besondren Durcheinander über die Blätter des Schuldbuches verstreut, daß ich den Vorschlag eines besondren Verfahrens machen möchte, nämlich daß ich die einzelnen Hauptposten zusammenstellen darf in der Art jener kindlichen Spielzeugkästen, bestehend aus einem Dutzend würfelförmiger Holzklötze, als welche zusammen mit jeder ihrer Seiten ein Gemälde herstellen, mit dessen Einzelquadraten besagte Seiten beklebt sind, und es bleibt nur noch zu erwähnen, daß in meinem Falle jeder Teil jedes vorgestellten Bildes so wenig im eigentlichen Sinne als Bruchstück erscheint, als jede geistige, sinnliche Vorstellung in ihrer Art immer eine Ganzheit zu haben scheint, – das heißt also gleichfalls die Form eines Bildes.

 

Ich fange an! Erstes Bild:

Ein Mädchen, das ich vielleicht liebte, hieß Esther. Hier steht sie, in der Hand eine sogenannte Gänseblume, an der sie zupft: Liebe ich ihn? Liebe ich ihn nicht? Andrerseits sehen wir hier mich selbst, eine ähnliche Blume zupfend: Ich liebe sie –, ich liebe sie nicht. – Weiter: Eine Abschiedsszene. Sie – will nach Amerika, um dort gewissermaßen zu heiraten. Will – will auch nicht. Ich – möchte sie wohl halten; will – will auch nicht. Letztes Stück: Ein Schiffsuntergang mit Pauken und Trompeten; sie ertrinkt.

Summa: Ich bin der Schuldige am Untergang dieser hülflosen Seele.

 

Zweites Bild: In einer Sylvesternacht las mein Vater Briefe einer gewissen liebenden Cordelia, genannt die arme Seele. Hier ist sie zu sehn, wie sie sich in inbrünstigem Verlangen verzehrt, mir das Geheimnis ihres Lebens zu öffnen. Hier zu sehen bin ich, wie ich gepeinigt bin von einem ähnlichen Verlangen. Hier zu sehen ist Cordelia: tot.

Summa: Gesetzt, ich hätte die Kraft aufgebracht, zu bekennen: wäre nicht die zwingende Folge davon ihre Erleichterung zum eigenen Geständnis gewesen? Summa: Ich bin der Schuldige am Tode dieser armen Seele.

 

Drittes Bild: Hier ist Sigune, eine blasse verwaiste Pflanze. (›Ich wünschte, daß vom Fenster sie verschwände!‹) Hier der vielerseits bekannte Georg, eine Art besondren Wirbelwinds. Hier liegt sie, ausgerissen.

Summa, und so weiter.

 

Viertes Bild: Da wäre noch ein besondres Vorgeständnis zu machen. Ich verschwieg, daß unlängst die vielerseits bekannte Magda Chalybäus bei mir war, das heißt, ich war eben wieder einmal eingeschlafen, und sie saß neben mir wie der beste Engel, als ich erwachte. Obwohl sie mich anzusehen schien wie immer, merkte ich wohl, daß etwas keine Richtigkeit hatte mit ihrem Blick, und gleich sehe ich folgende Bilder:

Eine Frau, die einmal kürzere Zeit so eine besondre Art Geliebte von immer Demselben war. Diese und jene Szene der Eifersucht oder der ehrgeizigen Andeutungen. Trennung. Jahrelanges Nichtvorhandensein in der Erinnerung Desselben. Nun der wohlbekannte Festabend. Jene Frau, genannt Cora, in der Maske einer Eumenide. Scheint Magda wegen ihres von Renate geborgten Kleides für dieselbe zu halten. Alberne (?) Drohungen. Später Magda mit Demselben im Monopteros. Theatralischer Überfall Coras mit einem Dolch. Ich weiß nicht: galt es mir oder galt es ihr? Ehe Derselbe dazwischen fährt, sinkt Magda zu Boden.

Nun, meinem Vater ist obgenannte Magda besonders bekannt, und er kann sich demgemäß ihre Rede vorstellen auf meine Frage nach ihren Augen. Oh, sie könne recht gut sehn! Grade heute zum Beispiel sei es besonders gut, sie sehe mich ganz deutlich, sie sei auch zum Beispiel ganz allein zu mir durch das Zimmer gekommen, ja, es wäre geradezu schade gewesen, daß ich eben schlief – und so weiter. Mit einem Wort: blind.

(Aber deswegen keine Ergriffenheit! Sondern standfest jetzt, Auge in Auge, Zahn um Zahn, – auch abgesehen von noch weiteren diesbezüglichen Ausführungen ihrerseits, nämlich betreff einer gewissen besondren Prophezeiung, die endlich in Erfüllung gegangen zu sehn Derselben eine besondre, sozusagen seelische Genugtuung bereitete.)

Summa: – – erübrigt sich wohl nach Analogie der vorigen.

 

Ein Würfelklotz verfügt über sechs Seiten. Zwei blieben noch leer. Auf eine derselben würde ich ja sehr gerne mich bringen, wie ich am Tode Helenes schuldig bin, aber – ich kanns drehen, wie ich mag: es will mir durchaus nicht gelingen. Es scheint kaum erklärlich, aber vorläufig muß es dabei bleiben, daß ich tatsächlich am Tode Helenes nicht schuldig zu sein scheine.

 

Nun wären freilich die bisher aufgedeckten nur Zusammenhänge äußerer Art, und ich käme nunmehr zum Nachweis der besonderen, inneren Notwendigkeiten, nämlich folgendermaßen in der Ordnung:

Ad I.

A. Allgemein. An dem Tage, wo es sich darum handelte, Esther endgültig zu halten, war ich deshalb nicht genügend bei der Sache, weil ich am nächsten Morgen auf Mensur zu stehen hatte, einer, wie ich wußte, nicht eben leichten Mensur, und so kam es auch. Ferner ist zu sagen, daß ich in München bereits nach wenigen Wochen Corpslebens wußte: es war eine – nun, seien wir gnädig und sagen ein Irrtum. Gleichwohl wurde ich nicht nur in A. wiederum aktiv aus unbesondrer Berauschtheit, sondern beharrte auch dabei wider besseres Wissen, nämlich aus purer Schwäche, will sagen Unverstand des für mein Leben notwendigen Tuns.

Gedankenlosigkeit, Schwäche, völlige Unkenntnis des Notwendigen, des Einen, bei fortwährendem im Mund- und im Hirne-Führen großartiger Pläne, Gedanken, Phantasiestücke in Napoleons Manier und so weiter – das sind die Anklagungen.

B. Besonders: Obendrein fortwährende Verwirrung. In einem Kaffeehaus oder Chantant, einer Bar meinetwegen war ich einmal Augen- und Ohrenzeuge eines besondren Gesprächs zwischen den allerseits bekannten Josef Montfort und Saint-Georges. Es wurde darin auf das glaubwürdigste nachgewiesen, daß die seelische Versetzung eines beliebigen Menschen in die Leiblichkeit eines Andern, – kurz und gut: die Vornahme einer Maske unbedingt führen müsse zum Unheil, wo nicht zum Verbrechen.

Wer schlug dieses in den Wind seiner Berauschtheit? (Immer Derselbe!) Nicht nur seiner Berauschtheit! Denn bei völliger Nüchternheit des folgenden Nachmittags, in einer Stunde höchster Notwendigkeit war ihm jenes Gespräch klarstens erinnerlich, er aber schlugs in alle Windsbräute, nahm die Maske vor, und es begann: uralte Verwirrung.

Denn: ›so begannst du, mein Tag – Von Verheißungen voll‹: aus jahrelanger kindlicher Dumpfheit rauchte mit unbekannter Geschwindigkeit hervor die Flamme des Verstandes, die alle Dinge so überdeutlich – in einem Betracht – zeigte, daß die Beschäftigung ihres Erkennens ihm allein schon ruhmwürdig schien und ihn somit verschluckte, alldieweil das genügsame Herz, gespeist mit einigem Abfall, sich allein großzuziehn hatte.

So geschah es denn recte, daß ich – Beispiel Magdas zweite Errettung Jasons – allüberall mit Gedanken handvoll bei der Hand, zu spät kam in den Augenblicken des Fühlens oder Handelns. Die Ewigkeit habe ich allzeit großartig begriffen; den Augenblick niemals.

Immerfort mit mir selber im Schwunge wie mit einer irrsinnig gewordenen Gebetskaffeemühle sah ich von jedem, was vor mich hingeriet, stets so viel, wie der Blick aus der Dreharbeit nach oben eben hergab. So kam der Tag Esthers, und ich dachte an mich, scherte mich den Henker um sie und – lieferte sie demgemäß dem Henker aus. Seelisch immerfort großen Umgang pflegend mit Heroen und Dämonen, war ich immer unvorbereitet für Bruder und Schwester. So kam der Tag, wo Cordelia zusammenbrach vor mir, wo schon das Geständnis sich auf ihren Lippen wand wie eine flammende Schlange, aber ich ließ mich gerne beschwichtigen, auf später vertrösten, wo es zu spät war (denn immer ist später zu spät!), denn: der Mensch zwar hat eine besondre Membran erfunden, so fein, daß er über Länder und Ströme hinweg seiner Geliebten den Zustand seiner zärtlichen Gefühle mitzuteilen vermag: eine Membran aber, innerstes Empfinden der selben Geliebten ahnend aufzufangen im Augenblick, wo Leib sich preßte an Leib, die zu erfinden bemühte er sich nicht. Und ich, der ich ein Mensch bin: hatte ich nicht die Aufgabe, sie zu erfinden?

Ich? Freilich, es ist wahr, daß ich unter allen gewöhnlichen Menschen nichts bin als ein ebenso gewöhnlicher Mensch, und dennoch war ich nicht ganz ausgeschlossen vom Besondren, will sagen: der Gnade. Augenblicke erstrahlten schon ganz im überirdischen Feuer. Aus Nacht und Buschwerk hervortretend die Erlauchte – oh wie? durchflammte sie mich nicht mit einem Strahl ihres Auges? war nicht eine einzige Wimper ihres Lides stark und scharf genug zur magischen Durchbohrung, und ich brannte auf lichterloh? Was denn erlosch ich im Nu? Ich hatte doch die Kraft, das Schicksal über mir zu empfinden, das mich in jenem Augenblick an ihre Fußspur fesselte, und die Kraft, mich in meinen Grundfesten erschüttern zu lassen! Warum war ich denn so lau und so erbärmlich und gewöhnlich, daß ich nicht festhielt mit Klauen und Zähnen, und warum ließ ich mich fortlocken von jeder Stimme, die vorüberflog, jedem Bleiglanz, jeder trüben eigenen Not, all dem Zuvielen? Warum tat ich denn nicht, was not war, heftete mich an das Eine, unlösbar, mit allen Gewalten Leibes und der Seele, verfolgte es, setzte ihm zu, warf ihm immer neue Schlingen um, wenn es die ersten zerriß, ließ nicht ab von ihm, wich nicht von seiner Seite, wurde taub und blind gegen alles andre, gegen Blitz und Donner, Frühling und Winter, Leben und Sterben, nur aufdürstend, nur auflodernd in der Flamme! Statt dessen taumelte ich so umher, war immer gut und niemals mehr, verirrte mich in der Vielheit, sah immer – o holdes Wort der Gepriesnen! – nur Masse, nur Masse, richtete nichts als Unheil an und stand und stehe nun da endlich, die Hände von Schätzen leer, aber übervoll von der Schuld. Wenn ich das Eine getan hätte, wären mir nicht vielleicht Kronen und was ich nur wünschte freiwillig in den Schoß geregnet? Ich hätte gelebt, ich lebte noch, und Alle mit mir, die nun dahin sind durch mich. Warum, ja warum bin ich denn gewöhnlich, wenn ich Wort um Wort und Schale um Schale weiß, wie man es macht, es nicht zu sein!

In einer übertriebenen, wegen der Maske übertriebenen eingebildeten Sicherheit raste ich mördrisch mit Keulen umher, da im Gegenteil alles unsicher war, und unsicher in Wahrheit bis ins Mark unaufhörlich tanzte ich herum mit Lemuren und Chimären der tausend fernen Möglichkeiten, immer ins Weiteste gerichtet, augenlos immer fürs Nächste, die nächste Sigune! Ratlos bis ins Mark vor lauter gedachtem Tunwollen war ich am Ende nur immer froh, ja lieber nichts zu tun, als etwas Bestimmtes, und Esther ging in den Tod, Sigune ging, und Cordelia fragte ich nicht nach.

Dreimal kam der Tod selber, um mich zu warnen – ich überhört' es! Oh die ewige Schande, nicht eher zu wissen von einer Not, ehe man sie selber erfuhr! nicht eher zu wissen vom Tod, ehe selber man starb.

Hemmungen, aha! Hemmungen der Tat, die hatte ich gut und gern, aber hatte ich je eine einzige Hemmung meiner Gedanken? In Erwartung der Geliebten – ich konnte ja nicht einmal den Urin verhalten und dünkte mich wahrhaftig zu lieben, als ob es möglich wäre, seine Notdurft zu verrichten in der Stunde der Unsterblichkeit. Magda, sie wars, die Jason aus dem Teich holte, Magda, die ihn vor der Windmühle bewahrte, und ach, da blüht nun meine Verworfenheit auf dem Mist, denn: Jason retten, heißt das nicht, Gott selber aus dem Wasser ziehn? Ich aber, ich wars nicht wert (obgleich dieser Bogner sich damals hinstellte und die Hände aufhob: Danken Sie Gott, Sire, daß nicht Sie diese Verantwortung und so weiter!) und kann nun heulen und mich zerknirschen und zerreißen am zu späten Tag, daß ich beim Ewigen ewig dabeistehn muß und darf es nicht tun! Ist das die Hölle? Ist das Höllenpein? Ist das auszudenken? Ja, denke, denke du nur, laß die Schwäche groß handeln und setze du den Grübelbohrer an Maler Bogner. Oh meine Herren Richter, bilden Sie sich vielleicht ein, ich hätte irgend was vergessen? Freiwillig geblendet hab ich mich, an den Augen kastriert, als mein Herr Vater mir eine gewisse besondre Mitteilung über meine Geburt machte, und da tappte ich denn ins Leben hinein wie der blinde gewesene Hengst Unkas, nur Eines, nur Eines in Nase und Nieren, daß es mir ja nicht entwiche, o du heiliger Mistgeruch aus der eigenen Stalltür: die Gewohnheit.

Gewohnheit, das leirige Gleis, zog mich widerstandslos dahin, und wo mir das Große, Heilige, Ewige entgegentrat, den Blitz in den Händen, da zog ich hurtig die Weiche auf, da hielt ich hurtig den Ableiter vor, glitt glatt weiter mein Gleis, geführt statt zu führen, und was – statt des Erlauchten, Unsterblichen – was bekam ich? Cora bekam ich, das Halbe, das Armselige, das Ding, ›das wie Gold ist aus Lehm‹, den Antichrist!

Gnädiger Gott, der du bist! Wenn es denn möglich sein soll, wenn es aus all diesem noch einen Weg geben soll für mich, so bewahre mich vor dem einen: ja, wahrlich, wenn ich auch mit Blut und Knochen, mit all meinen Sinnen und Übersinnen wieder hinein muß ins Alte, – so sei mir gnädig und verhilf mir zu dem Einen: nicht der Gewohnheit wieder anheimzufallen mit meiner Seele! Daß ich meine eigenen Gedanken sehe wie Sterne, meine eigenen Gefühle fühle wie Blumen; daß ich nicht dem Ungefähren nachtappe, wie ich das Pferd Unkas sich selber nachtappen sah in den ewigen Stall!

Ich bin zu Ende.

Magda an Dr. Birnbaum

Waldheim, am 16. September

Lieber Onkel Salomon!

Nun siehst Du, jetzt kann ich wieder schreiben! Es geht sogar schon fast so schnell wie mit der Feder, und dabei ist die Maschine, die mein Freund Jason mir besorgte, nicht einmal eine richtige Blindenschreibmaschine; er hat nur die Tasten, die eigentlich weiße Lettern auf schwarzem Grund haben, mit weißen Plättchen belegt, weil ich die zumeist doch sehen kann, und dann hat er auf jeden mittelsten Buchstaben der drei Tastenreihen einen Tropfen Siegellack fallen lassen, so daß links und rechts sich auseinander halten läßt, und ich kam wirklich überraschend schnell vorwärts. – Heute wollte ich Dich bitten, doch so gut zu sein und Mahlmann zu veranlassen, daß er drei, oder am besten vier Zimmer im Gastflügel zurechtmachen läßt. Mein lieber Freund Bogner ist nun nach fast sechs Wochen so weit wiederhergestellt, daß er das Krankenhaus verlassen darf. Er hat allerdings noch eine offene Wunde im Rücken mit einer Kanüle darin, aber er darf sich doch schon bewegen. Ich sprach zufällig von Helenenruh mit ihm, und er erinnerte sich mit solcher Freude der hier verbrachten Wochen, daß ich ihn eingeladen habe, dorthin zu gehn. Eine sehr nahe Freundin von ihm, Frau Tregiorni, wird ihn begleiten, und wahrscheinlich auch noch das Fräulein Ring, durch die ich den Li habe, wie Du Dich erinnern wirst. Ich selbst denke, in den ersten Oktobertagen zu kommen und außer Renate den jungen Saint-Georges mitzubringen; er ist gelähmt und wird dann Schulferien haben. Ich würde eher kommen, wenn nicht Renate zögerte; ihr Onkel ist leider von sehr zarter Gesundheit und beansprucht ständig Aufmerksamkeit und Pflege; sie wird deshalb auch wohl nur einige Tage in Helenenruh bleiben. Mahlmann lasse ich dann bitten, für die zwei oder drei Wochen meines Dortseins ins Gestüt zu übersiedeln, da ich doch gern im alten Hause wohnen möchte und der Gastflügel auch besetzt sein wird. Alldas schreibe ich Dir, damit Mahlmann den Eindruck behält, daß ich bei Georg zu Gast bin, und nicht umgekehrt. Also vergieb, daß ich Dich zu Deiner vielen Arbeit auch noch behellige! Da Du von Georg nichts schreibst, so nehme ich wie verabredet an, daß in seinem Befinden keine Änderung eingetreten ist.

Auf baldiges Wiedersehen also! Ich sehne mich sehr nach Helenenruh! Ich werde ja nun eine zweite Kindheit dort haben, denn damals, nicht wahr, damals war es doch so, daß man die Dinge der Welt, die man sah, erst mit Händen fühlen mußte, um sie zu kennen, und das muß ich nun auch wieder tun. Ob meine Füße wohl die alten Wege gleich erkennen werden? Ich freue mich schrecklich darauf!

Mit vielen Grüßen an Tante Flora in Liebe Deine

Magda

Dr. Birnbaum an Magda

Helenenruh, am 17. Sept.

Meine liebe Magda, Dein Brief wird mir im selben Augenblick gebracht, wo ich mich hinsetze, um Dir zu schreiben. Du mußt nicht erschrecken, von einer großen Aufregung zu hören, in die ich durch Georg versetzt wurde, denn es scheint nun vorüber zu sein, und ihretwegen wollte ich Dir schreiben, indem ich mir vermute, von Dir, das heißt eigentlich von Deiner Freundin, Fräulein von Montfort, einige Aufklärungen erlangen zu können.

Erlaube, daß ich gleich in medias res gehe. Gestern äußerte Georg plötzlich die Absicht, den geisteskranken Sigurd in seiner Anstalt zu besuchen, wofür er, als ich ihn zu hindern suchte, als Grund anführte, es sei »gewissermaßen seine christliche Pflicht«, Sigurd zu sagen, daß er ihm den zugefügten Schmerz nicht anrechne. Er sprach die Hoffnung aus, ihn in einer klaren Stunde anzutreffen, machte übrigens auch einige Andeutungen, dahingehend, daß »Verschiedenes noch unaufgeklärt« sei. Alles was ich erreichen konnte, war die Erlaubnis zu einer telephonischen Anfrage in Lauensee, auf die ich den Bescheid erhielt, daß der Kranke nach einem letzten Anfall vor einigen Wochen der Stumpfheit anheimgefallen, daß eine Verständigung mit ihm also wohl ausgeschlossen sei. Leider ließ ich mich dadurch beruhigen und setzte es nur durch, daß ich Georg begleitete.

Es nahm aber einen ganz bösen Verlauf. Sigurd erkannte Georg sofort, es schien, als wollte er sich auf ihn stürzen, doch begnügte er sich mit einem Strom von Flüchen und Schimpfreden, nannte ihn Mörder, mit allen möglichen Zusätzen des Wahnsinns, Vater-, Mutter-, auch Schwestermörder, bis es uns gelang, Georg aus dem Zimmer zu ziehn. Er war zusammengefallen, sein Aussehn während der Fahrt war so, daß ich mitunter glaubte, mit einer Leiche im Wagen zu sitzen. Einmal nur sagte er etwas mir Unverständliches. Ich hatte ihn angerührt, er schien mich zu erkennen, nannte meinen Namen und sagte dann: Die sechste Seite! siehst du, nun haben wir die sechste! worauf er an den Fingern rechnete und sich verbesserte: nein, es stimmte ja doch nicht, die fünfte wäre ja Helene, und das stimmte ja nicht, – oder ähnlich.

Liebes Kind, Du kannst Dir mein Erschrecken vorstellen, aber höre erst weiter! Übrigens ist er, wie gesagt, nun ganz ruhig, spricht überhaupt nicht mehr, geht aber fortwährend, auch draußen bei dem nassen Wetter umher, während er früher nur immer dasaß und sehr viel schlief und dazwischen hastig schrieb, Briefe wohl, doch bekam ich nichts davon zu sehn. Der Himmel weiß, was daraus werden soll, ich bin nun auch bald am Ende meiner Kräfte, das mit dem Herzog hat mich gebrochen, die Arbeit häuft sich von Tag zu Tag, meine alte Frische habe ich längst nicht mehr. Dazu wieder die bösen politischen Aussichten! Aber da komme ich ins Schreiben und verschwende meine Zeit.

In der Nacht nach unsrer Rückkehr arbeitete ich noch in meinem Zimmer, die Türen zu Georgs Schlafzimmer – dem früheren seines Vaters – standen offen. Plötzlich hörte ich ihn drinnen stöhnen, dann in ein so verzweifeltes Geschrei, Klagen und Anklagen ausbrechen, wie ich es im Leben nicht gehört habe. Er hatte aber alle Türen seines Zimmers abgeschlossen. Ich kann das nun nicht beschreiben, er schrie einmal minutenlang nur immerfort: die Hölle, die Hölle, die Hölle! Dann rief er wieder nach seinem Vater, er schrie wie Sigurd: Mörder! und das schien er auf sich selber zu beziehn, und auch Sigurds Namen hörte ich und den seiner Schwester. Aber genug!

Alldies ging mir nun durch den Kopf, es muß ja irgend etwas Reelles dahinterstecken, eine Einbildung, eine Täuschung vielleicht, die sich beheben läßt, und da fiel mir ein, daß Deine Freundin vielleicht helfen könnte. Möchtest Du so gut sein und sie noch einmal genauestens nach ihrem Gespräch mit Sigurd in jener Nacht befragen? Da kann ja der kleinste Umstand von Wichtigkeit sein, und mir selber war in dem, was ich durch Dich erfuhr, einiges unklar geblieben, zum Beispiel wollte mir in Sigurds Plan von der Beseitigung aller gekrönten Häupter die Ermordung meines Herzogs niemals recht passen. Also sei so gut, und wenn etwas Neues sich ergeben sollte, teile es mir doch bitte gleich mit!

Ich werde mich vor allem freuen, Dich recht bald hier begrüßen zu können! Deine Anweisungen an den Verwalter Mahlmann habe ich wunschgemäß befolgt. Ich schließe mit meinen und meiner Frau herzlichsten Grüßen, bitte auch, mich Deiner Freundin ganz gehorsamst empfehlen zu wollen! In alter Treue Dein

Birnbaum

Renate an Dr. Birnbaum

Waldheim, am 19. September

Verehrter Herr Doktor!

Auf Magdas Bitte bin ich selber es, die Ihren Brief gleich beantwortet. Allerdings glaube ich zu den erschreckenden Dingen, die wir von Ihnen hören, einige Erklärungen geben zu können, obgleich das meiste daran auch weiterhin wohl nur zu ahnen bleibt. Wenn Sie Sigurd Georg Mörder nennen hörten, so glaube ich, daß sich das auf Sigurds Schwester beziehen soll. Etwas Ähnliches hörte ich schon damals, nach Esthers Tode, von ihm, doch blieben mir die Gründe dafür unbekannt. Daß Sigurds Plan ursprünglich nicht gegen den Herzog, sondern Georg gerichtet war, sagte er selber deutlich in unserm Gespräch. Und dann weiß ich, daß er, Sigurd, der Meinung war, Georg sei in die Gracht gestürzt und ertrunken, worauf dann sein Attentat auf den Herzog nur ein schreckliches Glied in der Methode seines Irrsinns wurde. Und rechnen Sie zu diesem, daß Georg mit durchnäßten Kleidern gefunden wurde, daß auch Magda stets dabeiblieb, er sei es gewesen, dessen Fall ins Wasser sie hörte, so brauchen wir uns nur vorzustellen, in welch zerstörtem Licht Georg die Geschehnisse und Zusammenhänge sehn mag, um mit dem Scharfsinn seiner Krankheit alles zu erraten und – auf sich zu beziehn; sich also für schuldig zu halten am Tode seines Vaters. Was dem Außenstehenden nur eine wenn auch furchtbare Verstrickung von Umständen zu sein scheint, dahinein fühlt sich ja der selber Betroffene mit Leib und Seele gerissen, der Kranke sieht Krankheit überall, und wer schuldig sein will, Schuld.

Magda läßt Ihnen tausend Grüße sagen, sie leidet schwer unter ihrer Ohnmacht, die Neuheit ihres Zustandes läßt sie sich auch für hülfloser halten, als sie ist. Sie läßt Sie bitten, doch ja Georg unser Kommen rechtzeitig anzumelden. Möglicherweise ist er ja ganz unzugänglich. Wir werden, denk ich, am 1. fahren.

Ich nehme so von Herzen teil, lieber, verehrter Herr Doktor, an Ihnen und Ihren Sorgen und grüße Sie mit: Auf Wiedersehn! Ihnen von Herzen traurig zugewandt!

Renate Montfort

Georg an Magda

Aber so viel Zartgefühl scheint mir fast übertrieben, o edle Seele! Ich eile, mich durch diese Zeilen nachträglich als meinen Gast in Deinem Eigentum zu bekennen, nicht mehr als Bogner, den ich plötzlich von weitem hier aufgetaucht entdeckte, – ich mocht ihn nicht sehn. Daß Helenenruh Dein einziges Haben ist, dürfte mir bekannt sein, während mir die ganze bewohnte und unbewohnte Welt zur Verfügung steht. Dein Ergebener muß Dich jedoch bitten, ihn der Einsamkeit zu überlassen, die er für seiner nötig erachtet. Dieser Wink dürfte genügen, da mir bekanntermaßen freisteht, eine Annäherung, die als feindlich betrachtet würde, dadurch zu vereiteln, daß er sich in andre Gegenden dieses mit Recht so beliebten orbis picti begiebt.

Es verbleibt mit besonders herzlichen Grüßen in seiner Schuldigkeit:

Georg

Von Georgs Hand geschrieben

Jener, vom bekannten Baron Münchhausen mit dem Schwanz an eine besondre Eiche genagelte besondre Fuchs, als welcher durch Peitschenstreiche veranlaßt wurde, sich zu entfernen, den durch Gewohnheit lieb gewordenen Balg jedoch an Ort und Stelle zu lassen, ist eine immerhin wollüstige Vorstellung für die ins Fell der Gewohnheit eingewachsene Seele. Denn siehe da: nachdem es verwehrt ist, an Ihn zu schreiben, dessen dreimal geheiligten Namen der feurige Makkabäer zerriß und in die Winde streute, – was bleibt mir übrig, um den Tag zu ertragen, der sich inzwischen anstatt bisher üblicher sechzehn bis siebenzehn Stunden deren vierundzwanzig zugelegt hat? ›Ein Rätsel ist Reinentsprungenes‹, sagt Hölderlin, zum Beispiel der Schlaf. Die meisten Menschen üben ihn bei Nacht aus; ich nahm ihn in kürzlich erst sich verabschiedet habender Zeit wie so eine besondre Arznei, alle Stunde einen Eßlöffel voll; aber nun hat mir so ein besondrer Beelzebub von hinterlistigem Satan die Flasche verstochen, und wo finde ich dieselbe? – Meist schleicht er sich abends herein, verabreicht mir einen Löffel voll – damit die süße Gewohnheit nicht schwinde! – und bleibt für den Rest aller Stunden unsichtbar. Was also bleibt mir? Ach: zwischen Leib- und Seelenonanieren blieb dem Menschen nur die bange Wahl! Aber so sei sie gewählt, die süße andre Gewohnheit des schriftlichen sich Niederlegens aufs platte Plättbrettbett des Papiers: das Schreiben, nicht wegen der besondren Unsterblichkeit, nicht wegen des süßen Pöbels, sondern ganz allein sui ipsius causa, um des Schreibens willen! Es ist Wollust, der eigenen Seele liebzukosen, zumal wenn sie leidet, und zugleich ist das Schreiben so ein förderliches Purgativ, ein besondres Sieb sage ich besser, den weichen Brei von Allerhand durchzurühren zur Beförderung der Erkenntnis. Man denkt zwar in Sätzen, aber merkwürdig: gedachte Sätze haben nie einen Punkt, und ein Punkt zwischen zwei Sätzen auf reinem Papier scheint mir so was unendlich Haltbares, um so mehr, je länger man drauf hat warten müssen.

Ich will einen Nachtspaziergang beschreiben. Die Menschen lassen einem ja koa Ruh net, wie Cordelia selig zu sagen pflegte, also daß man nachts auswandern muß wie die Rattenkönige, alle Seelenschwänze zu einem gordischen verknotet. Übrigens denkt es sich besser bei Nacht, und kurz und gut, beschreiben wir uns diesen wackern Knaben Telemach unter dem paßlichen Motto:

Das Steuer führt' ein Jüngling unruhvoll,
Dem früh des ††† Rat und Hülfe schwand –

folgendermaßen:

Telemach erwacht wie üblich aus befristetem Halbschlaf. Er erseufzt, legt sich auf den Rücken und öffnet, wach und keines Schlafes bedürftig, die Augen in die Nacht. Bald darauf wird über ihm das graue Vieleck der am Tage weißen Zimmerdecke sichtbar; er schiebt sich höher im breiten Bett, erkennt die Schattenrisse der beiden hockenden Tiere, Adler und Löwe, auf den Bettpfosten, dahinter die bleichen Streifen der Fenstervorhänge und dazwischen das dunkle Rechteck der offenen Tür zur Terrasse; dann auch die dunklen und großen Flecken der Schränke und die weißen der Türen. Im Glase des Türflügels draußen glitzert es bläulich. Telemach – oder sagen wir kurz T.; kann auch wieder Topf heißen – schiebt sich bis fast zur Rückwand des Bettes hinauf, sitzt in dem großen Achteck des Raums und fröstelt. Draußen rasselt es eisern, der Uhrhammer in der Höhe fällt hell schmetternd, ein Mal, dann ist alles still. Halb zwölf. – T. seufzt vermutlich wieder. Nun wieder die Nacht, die ganze lange Nacht bis zum Morgen – und was dann? – Es wird heller und heller um ihn, die dunklen Schränke sind nun körperlich sichtbar, die Maserung, Kanten und Beschläge, und vor der Tür draußen ist die graue Fläche der Terrasse erschienen und, dunkel im Zwielicht, der Schattenriß einer großen Steinurne mit Früchten und Blättern auf der Brüstung. Das ist besonders still.

Im Dorf schlafen die Bauern eng und heiß in ihren karierten Betten. Die harte Weckuhr tickt durch die Schwüle, sie stöhnen im schweren Schlaf und schnarchen. Eine Kuh brummt im Schlaf, ein Huhn gackert im Traum, niemand hört den Spitz, der mit rasendem Geheul auf die Decke seiner Hütte sprang, weil draußen Schritte hallten, und der Hund kriecht wieder in seine warme Höhle, knurrt, muß noch einmal blaffen, dreht sich um sich selbst und fällt hin.

T. sitzt und wacht, lauscht. Die Nachtstille singt in seinen Ohren, es rauscht leise im Park, die See ist nicht zu hören.

Hier, denkt er, lag einer des Nachts, und wie oft wohl wachte er auf und glaubte über sich Schritte zu hören, ruhelos, ruhelos, so leise, ein Huschen, hin und her streifend, hin und her … T. lauscht, alles bleibt still, er sieht den Schatten einer Hyäne, den hochgebogenen Rücken, schieftrabend in der Finsternis, nun funkeln grünlich, bläulich die Lichter, er hört die Pfoten trotten, er riecht … Das war Mama, denkt er matt und gespenstisch, das war Mama … Zwanzig Jahr Pein und Sehnsucht und Gänge, Gänge im Finstern, und dann – nichts mehr; der Tod. – Wie ich damals, denkt er, meine Gedichte fand … Mein Sohn war klein, und nichts verstand … Und sie lag und lächelte grade genug. Wenn man nachgrübe und den Sarg öffnete, würde man ihr Lächeln unversehrt darin finden, – und das war ihre Genugtuung, so viel zu lächeln. – Die Umrisse der Insel erscheinen ihm finster, die Bäume, er sieht ein bleiches Gesicht unter der Buche liegen wie eine Maske, es lächelt, oben saust der Herbst und reißt Blätter aus den Kronen, sie fährt fort zu lächeln; der Winter deckt alles zu, sie lächelt fort; im Frühling liegt ihr Lächeln unter den ersten Krokus, den langen Sommer lang lächelt sie fort, ganz für sich allein …

T. fröstelt, rutscht wieder tiefer im Bett und steckt die Arme unter die Decke. Es waren viele Tote. Esther – Sigune – Cordelia – Mama … Alle schon wieder weit fort, und gelernt hatte er nichts. Nur der Eine … T.s Brust schmerzt.

Warum lebe ich noch? Telemach stellt sich wieder einmal vor, er läge begraben. Alsbald erscheint auch der Platz in A., die Bahnen fahren, Menschen eilen kreuz und quer, die Spiegelscheiben der Auslagen glitzern, aber es quält nicht mehr wie vor einem halben Jahr. Es war niemand mehr da, von dem es schmerzlich wäre Abschied zu nehmen, oder ihn lebend zu denken, beschäftigt wie immer, während man tot ist … Renate? – Er fühlt sie nicht mehr.

Ich sollte wohl, denkt Telemach, ein Ende machen. Aber da ist zum Beispiel das Land. Brauchte es ihn? Jener Birnbaum würde ihm schon einen besondren Telemachschwung versetzen. T. sieht den stämmigen Mann aufgeregt im Zimmer hin und her laufen, eine Hand im Ärmelloch der Weste, fuchtelnd mit der Zigarre in der andern, niesend und prustend, und er schreit: Und wenn wirs so einrichteten, daß es an Preußen fiele, – no – was denn? no? was denn? T. wußte es nicht. – Hatn dazu dein Vatter sich sein Lebtag abgerackert, un dein Großvatter, un dein Urgroßvatter vielleicht? Du bistn Literat, Hoheit, du hast gar keine dynastischen Gefühle, nee, aber gar keine! – T. lächelt und bestreitet es schweigend. Ich wills ja versuchen, beschwichtigt er sich selbst, ich bin nur so müde und innerlich kraftlos. Die Länder sind so gut im Stande … Das heißt Beuglenburg? Und sie würden Schley dort nicht sitzen lassen, diese Preußen. Ach, nun kamen die Wahlen! Früher war die Sozialdemokratie unter der Hand unterstützt, und – und … T.s Kopf tut ihm weh. – Ich kann noch nicht, ich kann noch nicht! – Er wälzt sich fieberisch und atmet beklommen. Es ist, denkt er, wieder die alte Angst, wie in Berlin. Berlin war nicht schuld, sondern mein eigenes Krüppeltum. Punkt. Toter T.punkt.

Er schleudert die Decke von sich, zieht die Schlafschuh an die Füße und hockt schlottrig auf dem Bettrand. Es ist nun ganz hell umher, dämmrig, doch alles deutlich erkennbar. Den Kopf drehend, sieht er über sich, überm Kopfende des Bettes die Figuren des Bildes Emmaus, den einfallenden Lichtstrom, am Tische Christus und die erschrockenen Beiden, dahinter die Nacht.

Ja, denkt er verwirrt, ich kam zu allem zu spät.

Er schlürft eilig zur Glastür, friert im Kalten, lehnt sich an den Rahmen und raunt: Was soll man denn tun? Man fährt ins Dasein hinein mit feuriger Schnelle, findet alles vorbereitet und ist es von Ahnen und Urahnen her gewohnt, eh man es besitzt. Da erkennst du dich selber, aber schon steckst du so tief im Gewohnten, daß kein Riese dich ausreißt. Wenn ich Verse machen will, und wäre ich Hölderlin, ich müßte anfangen wie Schiller, und zehn Jahre danach merke ich vielleicht, daß Sprache des Verses und Sprache des Umgangs voneinander so verschieden sind wie der Vogel vom Fisch. Ich kleide mich, rede, lache, fahre, spiele, lerne wie die Andern, und längst bin ich in zehntausend unlösliche Zusammenhänge verstrickt, und dies – ach dies wird die letzte Not sein, daß man an Tausenden hängt und nicht steht, und Tausende hängen an mir, und ich komme nicht los zu mir, nicht los zu mir …

Ganz hell aus der Tiefe klagt jetzt ein Kinderweinen, schauerlich anzuhören, und T. zuckt merklich. Ein Gespenstergelächter folgt, ganz schnell: Hahahahaaa! und wieder das plärrende Weinen. – Kauz in der Nacht, End ehs gedacht! – Stille liegt die Terrasse, stille stehen die mächtigen grauen Urnen, besonders, verhaltenen Lebens, atmen, auch die Steinplatten atmen, Schlaf oder das Schweigen … Über dem schwärzlichen Gewipfel des Eichwaldes quillt ein bleiches, silbriges Scheinen im Himmel, ein wenig tiefer muß die Mondsichel sein. Emporblickend sieht Telemach wenige, schwach flimmernde Sternlichter im Dunste der feuchten Nacht. – ›Schaudernd unter herbstlichen Sternen – Neigt sich jährlich tiefer das Haupt …‹

T. macht Licht, geht mit geblendeten Augen ins Ankleidezimmer, erhellt es und legt eilig das für morgen zurechtgelegte Unterzeug, Schnürstiefel, Reithosen und Ledergamaschen, eine braune Lederweste mit Ärmeln an, windet einen grau und grünen Schal um den Hals, fährt in den Rock und fühlt sich einen Augenblick warm und behaglich. Nachdem er das Licht gelöscht hat, geht er leise über die Terrasse in den Garten hinab.

Unschlüssig unten stehen bleibend, zum Hause zurückgewandt, findet er sich plötzlich sehr klein und einsam im Hof der drei mächtigen Fronten mit langen Fensterreihn und kalkweißen Mauern. Unendlich schweigsam und hoch steigen die zwei weißen, schwarz behelmten Türme auf den Ecken in die Dunkelheit; das Ganze, hell und doch seltsam verdüstert im nächtlichen Licht, atmet eine tiefe Gewalt aus, liegt da, ruhig in sich selber, bedrohlich für ihn, der sehr klein ist. Unbekümmert scheint es seine dämmernde Seele bei Nacht zu enthüllen; es dehnt sich, atmet vielfach, sammelt Essen und Fenster, Türme und Dächer, Simse und Mauern in eine strotzende und alte Gesundheit und ist immer bereit zu dauern. Heiliges Kindheitsland, wo bist du? zieht es da schmerzlich durch seine Brust. Jählings ist das Haus umnachtet und fremd, und er geht davon, den Kopf gesenkt, verloren in alte Erinnerungen.

Denn zum Beispiel was tun wir inbezug auf unsre Kindheit? Heraus reißen wir uns an den Haaren, ganz genau wie eben jener Baron Münchhausen sich an den Haaren zerrte aus dem Sumpf mitsamt seinem Unkas, bloß daß sie kein Sumpf ist, diese Kindheit, sondern – das Paradies. Geschah es nicht hier? T. wendet sich vermutlich und murmelt, den dämmrig erkennbaren Weg durch das Eichenwäldchen hinunter blickend: Weiß ichs nicht, als wärs heute gewesen? Hier auf der Terrasse brannte der bunte Lampenschirm und saß Bogner; und dort unten am Gatter stand ich, wußte nicht, was fort war aus mir, und war selber stillschweigend fortgegangen aus meiner Kindheit zu Annas Bett.

Da zwingt er sich mit Gewalt durch den Spalt zu einem kindlichen Aufenthalt.

Der Kaufmann in Böhne hieß Sengstaak, ein Name, den ich als Junge niemals aus dem Gedächtnis in die Luft schreiben konnte. In allen Ferien einmal war eine Monatsrechnung zu bezahlen, das tat Onkel Salomon selber und nahm uns mit. Im Laden war die Diele mit weißem Sand bestreut, durch eine geriffelte Glasscheibe sah man Herrn Sengstaak an einem Stehpult schreiben, und wir zitterten, er möchte nicht merken, daß wir da waren, denn dann bekamen wir ja keine Cakes, und einmal gab sie uns der Ladendiener, aber das war längst nicht so schön. Kisten standen da mit eingewickelten Apfelsinen, Fässer mit Mehl, mit Margarine, mit Butter, Kisten voll Eier, und wie war alles dauerhaft und dick, die Holzgriffe an den Schiebladen und die hölzernen Schaufeln in den Erbsen und Linsen. Über dem Tresen – ja, da wurde womöglich auf dickem blauen Papier ein Zuckerhut zerkleinert, ach, wie war das alles besonders und reichlich und solide! Und oben war es dunkel von ganzen Bündeln in Lagen zusammengeschichteter Tüten, rechteckiger und spitzer, brauner, blauer und roter, und sie hatten alle ein schwarzes Wappen als Aufdruck zwischen zwei wilden Männern. Ja, vor der Tür, da war ja der mächtige goldene Mohr mit bunter Federnkrone und einer Zigarre zwischen den Wulstlippen. Aber über den Düten, noch höher, war es finster wie ein Gewitter, von tausend Würsten und Schinken, und wie das roch nach Rosinen und Gurken und Vanille und Gewürznäglein, und geheimnisvolle Leitern lehnten im Winkel oder wurden von kleinen neugierigen Jungen mit wasserblanken Haaren schwierig hin und her getragen. Dann kam Herr Sengstaak aus dem Kontor, das ich nachher in Soll und Haben wiederzusehn glaubte; er hatte ein rotes längliches Gesicht, kleine Augen und Falten unter dem Kinn, rieb sich die Hände und sprach unverständlich mit eigentümlichen Bewegungen des Kinns. Er beugte sich über den Tresen, griff Anna und mir mit großer Hand unters Kinn und holte, während er immerfort mit Onkel Salomon sprach, einen der großen blechernen Kasten mit Cakes herunter und hielt ihn uns offen schräg entgegen, und jeder nahm einen kleinen Cake heraus, aber das war nicht alles. Nun wurde ein großer, brauner Papiersack abgerupft, und wie wundervoll war das, wenn Herr Sengstaak mit dem einen Arm hineinfuhr, mit der andern Hand die eine Ecke weich eindrückte, dann ganz leicht die Tüte herumwarf und die andre Ecke einknickte, und dann kam ein Blechkasten nach dem andern herunter, und die Tüte wurde voll – nicht ganz bis oben, es blieb noch genug Papier, das dann auf wundervolle Art zu parallelen Streifen zusammengelegt wurde, und dann wurden sie nach innen umgeknickt und festgedrückt, das Paket auf die Seite hingelegt, und dann kam Bindfaden aus einem verblüffenden Ding heraus, und das Paket flog links herum und rechts herum, und der Bindfaden schlang sich darum, es war herrliche Zauberei, ein Holzknebel war mit einmal da, wurde in die Schlinge geschoben, und dann wurde es mir überreicht. Dies war unser heiliges Recht, Kekse – wir sagten Kekse – von Herrn Sengstaak, aber eine Sorte war dabei, die mochten wir nicht, die hießen Dextrinkeks, denn so schmeckten sie, und die kriegte Mama.

T. denkt hierauf gebeugt, er müsse damals unmenschlich glücklich gewesen sein, daß all dies sich ihm eingebrannt habe, wovon er damals doch nichts wahrnahm, denn immer war er ein blinder Junge und hatte niemals etwas gesehn, wenn er gefragt wurde. – Oder ist das ganze Glück wirklich dieser Augenblick, wo ich es so brennend wieder fühle?

Er fährt leise zusammen, da er am Weiher steht, gegenüber der Insel, keine fünf Schritt von der Brücke. Die Bäume rauschen und bewegen sich ernst, beklommener atmend geht er zur Brücke, bleibt stehen und flüstert: Hier schläft Mama … Er geht hinüber, achtet darauf, daß seine Füße leise sind, taucht ängstlicher in den finstern Gang zwischen Buschwerk, tastet sich langsam hindurch und tritt ins Freie der leicht übernebelten Lichtung. Drüben, über dem weißlichen Gewoge wölbt sich die schwarze Kuppe der Trauerbuche; auf einmal ergreift ihn schaurige Furcht, sie könnte dort liegen, unter dem Baum; nicht sie, ihr Gesicht, das Lächeln; nicht ihr Lächeln, Cordelias … Und er geht mit knisternden Haaren und schlagendem Herzen hin und bleibt, drei Schritte vom Stamm entfernt, stehn. Auf dem grauen Oval glänzen leise doch sichtbar die beiden Worte: Helene – Herzogin.

Hier unter ihm steht ein Sarg, liegt eine Tote, ein Mensch, – wie war es doch möglich? Er wendet sich schaudernd. – Etwas läuft in die Lichtung hinein, bleibt still, läuft hierhin, dorthin, schnüffelt vernehmlich, ein Igel. Heftiger zitternd faßt er in das Gezweige über seinem Kopf, ein Blatt bleibt in seinen Fingern, sein Arm fällt herab, er zerknittert es und fühlt es feucht; in weiter Ferne kräht ein Hahn. – Sie schläft, flüstert er besinnungslos, dann sinkt er langsam in die Kniee, bückt sich, harkt mit der Hand im Gras und flüstert: Mutter! Mutter! hilf mir doch! Mutter, dein Sohn ist doch da! Ach, sag doch nicht, daß es zu spät ist, sei nicht hart, ich kann ja nicht mehr, ich kann, kann, kann ja nicht mehr! – So wimmert er eine Zeitlang, dann liegt er plötzlich still und steht auf. Seine Hände, sein Gesicht sind naß, er trocknet sich mit dem Schal und geht davon, schamvoll und doch erleichtert. Er horcht stehen bleibend zurück. Sie war entsetzlich einsam dort … Er schüttelt den Kopf und geht weiter, durch den Gang, über die Brücke, am Weiher hin und den dunklen, beschatteten Weg hinab unter dem schwarz und zerrissen herabhängenden Laubwerk der Eichen.

Dort steht er und denkt wieder. Ja, was dachte er wohl? Er dachte nicht – denn das denke vielmehr jetzt ich: welch eine wonnevolle Erleichterung es für mich ist, einmal die ganze Last des Daseins auf diesen vorgespiegelten Telemach abzuwälzen und daneben zu stehn und es immerhin begreiflich zu finden, daß sie ihn quält. – Sondern er dachte vielleicht oder empfand die Höllenqual der zu späten Einsicht. Die furchtbar ironische Bitterkeit der Erkenntnis, daß alles, was heute ist, seit Jahren sich vorbereitete, daß es in all und jedem Denken, Planen und Handeln schon war, – oh ja:

Was vom Menschen nicht gewußt,
Oder nicht bedacht, (!!!)
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

Und weiter, daß nun mit der Erkenntnis alles ein Ende nahm und nur sie noch ist, und kurz und gut: die Schuld selber nur noch. Schuld, nichts als Schuld, an jedem Fleck, auf jedem Schritt; Schuld jeder Weg, jede Bewegung, jede Aussicht und jeder Stern; Schuld jeder Bissen und jeder Atemzug, und kein Gedanke mehr, kein Ausblick und keine Möglichkeit mehr zu etwas Neuem, – nirgend ein Anfang, nur das Dickicht.

Und dann versucht er es wohl, dieser T., und stellt die bekannten Figuren zum tausendsten Male auf, und eiskalt vor rasendem Wissen der Unabänderlichkeit will er sie doch zwingen mit Zauberei, daß sie sich anders bewegen, als sie taten, aber immer steht hier Magda und drüben Cora, hier er selber und da Sigurd und da – ER, und wenn er sie auch zwingen kann, steif dazustehn wie die Puppen, so erreicht er doch niemals, daß er selber es ist, der die erste Bewegung macht, oder Sigurd, sondern immer, immer ist es die Furie.

Und seine Stirn bedeckt sich mit Schweiß, die Figuren schwinden erlöschend, als würde ein Bühnenlicht abgedreht, im Finstern, und er denkt nun:

Daß er seine Schuld am Ende vielleicht übertrieb. Etwas scheint nicht zu stimmen. So viel kann ja ein Mensch nicht schuldig sein. Oder er könnte es allenfalls sein aus bösem Willen, aus angeborener Ruchlosigkeit, wie man gebürtiger Raubmörder sein mag, oder Muttermörder. Er selber aber, er soll dies Gebirge von Schuld über sich gewälzt haben aus keinem andern Grunde als: weil er so war!?

Worauf er dies Rätsel bis zum nächsten Mal sich selbst überläßt und sich weiterbegiebt. – Oh die Nacht ist noch lang!

Krähte nicht, denkt er, soeben ein Hahn? Hähne krähen im Schlaf. Aber ach, wie konnte er es nun wieder aufsteigen lassen fontänenhaft! Frühmorgens in der Kindheit, das Krähen der Hähne, heiser, krächzend, und hell schmetternd, ferne und nah. Sonntag war anders als die andern Tage, obgleich doch an keinem Schule war in den Ferien. Die Straße unter den Fenstern, die Felder daran, das Dorf in der Frühsonne, alles sah gleich anders aus, feierlicher wohl und viel stiller. Man hatte einen schneeweißen Anzug an und ein weißes Kleid mit zwei Hände breiter blauseidener Schärpe. Du lieber Gott, wie hoch war damals eine Roggenwand! Wir verschwanden uns, wenn wir vorsichtig kaum hineintauchten, um eine Kornblume herauszuholen oder eine violettrote Rade, die ich liebte, weil sie so geometrisch waren: vier lange grüne Blattspitzen genau in den Einbuchtungen der kleinen Kelchblätter. Der Sandweg in der Sonne wie hell! Unsre Schatten, ganz dick und kurz und mit ungeheuren Kreisen von Hüten, schoben sich voraus, ach jedes Staubkorn wie hell, die Steine im Staub, jeden einzelnen könnt ich beschreiben, denn ich liebe ihn, Brocken von rotem Klinker, halb vom Sand verschüttet, und die Krusten der Wagenspuren, und scharfe Chausseesteine, mit denen man gut schmeißen konnte, und runde, geschliffene von der See, und dann die großen, weiß übertünchten Steinbrocken am Wegrand, – ach, nur Steine, und was hatten sie Leben damals und Bedeutung! An diesen weißen kletterte aus der Grasnarbe die vielköpfige kleine Schlange der Winde mit schönen, sehr weißen Kelchhäuptern; rote Kleepflanzen wuchsen da, es waren kleine grüne Oasen von niedrigem Dreiblätterklee, und wir suchten bei jeder ein Weilchen nach einem Vierblatt. Immer schien die Sonne, nur damals schien die Sonne, ein einziger Vormittag war so lang wie ein Sommer von heut, und dann hörten wir die Lerchen. Oh die Stille nun, diese Stille überm singenden Korn, und in der Stille überall, unaufhörlich, immer wieder anschrillend, ganz hoch oben das Lerchengetriller, immer mit neuem Anlauf: ziziziziziziiih! ziziziziziziiih! – Und insgeheim glaubten wir doch immer, daß die Lerchen im Korn säßen, wir sahn uns die Augen blind im flimmernden Blau, aber niemals haben wir eine Lerche gesehn. – Dann kam –

T., denke ich mir, findet sich jetzt am Gatter, das, hell im nächtlichen Licht, als habe es ihn lange erwartet, ihn unsichtbar ansieht aus dem grauen Holz seiner Stangen. Er lehnt sich darauf, sieht oben am Himmel die dünne Mondsichel im Fahren leicht durch das fließende weiße Gewölk schneiden, sieht die dunklen und doch erhellten Wiesen und die schwarzen Linien der sich kreuzenden Hecken, aber – – aus dem schwindenden Dunkel dieses Grundes flattert ein Kohlweißling taumlig den glühend heißen Sandweg hinunter, hin und her über die Wagenfurchen, den Hügel hinauf, – er hört Annas schreiendes Lachen und sein eignes, atemlos hinlallend, wie er später Jungens hat lachend rennen sehn, im Laufen zusammentaumelnd, lachend nur Lachens wegen, laufend nur um zu laufen, – und dann liegt man da, der weiße Anzug sieht bejammernswürdig aus in einer braunen Staubschicht, aber – T. schreckt auf, da wiederum, jetzt gerade über ihm gellend und überlaut das Gelächter schallt, mauzt und weint. Er öffnet das Gatter und geht hastig den getretenen Pfad über die Wiese zum Knicktor; das senkrechte Brett über den Stufen sieht ihn wie das Gatter aus dem Dunkel mit seltsamem Glanz verhaltenen Lebens an, in sich geduckt wie ein ertapptes kleines Tier, das aber keinen Angriff befürchtet, denn es ist umgänglichen Charakters. Telemach aber bleibt stehn und heftet ihm eine Erinnerung an. Hier leuchtete Annas Haar über der Dämmerung, und sie sagte: Ach, es ist himmlisch! – Das Kind, das so sprach, habe ich niemals wieder gesehn …

Beim Ersteigen des Deiches fällt er hintenüber, muß sich nach vorn werfen und erreicht auf Händen und Füßen im nassen Grase die Höhe, wo er sich zu tiefem Erstaunen über einem totenstillen weißen Felde befindet, – Nebel, weißem, lautlosem, regungslosem Nebel, der die ganze See bedeckt. Nur tief unten, am Fuß der Deichmauer, sind die schwarzen Pfahlköpfe der Buhne zehn Schritte weit sichtbar, dann ist nichts mehr als Nebel.

Oben am Himmel segelt die bläuliche Mondsichel durch weißes Gewölk. Die Tiefe aber zieht T. besonders an, er setzt sich und klettert mit Absätzen, Händen und Gesäß die schräge Mauer hinunter, springt auf festen Ebbeschlamm, zaudert und schreitet in den Nebel hinein.

Es ist tiefe Ebbe. Der Mond wurde zu einem bleichen Fleck im Nebel, der alsbald über ihn hinzog; er geht selber in einem dunklen Kreis, der Nebel bleibt stets ein wenig vor ihm, zurückgehaltenen Scharen sehr zusammengedrängter Gestalten ähnlich, die sich manchmal bewegen, nicht einzeln, sondern stets im ganzen. Jetzt wird der Boden weicher, und jetzt – da ist Wasser, er riecht, er fühlt es. Was sitzt denn dort? Kleine, dunkle Gestalten hocken … Ach, hier sitzt der Tütvogel im Nebel am Wasser und schläft, – zwei, drei kleine Gesellen. Nun bewegt sich einer, ein grauer Schatten schwebt, – auch der andre, der dritte; Flügel rauschen leise, sie sind verschwunden, und gleich darauf fällt ein leiser, klagender Schrei von oben. – Wie die Seelen am Acheron im Nebel … denkt Telemach. – Es plätschert. Hier ist Gewässer, hier, ungeheure Meilen weit die tiefe See, satt von einer Menge Land, das sie eingeschlungen hat, Marschland und die Inseln und Halligen, Frauen und Kinder, Kirchen und Gehöfte, Rinder und Schafe, Eichenwälder und die langen Deiche. Es gurgelt im Schlick, die Flut regt sich. T. fühlt seine Sohlen langsam einsinken, dreht sich genau um und geht zurück. Er geht rascher als beim Kommen, etwas kommt hinter ihm her und macht ihn eilig, sein Herz klopft, wie lange dauert es bis zum Deich! Er läuft fast und läuft so, erleichtert sich auslachend, gegen die mannshohen Buhnenpfähle von der Seite, ein Zeichen, daß er doch schief gegangen ist, worauf er die Deichmauer wieder hinanklettert und oben weitergeht. – –

So, ja so war es in jeder Nacht. In der letzten aber war auf einmal ein rotes Licht über dem Nebelfeld. Ein Schiff? im Nebel so nah? Unmöglich. Ja, wohnte denn jemand auf Hallig Hooge? – Das Licht blieb, unverrückbar, stille scheinend über das Nebelmeer. Hallig Hooge lag dort.

Hallig Hooge, dachte Telemach, wir durften niemals dorthin. Wenn wir mit Onkel Salomon segelten bei Landwind, sahen wir die grüne Insel vom weiten, und er tat uns wohl den Gefallen, herumzufahren und uns das gewaltige grüne Gebirge der aufgetürmten Deichmauern sehn zu lassen, einen Baumwipfel niedrig darüber und den roten, plumpen Rundturm der alten Sternwarte auf dem Norddeich. Olesland … Wie mochte doch der Name Hallig Hooge aufgekommen sein, nachdem vor Zeiten nur die winzige Grasoase so hieß, die landeinwärts davor lag? Einmal beim Kreuzen auf der Rückfahrt sahen wir das langgestreckte Haus mit schwarzem Strohdach auf der Wattseite, wo es flach und offen war, und kaum noch sichtbar in der steigenden Flut das wallende Gras von Hallig Hooge. Olesland, erklärte Onkel Salomon geheimnisvoll, darf keiner mehr sagen. Er verriet uns nicht weshalb, er war nicht für Schauergeschichten, wir bettelten umsonst, denn Olesland und Hallig Hooge – beides klang so schaurig! Aber Domina verriet allerhand. Auf Hallig Hooge war Großvater gestorben, und der Urgroßvater war da umgekommen; es schien beinah ein Schicksal, und ich habe als Junge manchmal nachgedacht, ob – jemand – auch dort sterben müßte. An mich dachte ich damals noch nicht. Und Domina erzählte vom ›Dränger‹ …

Im Herbst, wenn die Nebel kamen, durfte man nicht an der Außenseite des Deiches gehn, wenn Ebbe war. Denn dann kam der Dränger. Auf einmal erschien eine Gestalt im Nebel, seitwärts, oder auch zurück, am Deich, und man entsetzte sich. Ja, da konnte man wohl rufen, wer hörte das? Damals, als der Dränger noch umging, war Oles –, war Hallig Hooge noch ganz vom Deich umschlossen, ein Inselbollwerk, das sich gegen die See hielt, eine kleine halbe Segelstunde vom Land, – aber merkwürdig, zu sehen war es nie, bei keinem Wetter. Domina sagte, das läge an der Spiegelung. – Anno Sechzehnhundertvierundneunzig, die große Flut … Da verschwanden drei große Inseln und siebenzehn große und kleine Halligen spurlos in der See, Hallig Hooge aber hielt stand. – De ole Graf –? Nach ihm mußte die Insel Olesland genannt sein, aber gerade über ihn fand sich in der Chronik nicht eine Spur. Er muß ausgerissen sein aus dem Gedächtnis wie Olesland, – ja, von wem hörte denn überhaupt ich den Namen? Es muß doch wohl Domina gewesen sein. – Ja, damals also hatte Hallig Hooge noch sieben Hügel, die nach den Hügeln Roms genannt waren von einem gelehrten Mann, – wie hieß er noch? Archivarius Pontifex, Brückenbauer, Silas Pontifex hieß er. Auf dem Palatindeich stand der Deichhauptmann und rief alle seine Teufel zu Hülfe gegen die Flut, aber das half ihm nichts, Aventin und Esquilin und Palatin wurden nacheinander weggerissen, und als der Palatin stürzte, warf Deichhauptmann Waldemar Montanus sich kopfüber hinterdrein. Danach war die See gesättigt und zog sich zurück, aber im Abrollen brüllte sie noch einmal auf und nahm die ganze Wattseite mit fort samt dem Cälius. Ja, damals hörte das Watt auf, Watt zu sein, die See mit ihren Heeren ging geradewegs das Festland an und hämmerte auf die Deiche, – bloß nach einigen Tagen kam Hallig Hooge zum Vorschein wie eine Nachgeburt des Unheils, der Name Olesland verschwand, und Waldemar Montanus ging dort um und drängte die Menschen in die See. Auf den noch übrigen Hügeln starben die Bewohner aus, Viminal … ja, Viminal und Quirinal und Capitol müssen sie ja wohl heißen. – Die See fraß einen nach dem andern, beim Fischfang kamen sie um, manche auf ganz fremden Meeren mit großen Schiffen, Waldemar Montanus paßte auf, – er lockte ja auch den fremden Reisenden zu sich, anno Siebzehnhundertneunzehn soll es gewesen sein, der nicht an den Dränger glauben wollte, – in der Chronik stand, daß es viel Aufsehens erregt habe, denn damals war doch die Wattseite schon offen; aber die Leute sagten, in den Nächten, wo Waldemar Montanus sich zeigte, wäre die ganze Insel wieder wie einst, der Deich ringsum geschlossen, und der Dränger, gegürtet mit Grauen, ließ den Furchtsamen nicht an den Deich, er mußte tiefer und tiefer in den Nebel hinein, am Ende kam das Entsetzen, und er rannte in die steigende Flut …

T., besonders durchschaudert, erschrak vor einem riesigen, schwarzen Schattenkoloß, der plötzlich vor ihm stand. Aber es war nur Lornsens Mühle, und sie war gar nicht so nah, mindestens hundert Meter landeinwärts stand sie auf ihrem Hügel, auf ihrem weißen Unterbau, zwei schwarze Flügelarme mächtig drohend in Lüften. – Da unten in den Wiesen lief Jason al Manach heran, Magda lag dort in ihrem hellroten Kleid …

T. gewann sich wieder in dem Gedanken, daß unmöglich dieser immer gleiche, liebliche, freundliche Jason wie ein Don Quixote die Mühle attackiert haben könne, – doch konnte er lange die Augen nicht abwenden von der unsichtbaren Stelle in der Dunkelheit, wo sie gestanden hatte und geschossen, dann umfiel und vor ihm lag, als wäre sie selber getroffen …

Langsam erlosch alles in T.s Hirn, während er sich umdrehte und wieder das rötliche Licht über der Schneefläche des Nebels gewahrte. Wer hauste denn dort und hatte ein Licht brennen mitten in der Nacht? – – Georg, der Astrolog, hatte ein furchtbares Bollwerk von Deichen und Buhnen aus Hallig Hooge gemacht, hatte die Sternwarte bauen lassen, das Jupiterhaus für sich selbst auf dem Capitol und das Gesindehaus auf dem Viminal oder wie er nun hieß (ich entsinne mich eines Plans der Insel, sie hatte Bollwerke wie eine Festung, Bastionen und Vorsprünge und über vierzig Buhnen bei einem Umfang von einer guten halben Gehstunde). Niemand wollte wissen, wie er gestorben war. Er hauste einsam mit seinen Sternen; mit dem Tage, wo Trassenberg seine Selbständigkeit verlor, verschwand er dorthin, sein Sohn kam jung um, der Enkel starb wieder auf Hallig Hooge, – seit – – achtzehnhundertfünf –, ja, fünfundsechzig war es wohl, war Hallig Hooge unbewohnt geblieben. Dann bin ich wohl an der Reihe, dachte Telemach erbebend, und das Licht ist nur da, um mich zu erinnern und zu rufen …

Er schüttelte alles ab. Ich frage morgen Birnbaum, was es mit Olesland ist, und dann fahre ich selber hin, sagte er sich im Weitergehn, die weiße, chaussierte Straße hinunter neben der Pappelreihe. Doch hatte er es nun eilig, wieder ins Haus zu kommen, stockte nur einmal im Hofplatz vor dem Verwalterhaus, da der Wolfshund lautlos auf ihn zusprang, aber er ließ sich leise knurrend streicheln und ging wieder davon, T. nachsehend, der durch den Heckengang das Rasenoval erreichte und bald am Fuß der Terrasse stand, wo nichts sich verändert hatte, – doch, die Urnen warfen nun Schatten, sah er im Aufwärtssteigen, und da war ja ein Lichtfaden im Laden! – Onkel Salomon war noch an der Arbeit. T. war besonders gerührt. Indem er die Uhr zog, schlug über ihm der Uhrhammer einmal an; es war halb zwei.

Er schloß leise die Tür zum Vogelsaal auf, wandte sich im Dunkel nach links, stieß, vermut ich, schmerzlich mit dem Schienbein an einen Stuhl und erreichte die Tür. Leise öffnend trat er ein.

An der langen Wand der Aktenregale brennt die elektrische Lampe unter ihrem grünen Blechtrichter und überstrahlt den Wust von Papieren, Aktenstößen und Mappen und Glanzpapierdeckeln, rot und gelb und blau. Davor, den grauen Kopf auf dem rechten Arm, der auf der Schreibtischplatte liegt, schläft der alte Salomon; der linke Arm hängt herunter, zwischen zweitem und drittem Finger steckt die erloschene Zigarrenhälfte. Der papierne Berg über ihm scheint sehr sorgsam auf seinen Schlaf zu passen, – das Hörrohr über dem Telephonapparat ruht still wie ein Kahn auf hoher See, in der Nähe schwimmt als Boje, braunglänzend, die runde Platte der Briefwage. – Ja, nun braucht es Posaunentriller und Böllergeheul, wenn er nicht von selber aufwachte. Der alte Mann atmet laut und tief. T. geht, aus Ehrfurcht mehr als aus Vorsicht, leise über den Teppich zu ihm hin, gerührt und beschämt seine Krankheit verwünschend, und hat, als er sich über den Schläfer beugt, das Gefühl, dies dünn emporstehende, lichte Haar, durch das die Kopfhaut glänzt, so daß er die Haarschatten hätte zählen können, küssen zu müssen. Es geht so nicht weiter, denkt Telemach, aber Mentor läßt sich ja nichts aus der Hand reißen, und wie soll ich wissen, wer die Arbeit machen könnte, wenn er mirs nicht sagt? – Unter dem Arm des Schlafenden sehen gelbe Foliobogen hervor, ein weißer zuoberst, Telemach kann lesen: M. H.! Im Auftrage und in Stellvertretung Seiner Königlichen Hoheit und so weiter erkläre ich hierdurch den Landtag für wieder eröffnet … Ach so, denkt er, Xylanders Vorlage zur Begutachtung … Er klappt das Blatt in die Höhe und entziffert die kaum leserliche Bleistiftnotiz: Entw. z. Umw. v. T. i. prov. Landesdir. n. br. M. – Was? Das hieß – –, ja, das hieß? Er wollte Trassenberg in ein Landesdirektorium nach brandenburgischem Muster verwandeln … Keine üble Idee, das würde allerhand Entlastung geben. Die ganze Verwaltungsschikane käme in eine Hand, und es bliebe für mich, – ja für mich bliebe eigentlich überhaupt nichts mehr übrig als die persönlichen Geschäfte, und die macht Birnbaum. Telemach denkt angestrengt nach, aber um so heftiger weicht alles vor ihm zurück, und er befindet sich bald völlig im Leeren. Minutenlang geistlos starrt er so auf Mentors Kopf … Willenlos hebt er diese und jene Mappe auf und findet zum Beispiel eine zum Einklemmen mit breitem festen Rücken und der Aufschrift: Täglicher Einlauf. Die behält er in der Hand, sieht sich nach einem Stuhl um, holt einen vor einer der Schreibmaschinen am Fenster fort, stellt ihn dicht an die Schreibtischecke und setzt sich und schlägt den Deckel auf. Briefbogen und Umschläge sind fest hineingeklemmt, es ist schwierig, mit Hin- und Herdrehn und Aufklappen, zu lesen. Da liest er nun zum Beispiel:

Taubstummenanstalt Göhrde … Einladung zur Feier des Zwanzigjährigen Bestehens und Besichtigung des Neubaus … (Sonderbar! Da war ›jemand‹ vom Gerüst gestürzt, – da wurde ich geboren, ein Jahr später wurde sie … T. gewissermaßen schmerzlich versonnen, liest auf der nächsten, zugehörigen Seite verschwimmende Zeilen:) … ehrfurchtsvolle Bitte, den Titel und die Würden eines Ehrenvorsitzenden des Vereins … bisher in den Händen Seiner hochseligen Durchlaucht … (T. schlägt das Blatt um, den Umschlag, der folgt, und liest:) Annenmagdalenenheim, Stiftung für lungenkranke Fabrikarbeiterinnen … (Ach, Helene gründete sie, als Magda geboren wurde …) Erhöhung des Anlagekapitals, da die jährlichen Kosten … (Das kam doch aus Helenes Schatulle …? Richtig …) Vermächtnis Ihrer hochseligen Durchlaucht als noch nicht zureichend erwiesen … (Ich bin ja Erbe, murmelt T., die Toten, immer die Toten … Er fühlt, wie ihm der Schweiß ausbricht, die Buchstaben flimmern … Krank … krank … krank … tanzt es ihm vor den Augen, er bezwingt sich besonders, – warum: nicht zureichend erwiesen? Ach, es war ja halb abgebrannt, ein paar Tage vor – vor – – vor was? – T. starrt in die grelle Glühbirne, sieht die roten Fäden; vor dem großen Tralla, flüstert jemand ihm zu, und er begreift. Er nimmt bewußtlos die Hand von dem Blatt, schlägt den nächsten Briefumschlag um, senkt die Augen auf die Seite und liest:) Oberförster – – unleserlich. In Blankenheide … einen neuen Plankenzaun notwendigerweise, weil mir sonst die Bauern das Wild totschlagen, was übrigens nichts schaden könnte – ungerechnet, daß sie es meist nicht richtig tot kriegen und ich dann die Schweinerei im Jagen fünfzehn herumliegen finde – (Der schreibt ja einen haarigen Stil, meint wohl noch, jemand vor sich zu haben … Also warum: nichts schaden könnte?) – – herumliegen finde, Klammer, weil es doch kein Mensch abschießt. (Blankenheide? Blankenheide gehörte zu Dannel-Biebereck, Tante Henriette war kein Nimrod, Onkel Anton auch nicht, der Namenlos hatte die Verwaltung und haßte die Schießerei im Treiben. Aber es liegt ja an der Grenze, Schley kann hinübergehn, – richtig! – T. findet im Weiterlesen den Satz:) … da mir die p. p. Beuglenburgschen Bauern wieder ein Stück von Jagen fünfzehn abschneiden wollen, und die p. p. Prozesse … (soll wohl heißen: die verfluchten Bauern beziehungsweise Prozesse?) … ja doch immer zehn Jahre dauern, so möchte ich ehrerbietigst p. p. – (schon wieder! so'n Pepe scheint ihm für alles gut zu sein!) – anraten, die Grenze doch gleich ein für allemal vier Meilen westlich zu legen, indem ich dann Beuglenburgisch werde und ein für allemal die Ruhe habe. (Georg dreht – matt lächelnd das Blatt um. Was kommt nun für ein Fetzen? Er sieht nach der Unterschrift, wie von einer Kindeshand gemalt:) Bombe, Kätner und Kesselflicker, – (ja, sie müssen jetzt doch jeder eine Firma haben … Was will er denn? Kann die Pacht nicht zahlen, – ach, der scheint zu Helenenruh zu gehören. Bombe? Natürlich, der klebte doch Invalidenmarken, und der Sohn war – war Vorarbeiter bei Haupt und Ungefesselt, Dampframmen und … verdiente fünfzig Mark die Woche und war nicht verheiratet.) Kuh gefalen … ale Katoffeln Faul, – liest T. weiter, – Frau Hochgratig Magen Leident … anliegent At – Apothekerrechnung soll das heißen. Georg findet das Blatt. – Opiumtropfen – Opiumtropfen – Opiumtropfen … Lezithin, drei Flaschen, Summa acht Mark neunzig, abzüglich Kassenprozente fünf Mark und fünfzehn Pfennige, – ob ich das zahlen kann? – T. trocknet sich die mittlerweil triefende Stirn, langt einen Bleistift aus der Schale vom Schreibtisch und schreibt: Bezahlen! auf das Blatt; seine Hand klebt beim Schreiben, er muß husten und liest umblätternd weiter: Verein ehemaliger Königinhusaren … 23. Stiftungsfest … Weiter: Elisenhütte, Einladung zur Aufsichtsratssitzung … Verteilung der Dividende … T. klappt die Mappe zu, legt sie leise auf den Tisch und sitzt, das Taschentuch in den Händen; lockert den Schal vorn am Hals und starrt trübe vor sich hin und denkt bloß: Ein Fünftel vom ganzen Einlauf, und schon kaputt …

Wozu all das, wozu? Geld ging hinaus, Geld kam herein! Warum kann ich nicht auf all das verzichten? Birnbaum machts ja doch Vergnügen, er kennt nichts andres, er weiß überhaupt nichts andres, es ist seltsam und unbegreiflich, aber sein Leben besteht darin, und er fühlt sich wohl, abgesehn von seinen Sorgen, die aber nicht durch dieses bedingt sind. Eine Abendstunde mit Dickens, ein Gespräch mit seiner Frau, ein Spaziergang am Schabbesabend, tausend Schritt genau bis Lornsens Mühle, Schachspiel, – das sind seine Freuden, und dann – ja, dann ist ihm wohl das Ganze durchwärmt und vertieft durch Liebe, zu … zu mir … und er würde es nicht fassen können, wenn ich die Hand davon abzöge. Er dient, und es ist ihm Wonne zu dienen, und ich –

Womit es denn nun wohl genug sein dürfte. Das ist ja alles bloße Quälerei.

Es hat aufgehört zu regnen, wie ich sehe, ich hätte Lust, nach Hallig Hooge zu fahren. Also dieser Maler Bogner haust, wie ich nun erfahren habe, dort mitsamt Ulrika, – man trifft doch überall die selben Leute. Vielleicht störe ich ihn. Wer nach Hallig Hooge zieht, den zog vermutlich Einsamkeit. Ich glaube, jetzt schreibe ich ein Gedicht.

Noch ist es hell und rein
Hoch in den Räumen, –
Schon bricht die Nacht herein
Unter den Bäumen, –
Schlafen und stille sein,
Nicht einmal träumen …

Dunkel, o Dunkel, ohn
Arg dir ergeben,
Fühl ich die Gottheit schon
Über mir schweben:
Schlaf, gieb die Mohnenkron',
Sanfter zu leben.

Wacht nun der Himmel, der
Goldengeäugte?
Auge, du fragst nicht, wer
Jetzt dir noch leuchte.
Nacht ist, nur Nacht umher,
Göttergezeugte.

Tief in die Dunkelheit
Antlitz vergraben,
Träume, wie fern ihr seid,
Flötende Knaben!
Abgrund der Schweigsamkeit,
Dich will ich haben.

Und endlich denn am Ende von allem das Unumgängliche: der ewige Sturz.

Auf die Knie an dem Bett unterm Emmausbild, und endlich schrei dich aus, verzweifelnde Seele! Schrei aus die Schuld und den Gram und die Not, immer schrei aus den verbotenen Namen, schrei: Ich kann nicht mehr! schlag an die Brust, jammre nur los, und lasse dich endlich durchstoßen von der verruchten Wollust immer des einen Gedankens: Oh Glück, oh Glück, daß der Träger des heiligen, verbotenen Namens doch nicht war, was er hieß! Daß ich nicht bin aus dem Blute dessen, des Blut durch mein Verschulden vergossen ward! Oh, daß heute mein Glück sein muß, was jahrelang Jammer und Elend war: nicht der Sohn zu sein …

Und endlich das letzte Flehn: Wenn es einen Weg giebt, doch immer noch einen Weg zu dir: gieb ein Zeichen, komme im Traum, erscheine, wie du willst, aber gieb ein Zeichen, daß du noch bist, denn ich glaube es nicht mehr!


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