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Fünftes Kapitel: Dezember

Aus Georgs Papieren

Von Zeit zu Zeit ereignet es sich wohl einmal – zumeist wenn ich sitze und schreibe –, daß hinter meinem Rücken in der Nachtferne etwas mir vorhanden scheint, das ich mehr empfinde denn sehe als: Land. So eine dunkel verdämmernde Fläche nämlich ohne Umrisse, von unsichtbarem Leben überwebt – das Land, das meinen Namen trägt (obwohl wiederum selber ich ihn nicht trage, aber wer weiß das?). Dazu ein Staat, der in hunderttausend Gehirne geprägt ist als das Bild eines Berges, auf dessen Spitze ich stehe.

Und ich denke weiter: Hunderttausend Menschen – was liegt an der Zahl? – sind dort, die an jedem Tage zumindest einmal ein Wort sagen oder von bedrucktem Papier lesen, einen Titel, unter dem sie mich zu fassen glauben. Mitunter, wenn sich ihrer Mehrere zusammentreffen, machen sie ein Bündel aus ihren Köpfen und – nun, aus den mehr oder minder abenteuerlichen oder mitleidigen oder argwöhnischen Vorstellungen, die sie sich machen mögen, ein paar willkürliche herauszugreifen und aufzuschreiben, das hat wenig Sinn. Es kommt auf die Tatsache an, die ja nun fast von einer metaphysischen Bedeutsamkeit ist, denn was ist in Wirklichkeit an mir und ebenso an jenen Erdbewohnern, das diese Art von immerhin besondrem Schauer in ihr Empfinden von meinem Dasein mischt, denn sie mögen mich nun achten oder verachten, mich für mehr oder nur soviel wie ihresgleichen halten, gut von mir denken oder böse: dieser bestimmte Schauer ist immer da, war da von dem Augenblick an, wo ich jenen Titel bekam wie ein Kleid, also daß ich seitdem tun oder denken, sein und treiben kann, was ich will: den Schauer verliere ich so wenig, wie ein Mensch seinen Schatten verlieren kann. Es ist beinah wie mit Gott. Die Welt mag sein, wie sie will, den Menschen darin mag es ergehen, wie es wolle: Gott bleibt ihnen immer Gott, und ob der eine nun sein Wirken darin sieht, daß sein kranker Bruder gesund wird, der andre darin, daß ein Erdbeben kommt, der dritte darin, daß er anstatt den Hals nur das Bein brach, und der vierte darin, daß sein Nachbar an derselben Krankheit starb, die er überstand: Gott bleibt immer derselbe Gott, sie glauben an ihn, und er kann sich auf keine Weise verändern.

Und weiter, was jenes Land angeht, so bin ich es, der darin diesen und jenen, mir ganz unbekannten Menschen veranlaßt, eines Tages mit seiner Familie und aller beweglichen Habe von Süden nach Norden zu reisen, und einen ähnlichen von Osten nach Westen; ja, es geschieht Tag für Tag, daß nach meinen Angaben Leute von einer Stelle weggenommen und an eine andre gesetzt werden, wo wieder Andre erst fortgenommen wurden, die zu einer dritten geschickt werden, und so fort. Sterne und Kreuze aus Metall werden in meinem Namen verteilt und als besondre Geschenke von mir angesehn, Urteile ganz fremder Leute über Andre werden gültig durch meine Unterschrift, und in Kirchen wird für mich gebetet.

Telemach, begreifst du? Sollte es sich jemals verstehen lassen? Verstehen, daß wirklich du es bist, der gemeint ist? Und solltest du jemals nicht jenseit sein können von alledem, sondern darin?

Nein, dies wird niemals möglich sein, weil es niemals hat möglich sein sollen. Die Schnecke wird erst nackend geboren und bildet sich hernach ihr Gehäuse, und ich bin nackend herumgelaufen Jahr um Jahr, aber das Gehäuse, das auf einmal gebildet war, es war nicht von mir geplant, und wer hätte auch von einer Schnecke gehört, für die ihr Gehäuse eine Last ist, die sie langsam zu Tode würgt?

Nur so viel sieht Telemach ein, daß es doch möglich ist, darin zu wohnen für eine Weile.

Da ist ein Tisch, und ich gehe um den Tisch. Was liegt an Tagen? Ich gehe linksherum und rechtsherum, tagein und tagaus, und fange an zu bemerken, daß sich eine Spur bildet in der Farbe der Dielen. Was Schlaf ist, habe ich auch einmal gewußt; nun ist es ein fliegender Rauch, durch den die allstündlichen Bilder wirbeln aus Wachsein in Wachsein hinüber. Es ist nicht genügend Einsamkeit vorhanden. Die Wintersee ist so laut geworden, daß die Andern und ich es aufgegeben haben, miteinander zu reden, – dann züngelt die rasende Ungeduld aus mir, wenn ich sitze und sie sitzen sehe, der letzte bange Rest Menschenliebe windet und verzehrt sich in meinem Herzen, und ich denke, daß ich bald nicht mehr kann.

In eine hohe Flamme zu steigen wie in ein Bad und drin prasselnd zu stehn, müßte das nicht wollustvoll sein? Ich brenne allzeit, und mir wird nicht einmal warm davon. Ich rüttle an den Steinen des ewigen Geduldspiels, aber wie ich die Steine einmal zusammengefügt habe, so stecken sie nun, und keiner weicht von der Stelle. Ich hoffe, rasend zu werden, und bemerke, daß ich mit der Zeit vielmehr in Ordnung gekommen sein muß, denn nicht immer, wenn ich schreibe, muß ich wie ehedem jede Laus von Wort, die durch mein Gehirn läuft, aufs Papier streichen, sondern ich lasse sie sitzen.

Oh Himmel meiner endlosen Tage wie so grau! Wiesen des Sommers und ihre Aurikeln, blaues Wogen des Jugendtags, wart ihr wirklich einmal? Ein Knabe klettert hoch am Sockel der Sonnenuhr, deckt Zeiger und Zifferblatt zu mit dem eigenen Schatten, sucht und wundert sich, nichts drauf zu finden, was ihm die Stunde anzeigt – – es ist keine Stunde, und dies war die Jugend. In der tiefen Scharte meines Fensters sehe ich ein Stück wankender Wasser, grau und voll gelblichen Schaums, ein Hundert Wellenköpfe in jagendem Durcheinander, immer dieselben, die auf mich zutaumeln und unter mir im Unsichtbaren verschwinden, und ich sehe und sehe.

Oh ein Zeichen, das Zeichen gieb, heilige Allmacht! Halte mich doch nicht mehr auf, laß mich doch los! All ihr unendlichen Mächte, was verschlägt es denn, ob einer getröstet wird? Wenn ich auch schuldig wurde an Menschen, so warens doch immer solche, die ich liebte, und ge –, oder hätte ich besser hassen sollen? Ja, war es dies, daß ich lau war, nicht böse, nicht gut, nicht kalt und nicht heiß, und soll ich darum, darum in alle Ewigkeit sitzen zwischen Leben und Sterben?

(Von Bogner)

Das fehlte noch! Heute sagte Bogner: er fände die Welt in Ordnung. Ja, wie soll man da widersprechen? Er hat es entschieden, und nun war es so. Mitten in der Nacht war er aufgewacht und hatte diese Entdeckung gemacht. Erstens: die Welt; zweitens: in Ordnung.

Danach bewies er es mir auch.

*

Es wurde sehr spät gestern nacht über Erzählungen Bogners von Frankreich und Spanien. Später kam er auf einige besondre persönliche Erlebnisse, und dann fand ich mich dabei, wie ich ihm von Cordelia erzählte. Am Schlusse unterließ ich dann nicht eine besondre Darstellung meiner Verschuldung, zu der mir im Laufe der Zeit ein neues Ingredienz bekannt geworden war, nämlich daß ich sie nur aus Lüsternheit suchte, nicht aus Liebe; daß sie mich deshalb nicht für ihr so nahe halten konnte, um ihr Geheimnis zu beichten; daß also, wenn meine Sinnlichkeit schon in früheren Jahren ihre notwendige, regelmäßige Stillung gefunden hätte – und so weiter.

»Der Fluch der Lüsternheit über der Menschheit«, sagte er, »ist der Schatten eines Segens und darum unheilbar. Im Grunde davon wohnt einer der beiden tiefen, alles beherrschenden Triebe, deren einer zielt nach dem Lichte, deren andrer nach dem Dunkel. Niemand liebt wahrhaft das Licht, der nicht auch die Nacht liebte; niemand wahrhaft die Nacht, der nicht auch das Licht liebte. (Darum beginnt Novalis den Hymnus auf die Nacht: ›Welcher Lebendige, Sinnbegabte liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn das allerfreuliche Licht …‹) Im Licht ist das Wissen, im Dunkel das Geheimnis. Wir sehnen uns nach dem Wissen und sehnen uns nach dem Geheimnis. Wir sehnen uns nach dem Verhüllten, das für den Dumpfen das verhüllte Nackte ist. Er will nicht das Nackte, er will das geheime Nackte. Wäre es nicht geheim, so wäre es kaum noch.

»Der aber«, sagte Bogner, »ist der Heilige, der das Geheimnis weiß im Licht.«

Und der, setze ich nun hinzu, ist der Glückliche, der ewig ein Geheimnis pflegen kann – es besitzend, ohne es je zu durchschauen –, dem es selber zur Magie geworden ist: der Dichter.

Hielt ich mich selbst nicht für einen? Heute weiß ich nicht einmal, wie ich davon abgekommen bin. Es vollzog sich die Einsicht wohl mir selber unvermerkt im Wirbel des Übrigen, und nun erst, ganz plötzlich, fühle ich einen Schmerz.

Ich sehe Bogner, wie er war, wie ich noch immer glaube daß er ist, und sehe, daß es ein unmenschliches Glück sein muß, ein Glück über allen Glücken, Dichter zu sein. An jedem Tag die Quellen seines Lebens strömen zu lassen, sich selber hundertfach sichtbar zu sehn und zu haben im erschaffnen Gebilde! Sich im Stande der Gnade zu fühlen, einsam, einzig mit den Wenigen, oh Flügel an die Füße selbst in den erzschweren Stunden des Seins! Was könnte einem Solchen geschehn? Muß ihm nicht alles zum Besten dienen? Muß ihm nicht Honig fließen aus jedem Ding, das er selber erst zur Blüte wandelt, sei es giftig oder rein, gemein oder edel – aus jedem strömt ihm eine, die seine Kraft. Die gehäufte Welt ist sein Thron, seine Schatzkammer das Firmament, er allein besitzt die Erde, da er sie machen kann. Ungeheuer sein Stolz wie seine Demut. Mich faßt ein unendlicher Jammer an, wenn ich der Ärmsten unter den Armseligen gedenke, der Dichter, die es sind und dennoch nicht glücklich. Die eine Begierde haben können, außer der einen, tausend Jahre so leben zu wollen; die nach Ruhm begehren, nach Achtung und Liebe der Menschen, nach Brot. Die das Heilige erniedrigen können, indem sie es zu einem Mittel ihrer Notdurft machen. Denen es nicht Wonne ist, zu dulden dafür, daß sie so sind.

Da an Gott das einzig Wesentliche ist, daß er ein den irdischen Trieben und den menschlichen Zwecken nicht unterworfenes Wesen sei, so giebt es nur einen Menschen, der seiner entraten kann: den Dichter. Er allein muß ja erkennen, daß sein innerster und einziger Lebenstrieb ihn zu einem mit keinem irdischen Nutzzwange verbundenen Tun zwingt, unweigerlich, wider seinen eignen, kleinen Willen, unbeeinflußbar von ihm selber. Wenn er zeugt, so zeugt er wie der Gott: allein um des Zeugens willen. Alle können anders; er muß das Eine.

Ich aber bog den Arm an seinen Knieen,
Und aller wachen Sehnsucht Stimmen schrieen:
Ich lasse nicht – du segnetest mich denn!

*

Damals, als Bogner das Wort ›Geburt‹ vor mich hinstieß wie die Faust mit dem Schlüssel, der den Zugang zu den Müttern eröffnen sollte, mich in meinen Festen schon als Ahnung erschütternd – damals genügte mir der Schlüssel, ich war froh, das Kleinod im Geheimnis zu haben, froh, es nur zu wissen, vom Gedanken an es mich immer wieder süß durchzucken zu lassen. Nun ist mit der Verflüchtigung der Zeit auch die Wißbegierde gekommen, der Zweifel mit seiner Stimme: ganz hinunter gelangst du ja doch nicht, so geh wenigstens tiefer. – Heute fragte ich Bogner:

»Du mußt mir nun sagen, wo der Anfang war. Ich sehe die Kindheit wie eine Wand, mit der alles ein Ende nimmt. Du sagtest das selber. Und was ist das mit dem Geheimnis? Du sagst: der Schauder vor dem Geheimnis sei unsre ganze Lust. Aber warum ist sie das?«

»Ja,« sagte er, »auch ich glaube, daß mit der Kindheit alles ein Ende nimmt, und auch ich habe in diesen Tagen wieder und tiefer darüber gedacht. So laß uns doch einmal erinnern.

»Ich will dir sagen, was meine fernste Erinnerung ist. Zuerst ein schwarzes Unbegreifliches voll Kampf und entsetzliches Grausen. Ein Erwachen dann, ein sanfter, ferner Goldschein; ein Schatten im Golde, und in dem Schatten das nicht zu beschreibend Tröstliche, alles Stillende, Sichere, ein Gesicht, ein Paar Augen. – Solltest du das nie erlebt haben?«

Seine Worte hatten mich in eine seltsame Magie versetzt. Ich glaubte zu sehen, was ich nie gesehn hatte. Ich wollte mich schon wieder herauszerren aus diesem, weil ich glaubte, es sei Einbildung, ich sähe nur, was er zeigte. Allein plötzlich, bei der Vorstellung jenes Schattens und seiner Augen geschah das Seltsame, daß ich ihn sah – nicht aber mit zwei Augen, sondern mit nur einem. Das saß in der Mitte, unter der Stirn.

Der Maler schwieg, ich nahm alle Willenskraft um mich zusammen und dachte. Da geriet ich besondrer Weise in einen Schwarm von tausend wütend wirbelnden Vorstellungen, Bildfetzen ohne Beziehung zur Stunde. Bis dann plötzlich mit einem Ruck dieses riß, und ich sah – Ihn.

Ich war ein Knabe, er hob mich auf, er setzte mich auf sein Knie, und ich – fürchtete mich vor ihm. – Warum das? Ich soll ein wenig geschielt haben als kleines Kind, und ich fürchtete mich vor ihm: weil er nur ein Auge habe. Seine eng beisammen sitzenden Augen hielt ich für nur eines und fürchtete mich.

Es durchsauste mich, als ich es bedachte. Er, immer Er! Er war die Erscheinung, der eingeäugte Schatten, und damals hatte ich keine Furcht. Warum kam sie später?

Ich wollte es Bogner sagen, aber siehe da, ich konnte ja nicht! Wie soll ich seinen Namen sprechen? Kurz und gut, ich sagte ihm so viel, daß ich mich an Ähnliches zu erinnern glaubte.

»Und dies,« sagte er nun, »dies war der Anfang. Wie hieß der Anfang, Georg? Angst. Nun wollen wir an unsre früheste Kindheit denken, an damals, als wir Menschen waren und noch ganz Kinder. Damals war Wald, und Verirrtsein im Wald, und die Dämonen, die hunderttausend Mächte der Angst, die böse Natur. Damals brach in den riesenhaft umgewälzten schwarzen Klumpen, der wir selber waren, ausgedehnt in die Urwaldsnacht und verschmolzen mit ihr, in ihn brach der Morgen hinein. Eine Sanftmut ging hervor, öffnete alles und machte es lind. Licht kam und war tröstlich. Uns segnete die Bläue. Und das war Gott.

»Die Sanftmut, das Heilende, die Sicherheit der Wiederkehr (›Noch niemals blieb der Morgen aus, der lichtend – Das Tal ihr wieder wies, das duftig bläut‹) und die Hoffnung: all das und mehr wurde Gott.

»Und weiter, Georg: Wenn die Pferde einen Gott hätten, wie würde er aussehn? Wie ein Pferd. Wir Menschen gaben ihm menschliches Gesicht, und da in Urzeiten und bis spät hinauf nur der Mann etwas galt, so wurde der erste Gott männlicher Gestalt. Später kamen die Mutter, das Weib, die Jungfrau am Ende im Kleide vom himmlischen Blau.

»Aber ein Tiefers ist in diesem. Denn wer war das, Georg, der am Morgen in unsre Wälderangst trat? Wer war der Tröstliche, der im Lichtschein erschien, als wir Kind waren und vergingen in der Angst unsrer Träume? Der uns anblickte und uns zusprach und –«

Ich bat ihn, zu schweigen.

Er dachte wohl, es seien Trauer und Schmerz um einen Gestorbnen, der mich weich machte, und begann deshalb nach einer Weile an einer andern Stelle.

»Du fragtest nach dem Geheimnis, Georg. Im Anfang war das Geheimnis schwarz, war Angst, und der Schauder war böse. War die Erscheinung minder rätselvoll, minder voll Schauder? – Damals aber mischte sich Angstgrauen und Lichtgrauen, wie Nacht und Tag sich am Morgen vermengen. Geheimnis hob nicht Geheimnis auf, sondern jedes vertiefte das andre, und die ganze Lust der Süße wurde fühlbar erst durch das Grauen zuvor, und das furchtbare Grauen wurde versüßt durch die Aussicht auf Heilung. Schon das Kind, das sich fürchtet, im Dunkel einen Gang hinunterzugehn, lernte es, dieselbe Furcht süß zu finden in Geschichten. Wir waren ein unendliches Gemisch von Anfang her, aber wir lernten viele Teile davon erkennen und sie auszuspielen gegeneinander, immer auf der Suche nach: mehr Süße.

»Am Ende erlernten wir dann das Wunderbare: das Gesetz. Aller Geheimnisse süßestes, erkennbar schon am Antlitz Gottes, vor dem Schwarzes und Wüstenei sich auflösten, sich darstellten gesondert, nicht mehr erschreckend, sondern bekannt – aller Geheimnisse süßestes: die Ordnung.

»Die Ordnung aber ist das Bekannte. Das Geheimnis der Heilsamkeit ist das Wiedererkennen, ist die Sicherheit des Einen, das in jedem waltet und sich gerne verrät. Alle Dinge gingen hervor aus Gottes Hand; in allen Dingen wohnt seine Form. Wie ward da magisch unser Finger, unser Ohr, unser Mund! Morgens tropfte auf uns der Gesang der schwarzen Amsel, und wir horchten, und da war das Gesetz. Im Wasserfall schlief, und wir weckten es auf, das Gesetz. In unserm Gang das Gesetz, in unserm Antlitz Gesetz, im Tier das Gesetz; Gesetz, Bekanntes, Ordnung, Heilung, Süße, Form allüberall. Oh der süßeste Schauder, Georg, den Freund wiederzuhaben nach langen, schmerzlichen Jahren! Oh der süßeste Schauder, das Bekannte wiederzusehn im Wilden, Erschreckenden, Fremden!

»Und dieses wurde das Gute genannt, und alles andre das Böse.«

»Bogner,« mußte ich plötzlich sagen, »noch eins! Du hast einmal ein schreckliches Wort zu mir gesagt; eben fällt es mir ein, du sagtest: Die Menschen sind alle gut; es will sich nur niemand hindern lassen. Ich habe es wohl nie verstanden, aber jetzt sehe ich, daß ich immer daran geglaubt habe. Was heißt es denn aber? Sie wollen also das Gute – aber sie wollen sich nicht hindern lassen. Ja, was heißt das?«

»Habe ich das gesagt?« fragte Bogner nach einer Weile. »Dann wird es dieses heißen:

»Du sagst: das Gute. Giebt es ein ›das Gute‹? Es hat ein jeder sein Gutes, nämlich was er für gut hält, ohne daß irgendeine Beeinträchtigung seines Wesens damit verbunden wäre. So ist auch das, was uns ein Immergutes ist – Eltern, Geliebte, und was du noch willst –, nicht gut mehr, wenn es uns hindert. Wir können nur um unsrer selbst willen sein. Ob wir lieben oder hassen, töten oder uns opfern, verzichten oder erobern, bitten oder befehlen: all dies geschieht um unsertwillen von uns, weil wir so sind und so müssen. Was wir Altruismus nennen, kann nur eine Komponente des Egoismus sein, ob er bis zum Opfer, zur Selbstvernichtung geht oder nicht. Wir können ewig nur auf egoistische Weise altruistisch handeln. Und es wäre die vollkommene Art, den Egoismus zu befriedigen, indem wir ihn in altruistischem Wesen darstellen. Der Mensch kann nur sich selber gut sein; aber er kann sich in der Vollkommenheit gut sein, indem er es gegen Andre ist.

»So gut sein, daß nichts mehr mich behindern kann – das wäre zu wünschen. Es wird nicht gehn. Der Tätige kann nicht nützen, ohne zu schaden. Malen ist gut; aber wenn dein Vater nicht will, daß du malst? Wenn er aus reinem Altruismus überzeugt ist, es sei besser für mich, wenn ich nicht male?

»Darum sagte ich, sie sind Alle gut, denn das heißt: sie wollen Alle nicht das Schlechte; sie wollen sich nur nicht hindern lassen an ihrem Guten.« Er lächelte plötzlich.

»Etwas fällt mir ein«, sagte er dann ernst. »Vielleicht wirst auch du erst lächeln, wenn ich es dir sage, und doch scheint mir, sind wir damit am Ersten und Letzten angelangt. Nämlich: das Neugeborene schreit; ununterbrochen, aus vielleicht gar keinem Grunde, als weil es weiß, daß es schreien kann, schreit es die ganze Nacht. Das vernünftige Elternpaar möchte freilich schlafen, allein was hilfts? Es will sich nicht hindern lassen an seinem Guten, dem Schlaf, aber da es vernünftig ist, einerseits, und eine Liebe hat für das Neugeborene, andrerseits, und vielleicht weiß, daß auch das Schreiende nichts will als sich nicht hindern lassen am Schreien, was tut es? Es läßt sich doch hindern an seinem Guten und steht auf und beruhigt das Kind. – Und dies ist der Anfang.«

Zu alledem – nachdem ich es gehört und geschrieben habe – kann ich nur Eines sagen: so wenig mir irgend etwas wirklich bewiesen scheint von alldem, so sehr muß ich daran glauben. Es hat mich beruhigt auf die absonderlichste Weise. Es ist, als fände ich die Welt jetzt in Ordnung wie Bogner. Ich weiß nicht; es ist mir so, es ist so. Es ist kühl und natürlich, es ist gut. Ich weiß, was zu wissen ist; innerhalb ist alles Geheimnis geblieben, und auch die Grenze rundum blieb Geheimnis wie die Linie des Himmels auf der Erde. Doch die Linie beruhigt. Es macht sicher.

*

Wir waren allein, es war spät in der Nacht, die Stehlampe brannte auf dem Tisch. Er rückte daran, stand dann auf, stand nun mitten im Zimmer, etwas schief, die Hände auf dem Rücken, ging dann ans Fenster und stellte sich davor. Von dorther begann er von seiner Mutter zu erzählen.

Er berichtete erst einiges von seinem Vater, den er als einen Mann schilderte, schlecht und recht, ohne Eigenart, ohne besondere Gaben, ein wenig kleinlich, geneigt, zu ›nörgeln‹ oder ›mäkeln‹, aber mit Maßen und jedenfalls ohne Heftigkeit. Von seiner Mutter sprach er nicht; nicht von ihrem Wesen. Dann sagte er:

»Als meine Mutter fünf oder sechs Jahre verheiratet war, lernte sie einen andern Mann kennen und lieben. Sie sagte es mir selber, es war damals, als ich heimging, vor drei Jahren. Ja, da kam sie in der ersten Nacht, um es zu sagen. Seinen Namen hat sie mir nicht genannt, ich weiß nichts von ihm, als daß er Schriftsteller war oder Dichter, und das ergab für mich freilich ein seltsames Gefühl von Verwandtschaft. Es giebt wohl mehr Kinder, deren Vater nicht der Mann, sondern ein Wunsch ihrer Mutter war. Mein älterer Bruder und ich selbst waren damals schon am Leben. Meine Mutter hatte meinen Vater geheiratet, weil ihre Eltern ohne Vermögen waren, weil sie viel Geschwister hatte, und weil mein Vater durch mehrere Jahre nicht abließ, sie zu nötigen.

»Nun wollte sie sich scheiden lassen. Aber er gab die Kinder nicht her und wollte es überhaupt zu keiner Einigung über sie kommen lassen. Über ein Jahr lang gab es einen furchtbar häßlichen Kampf. Dann erlahmte meine Mutter und wurde, was sie während dieses Jahres nicht gewesen war, wieder die Frau meines Vaters.

»Aber dies ist es ja nicht. Nun stelle dir vor, Georg: eine alte Frau von beinah sechzig Jahren kommt zu ihrem lange verschollenen Sohn, der heimkam. Sie war auch einmal gegen ihn gewesen. Aber nun, wo er kam und sie ihn so gealtert sah, da weiß sie auf einmal, daß er vieles gelitten hat, und da steht ihr eigenes Leiden auf, das sie immer verschwieg, und da muß sie kommen und es sagen und weiß, daß ihr Sohn sie versteht. – Und nun sitzt er vielleicht da und denkt an fünfzehn riesige Jahre, und daß es nun ist, als wären sie nur gewesen, damit sie nach ihnen zu ihm kommen könnte, und daß sie und er sich verstehen. – –

»Und also fängt sie an, eine alte Frau, die das Ihre berichtet in ihrer Sprache; die nicht erzählt, sondern der in wirrem Durcheinander hundert Züge der Erinnerung einfallen; die es nicht darstellt, wie in einer künstlichen Novelle etwas dargestellt wird, sondern die darüber spricht, sich beschuldigend, den Mann entschuldigend, den Dritten entschuldigend, sich wieder ent- und die Andern beschuldigend, und das wieder zurücknehmend oder aufhebend; immer nach Gründen suchend und doch ganz ratlos. Sie hatte es gut ertragen, und doch ballte es sich einmal zusammen und verlangte, gesagt zu werden, und da sagte sie es mir, ihrem Sohn. Es war doch das Heilige gewesen. Es war das Jahr gewesen, wo sie über sich stand, wo sie mehr wollte als sich, wo sie sogar ihre Kinder nur als einen Teil ihrer selbst empfand und sich davon trennen zu können glaubte. Und sie hatte Moral, sie sagte: die Strafe blieb ja auch nicht aus … indem sie meinte, daß ihre Tochter klein starb, und daß ich zehn Jahre später verloren ging.

»Siehst du, Georg: man wird doch unruhig, wenn man dergleichen hört, wie ich damals. Man versuchts doch wieder mit dem Rütteln und sagt: Wenn … und: Vielleicht … Wenn nun ich, als meine Mutter dies erlebte, etwas älter gewesen wäre und es erfahren hätte? Ich würde mit ihr im Vater den Feind gesehen haben und sie vielleicht bewogen, von ihm zu gehen. Der Unbekannte und sie und ich, wir wären dann vielleicht glücklicher geworden, ich hätte einen Vater gehabt, sie einen Sohn und – so etwas denkt man denn.

»Ich hätte es auch zu einer Zeit hören können, wo ich meinen Vater für einen Verbrecher und ein Tier gehalten hätte. Ihn, der doch Gewalt brauchte, wo kein wahres Recht mehr für ihn war; ihn, der eine Frau in sein Bett zurückzwingen konnte, die ihn nicht liebte, die ihn haßte; und dies aus nichts als aus Lust, aus Bedürfen. Ihn, der endlich so klein war, daß er auch in diesem nicht etwas Großes sehen konnte, um sich dadurch ändern, sich nur auf sich besinnen zu lassen. Hätte er sie noch gehaßt, sie gepeinigt, sie erniedrigt, so wäre es doch Leben gewesen. Aber er blieb, was er war, kleinlich, mäkelig, alltäglich. Er war nicht schlecht; er hatte nur sein Wissen und seinen Besitz, seinen Trauschein und seine Triebe, und wollte sich nicht hindern lassen an alldem.«

Bogner sprach längst nicht mehr so gelassen wie im Anfang. Er hatte sich mir wieder zugewandt, sein zerfallnes Gesicht war gerötet, er versuchte immer wieder sich aufzurichten, und nun stieß er die gespreizten Hände hinter sich und sagte mit unterdrückter Stimme der Heftigkeit:

»Da quälen sie sich und quälen sich und verspritzen ihr Blut in den Unsinn, tun immer das Falsche, klagen immer den Andern an und weinen und sterben und haben selber die Schuld. Ich habe jahrelang gehungert, und das war es nicht! Ich habe jahrelang im Elend und im Finstern gelegen und geschrieen nach einem Einzigen, der bei mir wäre, und das war es nicht! Ich bin verzweifelt und hab sterben wollen, ich hab mich geschändet und gedemütigt und zerknirscht, und all das war es nicht! Alles das ist vergangen, ist vergessen, und geblieben ist immer nur Eins, das Eine, das ich nicht kenne, das hier in mir sitzt und sich abarbeitet, das Unbekannte, das Unmenschliche, nicht Ehrgeiz, nicht Ruhm, kein Wollen, keine Lust, keine Freude, keine Qual, nur dies – Rütteln, dies Rütteln in mir, das will, daß ich male.«

Er hatte gesprochen wie in einem magischen Zustand. Der fiel nun plötzlich ab, ich sah ein furchtbares Schaudern über sein Gesicht und seinen Körper gehen, er ging auf den nächsten Stuhl zu und setzte sich darauf wie ein Knecht.

Nach einer Weile sagte er erschöpft:

»Ich rede von mir selber. Es war nicht meine Absicht.«

Plötzlich packte er die Kante des Tisches mit beiden Händen, als wollte er ihn wegstoßen; sein Gesicht veränderte sich in einer schrecklichen und unmenschlichen Weise, ich glaubte, er würde schreien, aber er sagte all das, was nun kam, nicht laut, nur mit einer ungeheuren Gedrungenheit in der Stimme:

»Und wenn ich jetzt sterbe, und wenn ich jetzt glauben muß, daß es alles nicht wahr gewesen ist, der Schmerz nicht wahr und die Not und das Heilige, alles nicht wahr, weil ich zugrunde gehe und mich Lügen strafe, – ja, wenn es nicht wahr gewesen sein soll an mir, so will ich doch bis zum letzten Atemzug glauben, daß es Wahrheit ist in der Welt, und daß diese Not und dies Glück, dieser Druck und dies Heil das einzige ist, was Leben hat in der Welt! Es braucht keine Götter zu geben, es soll keine Götter geben, aber –

»Aber der Mensch auf seiner Erde, mit strotzenden Armen umspannt er den Baum und preßt einen Gott heraus, der seufzend sich aus den Blättern neigt, und Vaterlächeln aus rauschenden Zweigen. Er sät die funkelnde Drachensaat der Sterne in seiner Winternacht, und es steigen und beugen sich Gestalten heraus, blühende, Tiere und Menschen, der selige Delphin, die Jungfrau und der Jäger. Er zeugt dennoch, der Mensch, was größer ist als er: den Sohn. Er stellt den Sohn vor sich hin und spricht: du sollst mein Feind sein und über meine Leiche höher steigen, ich soll dein Knecht sein, dein Widersacher, dein Stachel, deine grenzenlosen Mächte zu entfesseln, und auf meinen Schultern stehend, sollst du in den Himmel reichen. Ich soll dich in Bande schlagen, und du sollst an ihnen deine Zähne wetzen. Ich soll dich verfluchen, ich soll dich durchsäuern mit meinem Fluch, daß dein Dasein genießbar werde für Geschlecht und Geschlechter. Ich bin dein Engel, Jakob, ich schlage dich auf die Hüfte, aber du wirst mir die Krone des Lebens aus den Händen reißen. Und wenn im Morgengraun nach der langen Kampfnacht über dir die Drossel singt, so soll dein ganzes Haupt wie eine kalte reife Traube am Berg liegen, berstend von Süße, ein Wunder der Erde an Erfüllung.«

Georg an Benno

auf Hallig Hooge, im Dezember.

Ich empfinde die besondre Pflicht und den Auftrag, Dir mitzuteilen, daß Deine Freundin Ulrika Tregiorni im Begriff ist zu sterben. Im Bewußtsein Deiner besondren Verehrung für ihr reines und zartes Wesen, will ich nicht unterlassen, die einzelnen, ihr plötzliches Ende herbeiführenden Umstände vor Deiner Teilnahme auszubreiten. Sollte das Ende, das wir zur Stunde nahe befürchten müssen, wider Erwarten nicht eintreten, so werde ich es Dir am Ausgange dieses Briefes mitteilen.

Nachdem bis vor wenigen Tagen ein unveränderlicher Nordwestorkan über unsre Insel getobt hatte, sprang der Wind in einer Nacht plötzlich um, wehte einen Tag lang warm und nässend vom Lande herüber, legte sich dann oder verschwand, und über die beruhigte See zog sich ein dichter Nebel, der die Aussicht verbarg. Ich erinnere mich, daß infolgedessen ehegestern oder schon vorehegestern (wer hält all die Tage auseinander?) zwischen Bogner, Ulrika und Cornelia beratschlagt wurde, ob sie, Ulrika, nicht die Tage der Meeresstille benutzen solle, um jetzt schon zum Lande hinüberzufahren, wenn auch ihre Entbindung erst in ungefähr einem Monat bevorstehe; weshalb es dann unterblieb, entzieht sich meiner Kenntnis.

Wer sich einmal an eine Abgeschiedenheit wie die unsre gewöhnt hat, der mag eben gar nicht wieder weg. Zwar ich, der ich, wie bekannt, oben auf dem Deich wohne, im Fenster also das Wasser habe und von der Plattform meines Turmes aus die ganze See, ich behielt noch ein gewisses besondres Gefühl von Welt, obschon von Wasserwelt nur. Die Andern jedoch in der haushohen Umwallung des Deiches, die sie selten ersteigen, leben in einer warmen Enge, zu der kein Zugang ist, die keinen Bezug mehr zu irgend etwas hat, die völlig für sich allein da ist, durch Tage und Nächte überwölbt von dem Donner der See. Der aber war nun verstummt; plötzlich war in den Häusern der klagende Schrei des Tütvogels hörbar, langsam dehnte und entfaltete sich die Stille mit dem Nebel und ward ungeheuer.

Damit Dir das Folgende verständlich sei, bin ich genötigt, einiges von einer Unterhaltung zu schreiben, die vor etlichen Tagen zwischen Bogner und mir stattfand, und der auch die Frauen – nebst dem notwendigen Hauptmann – beiwohnten, diese drei schweigend nach ihrer Gewohnheit. Die Rede war nämlich angelangt bei den Bewohnern dieser Küstengegend, ihren Sitten und Eigentümlichkeiten, und hielt alsbald bei der besondren Erscheinung des zweiten Gesichts, die ich Dir erklären oder, falls Du Dich an frühere Auslassungen meinerseits erinnern solltest, ins Gedächtnis zurückrufen werde. Die Erscheinung ist, wie Du weißt, nicht nur hier auf den Inseln und Halligen nordwärts, sondern auch auf dem Festlande verbreitet, in ähnlichen Formen zudem in Westfalen und Schottland. Ihr Ursprung ist vermutlich die ungeheure Einsamkeit einerseits, welche die in ihr Hausenden zwang, übersinnliche Fäden der Wahrnehmung zu weit fernen Personen hinüberzuspinnen, andrerseits der vielfältige Zusammenhang mit abwesend verstorbenen Menschen, das heißt den auf See umgekommenen Söhnen, Vätern und Gatten. Stelle Dir die Inseln vor, die winzigen Halligen, überhängt von der stürzenden See, das Leben dort, im Winter zumal, in den Nächten ohne Ende, die Einsamkeit dieser Gehöfte und Werften, abgeschnitten durch Wochen und Wochen von jeder Verbindung, dazu die jahrtausendlangen Kämpfe mit den drei ewigen Gewalten, See, Wind und Sand, die ohne Unterlaß fraßen, Land fraßen und Menschen. Da begannen die monatelang Nachricht voneinander Entbehrenden den furchtbaren Raum der Einsamkeit zwischen sich zu durchstoßen mit ihrer Seele, die jenseits hervortrat und sich zeigte. Wann gelang ihnen das? In den besonderen Augenblicken des Lebens, im einzig besondern, in dem des Todes. Begräbnisse wurden sichtbar, Sarg und die Lichter, Gesang erscholl, das Trauergefolge zeigte sich deutlich. Und es kamen die Toten aus der Nacht- und Wasserferne und zeigten sich, so daß man wußte: sie waren tot. Diese wurden ›Gänger‹ genannt, die Gehenden, Wiedergehenden, Wiederkommenden unter den Toten. Ich erzählte Bogner den folgenden Vorgang, den mir ein Pfarrer als eigenes Erlebnis berichtet hat, ein Mensch übrigens, trocken und klar, ohne unsre Nervenphantasie, wie all diese Menschen hierzuland.

Zu Besuch bei einem erkrankten Freunde und Amtsbruder auf einer der nördlichen Inseln – große Schafherden weiden dort fast wild; ich vergaß nun den Namen –, folgte er an seiner Statt der Bitte eines Mädchens zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Die Strecke zu ihr, stundenweite Wege im Dünensand, wurde im Wagen zurückgelegt, sie kamen mit Einbruch der Dunkelheit an, das Haus lag hinter den Haidhügeln der Wattseite, Wiesen, bevölkert mit Schafen, erstreckten sich von ihm aus zu den Hügeln und Gletschern der Sanddünen. Du kennst die langgestreckte Form der niedrigen Häuser. – In ihrem Bettschrein lag die sterbende Frau ohne Besinnung. Der Pfarrer setzte sich zu ihr, ein mögliches Wachwerden erwartend; die Tochter kniete am Bett, in dessen Nähe ein Licht brannte. Da sieht der Pfarrer eine dunkle, menschliche Gestalt draußen an den Fenstern vorübergehn, in der Richtung der Haustür. Aus diesem oder jenem Grunde erhebt er sich und geht aus dem Zimmer auf den schmalen Hausflur zwischen Vorder- und Hintertür. Die obere Hälfte der vordern steht offen, von draußen herein lehnt ein Mensch, still, bleich, die Haare hängen ihm unordentlich in die Stirn. – Wünschen Sie etwas? fragt der Pfarrer. Kommen Sie doch herein! – Er öffnet die Tür, tritt zurück und wiederholt seine Aufforderung; wiederholt sie ein zweites Mal, schon in der Zimmertür. Jetzt kommt der Mensch ihm nach, betritt das Zimmer, sieht die Frau im Bett und setzt sich auf einen Stuhl, immer die Augen auf das Bett gerichtet. Da schlägt die Frau die Augen auf und sieht ihn. Die Tochter folgt ihrem Blick, sieht den Fremden, springt auf, stößt einen Schrei aus und sagt: Jan! – Der Mensch erhebt sich nach einer Weile wieder und geht hinaus, wie er kam. – Die Frau starb bald; die Erscheinung war die ihres Sohnes, der in jener Nacht ertrank.

Diese Erzählung erregte den Maler auf so besondre Weise, daß ich ihm gleich noch eine vortragen mußte, und zwar die von den Doggerbankfischern.

Die Doggerbänke sind Dir bekannt. Die dort mit Netzen Fischenden kehren wochenlang oft nicht zurück, leben wochenlang schweigsam, nur mit ihrer schweren Arbeit beschäftigt mitten in der riesigen See, im Regen, im Nebel; auch ihre Boote trennen sich weit voneinander; jede Mannschaft arbeitet in völliger Abgeschiedenheit, im Unsichtbaren.

An einem Nebelabend gewahrte die Besatzung eines fischenden Kutters plötzlich in fast schon gefährlicher Nähe ein andres Boot, das auf das ihre zukam ohne Laut. Sie schrieen Warnungen hinüber, sie lärmten und fluchten, allein das stumme Boot kam näher und näher, fuhr endlich so, daß Bordwand an Bordwand streifte, an dem Kutter vorüber. Drin saß die Mannschaft an ihren Plätzen, ohne Bewegung, ohne Laut. Nur der am Steuer sagte, als sie fast schon vorüber waren: »Wir dürfen keinen Lärm machen.« Der Ton lag unmerklich auf dem Wir. – Der Kutter schwand im Nebel. Später ward offenbar, daß jenes Boot an jenem Abend an einer meilenweit entfernten Stelle untergegangen sei.

Als ich aber dies Geschehnis berichtet hatte, erhob sich Ulrika ohne ein Wort und ging hinaus.

Wir Andern, Bogner, Cornelia und der Notwendige, schwiegen ziemlich lange. Bogner zeigte sich dann besonders verwundert und ergriffen von dieser Art und Weise und der Haltung der Toten. Daß sie kamen, nicht anders als im Leben erscheinend, jedoch auf eine unbeschreibliche Weise feierlich und verschönt. Der Sohn der Sterbenden schwieg und sah nur die Mutter an; die Schwester schrie; er schwieg und ging wieder. Er hatte sich nur zeigen wollen. – In dem Boot die Lebenden lärmten, die Toten verhielten sich still, nur einer mahnte ruhig: Wir – dürfen keinen Lärm machen. – Noch so viel Güte, daß er wegen der bewußtlosen Lebenden das Schweigen brach!

Und noch dies Seltsame: die Doppelheit der Menschen! Ihr eines Halb sah die Erscheinung, hatte Verbindung mit dem Jenseits, und zwar vermittels derselben Sinne, mit denen ihr andres Halb die Erscheinung nicht begriff und sie für natürlich und ihresgleichen hielt.

Nun, so kamen wir wieder ins Gespräch, und es war begreiflich, daß ich nun auf das, in unsrer besondren Nähe befindliche Gespenst zu sprechen kam, das diese Insel für Jahrzehnte unbewohnt gemacht haben soll, nämlich den sogenannten Dränger, eine Erscheinung, die übrigens auch in andern Gegenden bekannt ist. Hier ists der weiland Deichhauptmann Waldemar Montanus, der bei Ebbezeit einsamen Gehern außerhalb des Deiches im dichten Nebel erschienen sein soll mit der ausgesprochenen Absicht, dieselben in die See zu drängen. Sie verloren nämlich die Besinnung vor Angst, den Deich aus den Augen, er drängte und drängte von hinten, von der Seite, von überallher, kurzum: er drängte sie in die See. Wenn dazu berichtet wird, daß der Deichring um Hallig Hooge, der an der Wattseite ein breites Loch hat, in solchen Nächten geschlossen sein soll, so liegen dem wohl die Erfahrungen zugrunde, daß Angst erstlich die Sinne blendet, so daß der Verfolgte das Deichloch übersah, und zweitens die Zeit und den Weg unmäßig in die Länge zu dehnen pflegt, also daß der Verfolgte meinte, die Lücke im Deich, die er nach wenig Schritten vielleicht erreicht hätte, sei schon vorüber, worauf er womöglich umdrehte und nun niemals mehr hingelangte, – allein wer weiß das eigentlich? Der Betreffende konnte es kaum weiter sagen …

Heut abend nun – oder gestern, wie Du willst, es geht nun auf morgen – wollte Bogner, indem wir wieder beisammen saßen, auch wieder von diesen Gespenstergeschichten anfangen, aber Ulrika stand gleich mit einer besondern Schroffheit auf und bat zu schweigen. Sie setzte sich nicht wieder, blieb eine Weile stehen und ging dann hinaus.

Wir sprachen trotzdem nun nicht weiter. Ich dachte, was wohl auch die Übrigen dachten, daß jemand ihr folgen solle, aber sie liebte es, allein zu gehn, und ich hatte beim Herkommen aus meinem Turm den halben Mond über dem dünnen Nebel stehen sehn. So saßen wir längere Zeit schweigsam im größeren Schweigen der Stunde. Das Zimmer war voller Schatten rundum, die Petroleumlampe brannte auf dem Tisch, seitwärts dazu saß der Maler, ich im Sofa dahinter und rauchte, irgendwo waren die Augen Cornelias, dunkel und glänzend, und irgendwo das rechteckige Gesicht des Notwendigen. Dann stand Cornelia auf und sagte mir, durchs Zimmer und hinausgehend, mit den Augen, daß sie Ulrika folge.

Nein, kein Unheil hing in der Luft; es war durchaus besonders friedlich. Auch der Hauptmann, der sich einige Minuten nach Cornelias Fortgang erhob und ihr nachging, sagte später, daß er zwar einen gewissen, besondern Zwang empfunden habe, jedoch ohne jede Besorgnis.

Aber Minuten später erschreckten uns eilige Schritte im Flur, Cornelia riß die Tür auf und schrie mir zu, ich solle sofort kommen, der Hauptmann könne sie nicht allein tragen … Bogner nämlich galt ihr noch für zu schwach, obwohl er inzwischen schon beinah grade geworden ist. Er war denn auch zugleich mit mir in der Tür, Cornelia berichtete fliegend, sie habe Ulrika nirgends gefunden, dann einen dünnen Schrei gehört, sei zur Deichlücke gelaufen, habe wieder den Schrei gehört und nach einigem Suchen, wenige Schritt weit am Fuß des Deiches Ulrika gefunden, zusammengekrümmt, sich windend und stöhnend in Krämpfen. Die Zuckungen der Wehen verhinderten den notwendigen Hauptmann, den die um Hülfe zurückrennende Cornelia traf, sie zu tragen.

Der Mond, wie gesagt, schien. Die dunkle Mulde war, fast frei von Nebel, in schönes Silber getaucht, in dem wir schon von weitem die schwarze Gestalt des Notwendigen gewahrten, der uns entgegenkam, die ruhiger Gewordene auf dem Arm. Ihr erstes Wort an Bogner war: Benvenuto, das Kind, das entsetzliche Kind! – Später hat er noch erfahren, daß sie im Nebeldunst draußen am Deich einen Schein und in dem Schein – ich weiß nicht, ob ein Kind mit einem übergroßen oder ohne einen Kopf gesehen haben will, worauf sie vor Furcht und Grauen auf den Deich zugelaufen und beim Versuch, hinaufzuklettern, abgestürzt ist.

Wolle aber bedenken, Benno, was ich schrieb: Sie war nicht mehr im Zimmer, als ich vom Dränger erzählte. Wie sollen wir das nun verstehn?

Im Haus überließen wir sie Cornelia. Der Notwendige und ich saßen drei Minuten später im Segelboot, aber – ach Benno, die Unseligkeit dieser Fahrt hätte ich selbst mir kaum gegönnt! Über dem Wasser schwebte ein Hauch von Wind, in dem zuerst gar keine Richtung war. Als wir dann weiter hinaustrieben, schien er sich für Nordwesten entscheiden zu wollen, schließlich aber wehte er, o sanfter Satan! aus Nordosten, so gut wie uns entgegen. Und was hilft es nämlich bei Fahrten wie dieser, daß man die Logik in die Hand nimmt wie eine Pistole und sich sagt: es hat keine übermenschliche Eile, denn wenn vor Minuten erst die ersten Wehen eintraten, so dauerts noch Stunden bis zur Geburt. Die Pistole geht nicht los, sie braucht auch gar nicht losgehn, aber da sitzest du bei einer brennenden Laterne, bloß mit einem zufälligen Uhrkompaß, den der Notwendige bei sich hat, mitten in der nebelglänzen den See, im Halbdunkel, wo keine Bewegung an nichts zu erkennen ist, durch Minuten, die Stunden werden, stille liegend, und du reißest Herz und Lungen und alle Organe auf, als ob du geboren wärst, im Augenblick, wo du das Leuchtfeuer vom Außenhafen siehst, Auge der Seligkeit durch die silbernen Dünste der See. Und nun Kreuzen, Kreuzen ohne Ende. Es ist schwer wie die Verdammung, ein Ziel durch Vorbeifahren zu erreichen, obgleich es im Leben nicht anders ist. Man fängt an zu beten, Benno, ohne zu wissen, was es ist! Nach einer Fahrt von beinah zwei Stunden – statt einer halben – lagen wir im Binnenhafen, und hätten nicht gelegen, wenn uns nicht der Polizeikutter geschleppt hätte, so schnell wie ein Pferd, aber all diese Dampfer und Schlepper und Kähne, die an den Molen und an den Hafenwänden lagen, die unendlichen Lagerschuppen, die Krähne, die Kohlenberge, die unerhört langen Reihen von Fässern, und wieder Dampfer, Schlepper, Ewer, Schaluppen, Pinassen, Segelboote, wo einer einsam steht und schöpft, Südamerikafahrer, wo ein paar Kerle im Dunkel über der Reling liegen und spucken, Ziegelkähne von endloser Länge, wo am Rande ein wilder Spitz rennt und bellt und am Ende eine Kajüte ist und Licht und ein rauchender Schlot, und ein Ehepaar mit den Ellbogen auf den Knieen – weißt Du, wie das sich einbrennt in die Augen auf solchen Fahrten?

Also, ich rannte denn zum Arzt (weißt Du, wieviel Vorstellungen der Orte, wo er sein könnte in solchen Minuten, da er ja auf keinen Fall zu Hause sein kann?) und fand ihn – es war gegen zehn Uhr – in seinem Zimmer bei der Zeitung. Endlich hatte ich ihn denn mitsamt seiner Tasche in einem, vom Notwendigen inzwischen geheuerten Motorboot, und wir langten eine halbe Stunde später wieder an.

Langten an, empfangen von einem Geschrei, das ich – wie bereits oben, Benno, es geht jetzt auf Morgen, noch ist immer nicht geschehen, was geschehen soll, ich sitze und schreibe nach der anfänglichen besondren Kälte mit rauchenden Händen. Ich habe ein Geschrei gehört, Benno, das Gott nicht erfunden hat. Ich habe ein Weib, das er aber erfunden hat, brüllen und heulen und pfeifen hören. Ich habe hinter der Türe gestanden und geschlottert mitsamt dem Notwendigen. Ich habe das Licht in den Türritzen gesehn wie bei Weihnachten, wenns drinnen raschelt. Ich habe an der Füllung gekratzt wie ein Hund und dazu mit den Augen gewinselt. Ich habe den Doktor herauskommen und schwitzen und klappern sehn und ihn Worte sagen hören, bei denen es mich in den Ästen meines besondren Nervenbaums aufhenkte wie Absolom, – Gebärmuttersenkung – es drehte sich schon ehemals alles in mir um, wenn ichs hörte. Weißt Du was, Benno? Wenn die Menschen anfangen, von Sinnen zu geraten, so tun sie das Allergewöhnlichste, und zwar mit einer besondern Genugtuung, und der Doktor in diesem Fall putzte seine Brille wie den Abendstern. Ich habe Cornelia völlig rasend gesehn, dieweil sie kein Wort äußerte, ab und zu ging, das Nötige besorgte und zwischenhinein bei der halb schon Zerfetzten saß und ihre Hand hielt. Ich hörte mich selber klappern und den Arzt fragen, ob der Sturz geschadet habe, und hörte ihn schnauben und sagen, ob gestürzt oder nicht, und ob heute geboren oder morgen, das wäre alles Unsinn, und sie hätte niemals dazu kommen dürfen, und das Kind würde sich höchstwahrscheinlich erdrosseln. Ein Kind, o ihr Helden, noch im Leib seiner Mutter, und hat schon einen Strick zum Erdrosseln! Ich habe, Benno, auf der Erde gelegen, im Freien und an den Nägeln gekaut. In meinem Zimmer habe ich den Finger in mein brennendes Licht gehalten, um mir eine Abkühlung zu verschaffen, und die Wunde als höchste Wollust meines Lebens empfunden. Ich habe Tränen vergossen und diese rasende Halbtote geliebt wie keinen Menschen jemals, und ich habe sie um Vergebung meiner Sünden gebeten. Gott im Himmel, Benno, ich habe angeboten, alles noch einmal erdulden zu wollen, wenn bloß dies aufhörte.

Ich habe nämlich auch Bogner gesehn, ganz besonders! Der saß all die Stunden im Nebenzimmer und hörte es mit an. Ich kam herein, ich denke, da sitzt eine Leiche. Aber er sieht ganz aufmerksam auf das Tischtuch. Als ich näher zusah, merkte ich dann, daß ich, wenn ich ihn anrühren sollte, einen elektrischen Schlag empfangen würde, denn er saß auf einem Elektrisierstuhl, gerade so geladen, daß es eben noch zu ertragen war. Nein, er saß auf durchaus keinem Stuhl, sondern auf einem pfeilschnell rennenden Tier; saß in einem rasselnden Panzer von Schnelligkeit, saß gewissermaßen auf dem hurtigsten Tier, das da trägt zur Vollkommenheit, genannt Leiden.

Es war eben wieder still; ich setzte mich und fing an zu rauchen, die Lampe begann zu stinken und gab vor unsern Augen den Geist auf, Bogner erbarmte sich ihrer und blies sie aus. Bogner gönnte sich dieses alles.

Und all diese Stunden lang in Pausen dies rauchende Geschrei wie aus einer eisernen Röhre, diese minutenlangen Strudel von Wimmern und Flehen an alle Mütter und Maler und Götter um Erbarmen.

Aber sie ertragens. Vielleicht ist dies auch nicht besonders, vielleicht nur um kleine Grade schlimmer als üblich. Cornelia scheint es ja zu verstehn. Sie erheben sich sogar hinterher und fangen wieder an zu leben. Ich will mal nachsehen.

 

Fünf Uhr. Nun muß es bald kommen, sagt der Notwendige, der es vom Arzt erfuhr. Bald, das ist ein Ausdruck!

Bogner war nicht mehr im Zimmer. Ich suchte ihn, da sah ich im Dunkel seinen Schatten auf dem Deich und stieg zu ihm hinauf. Er hatte seinen Stuhl hinausgetragen und saß dort, die Hände auf den Knien, unter sich den Nebeldunst, der Nacht zugewandt, wo sie nur dunkel war, denn hinter seinem Rücken stand der Mond. Da habe ich ihn gefragt: »Nun, Bogner, proklamierst du heut auch noch deine Vollkommenheit der Welt?«

Er wendet den Kopf zu mir, sieht mich an. Plötzlich überläufts ihn. Er wartet, bis er wieder ruhig ist, und er sagt: »Ja.«

»Bist du wahnsinnig?« schrei ich ihn an. »Nachdem du dies gelitten hast? und sie?«

»Ja,« sagt er nach einer Weile. »Auch daß ich leide, ist – gut.«

Da waren wir still. Später sagte er:

»Wenn ein Opfer gebracht wird – hier; und dort ist einer – der nimmt es an; dann ist alles erfüllt.«

Oh mir brannte das Herz! Bogner – ich weiß, welche Furcht vor dem Tod er erlitt. Nun hat er eingesehn, daß nicht er gefordert wurde, sondern sie. Und nun stirbt er mit ihr. Denn so stirbt der Mensch im Opfer, das er bringt. Vielleicht wäre er lieber gestorben, als so überleben zu müssen. Aber es ist Sinn in dem allen. Freilich muß man ein Kentaur sein, um ihn erleben zu können und doch zu verstehn.

Ich weiß nun nichts mehr und schließe den Brief.

Georg

Georg an Magda

auf Hallig Hooge, am 29. Dezember.

Meine liebe Magda!

Eine schmerzliche Nachricht: Bogner bittet mich, Dir mitzuteilen, daß Ulrika Tregiorni vorgestern morgen vor Tagesanbruch verschieden ist, nachdem sie vergeblich versuchte, einer Tochter das Leben zu geben.

Ein unglücklicher Fall am Abend zuvor beschleunigte die Geburt, die sie nach der Meinung des Arztes allerdings auch unter günstigeren Umständen nicht überstanden haben würde.

Bogner ist jetzt ruhig. Sollten wir jemals über diese Dinge miteinander sprechen, so würdest Du erfahren, daß meine alte Ehrfurcht vor ihm nun fast das Maß des Menschlichen überschritt.

Wir werden Ulrika am Abend hier begraben. Bogner fuhr heute früh mit meinem Adjutanten, Hauptmann d. I. Rieferling zur Stadt und kehrte gegen Mittag mit einem ungestrichenen weißen Sarge und einem kleinen weißen Marmorblock zurück, auf dem nichts eingegraben ist als ihr Name und – darunter – das Bild eines in seinen Fittichen aufrecht stehenden Schwanes. Wir Alle, die wir hier sind, haben ihr das Grab oben auf der Nordseite des Deiches geschaufelt, wo sie liegen wird mit den Füßen in der Richtung der See. –

Ich habe zu diesem einige Worte über mich beizufügen.

Aus einem Grunde, den Du verstehen wirst, wenn Du gelesen hast, war ich nicht fähig, die Tote zu sehn. Überdies hielt noch etwas mich ab, ihr Zimmer zu betreten. Bogner saß neben ihr und zeichnete sie. Da er keinerlei Mal- oder Zeichenwerkzeuge dahier hat, so riß er vom Deckel eines bräunlichen Pappkartons die Randstücke ab und fand ein kleines Stück Rötel. Durch die offene Tür zum Sterbezimmer sah ich ihn dann schräg auf Ulrikas Bett sitzen, auf den Knien den Pappdeckel, nach ihrem, mir unsichtbaren Gesicht blickend, und so sah ich ihn jedesmal, wenn ich das Haus betrat, vorgestern, gestern und noch in der letzten Nacht, doch hatte ich nie den Eindruck, als ob seine Hände beschäftigt seien.

(Sage, kommt Dir vielleicht auch, indem Du dies liesest, ein japanischer Wandschirm in Erinnerung? Der erschien jedenfalls mir und stellte alsbald die Verbindung mit jener Frau wieder her, Judith Österreicher, jener, von der uns Bogner erzählte – vor Jahren –, die er zum Leben erweckte, im Bilde, während sie daraus fortglitt. Was schien Bogner uns damals? Was scheint er mir wieder heut? Aber –

es kehret umsonst nicht
Unser Bogner, von wo er kam.)

Heute vormittag endlich, als ich eben an meinem Schreibbüro mit den täglichen Unterzeichnungen beschäftigt war, der Hauptmann und der Ordonnanzoffizier mir dabei mit Zureichen und Abnehmen der Blätter zur Hand gingen, überhörte ich das Eintreten jemandes, bis ein leiser weiblicher Aufschrei mich veranlaßte, mich umzuwenden. Von den drei, durch die kleinen Fensterscharten einfallenden und sich kreuzenden Lichtkeilen geblendet, sah ich zuerst am Tisch in der Zimmermitte Cornelia lautlos hereingekommen und mit dem Zusammenstellen des Frühstücksgeschirrs beschäftigt, dann die Gesichter der Herren und das ihre absonderlich verzerrt im Blick nach der Tür, und dort sah ich nun Bogner, der seinen Pappdeckel in der Höhe seines Kopfes hielt und uns zeigte. Anfänglich schien mir nichts darauf wahrzunehmen, als wenige und verwirrte, rötliche Linien ohne Sinn und Zusammenhang. Aber jählings schossen sie zusammen, schlossen sich, wurden Züge, umrahmendes Haar, halb geschlossene Augen, und ich sah die Meduse.

Tot, tot, tot, nichts als tot. Alles gebrochen und entstellt. Die Lippen halb geöffnet wie die Augen mitten in der Not des Lebens und Sterbens stehen geblieben, oder gleichgültig stehen gelassen von ihm, der die Seele noch lebend heraus und in Fetzen riß. Es war zu sehn, daß er das tat. Hier war alles zerstört. Hier war nichts mehr; nur Tod.

Bogner selber, scheinbar erst aufmerksam durch unser Schaudern, blickte hin und entsetzte sich. Er legte es auf den Tisch und sah uns ratlos an. Und wir starrten darauf und sahen, daß da nichts war. Ein paar verwirrte rote Linien aus ödem Braun.

Ich sah Gestorbne schon früher. Damals war es anders als hier, weniger deutlich und minder wild, und es war doch das gleiche. Nichts. Ich habe mich überzeugen wollen und Ulrika selber gesehn. Es war nur grauenvoller das gleiche. Ihr Gesicht war gelb in dem roten Haar, die Lippen bläulich, halb nur zu wie die Augen, hinter deren Lidern etwas bläulich Weißes schimmerte. Es war entseelt.

Er hat mich nicht versteinert, der Anblick der Meduse, nein. Er löschte in mir nur das Licht. Es läßt sich sehr einfach ausdrücken. Ich hatte bisher nicht geglaubt, daß mein Vater gestorben sei. Ich nahm an, er lebte in einer andern, höheren Form, und nahm an, daß sie die selbe sei, in der er mir erschien. Nun weiß ich, daß die Toten keine andre Gestalt haben als die, in der sie uns erscheinen. Das ist die Form der toten Ulrika. Mein Vater ist tot. Was von ihm noch lebendig ist, ist in mir. Es sollte golden sein; aber es ist Gift. Denn es ist nichts als Schuld.

Dies versuche mir zu glauben, ohne daß ich es erkläre.

Ich bin ruhig, seit ich dies weiß. Ich habe die Hoffnung, daß in Bälde alles zu der nötigen Ordnung kommen wird, und Du wirst dann von mir hören.

Ich schließe. Bogner wird mich morgen verlassen, und Du wirst ihn wohl über kurz oder lang selber sehn, wie er den gefesselten Riesen losmacht und zur Arbeit geißelt. Ihm ist das Tor, durch das die Tote hinausging, was es dem wahrhaft Lebenden sein soll: ein Eingang.

Ich bleibe allein zurück mit dem Hauptmann, da ein Zufall will, daß auch Cornelia geht, wenn auch unbestimmt ist, wie lange sie ausbleiben wird. Sie empfing einen Brief von der Schwester eines Mannes, mit dem sie vor Jahren einmal verlobt gewesen ist, eines kränklichen, schwer hysterischen Menschen, von dem sie sich trennen mußte. Nun soll ihm eine schwierige Operation bevorstehn, vor der er sich fürchtet ohne sie. Sie reist nach Zürich, wird aber auf der Durchfahrt durch A. bei Dir vorsprechen.

Lebe wohl! In Liebe brüderlich Dein

Georg

Georg an Bogner

Hier, am letzten Tage des Jahres.

Du bist fort. Ich kann hier nichts mehr halten, und mit Dir verließ mich auch Dein Geist. Doch ich weiß nun, wer Du bist. Als Du diese Erde betratest, gaben die Götter Dir den Namen und sagten: Benvenuto! das ist: Sei uns willkommen!

Du bist aber Herakles.

Derselbe Halbgott kämpfte mit den gewaltigen Tieren der Fabel und bezwang sich in der Knechtschaft. Zuletzt legte er das brennende Kleid an, und es ›ging in Lüfte der Geist ihm auf‹; er betrat den Raum seiner Unsterblichkeit.

Der alle Schrecken des Lebens in sich selbst überwindende Mensch: das ist der Heros, der die Unsterblichkeit davonträgt.

Vielleicht nicht: Heroen zu werden, aber – heroisch zu sein in allen wahrhaften Augenblicken des Lebens, das ist unsre Aufgabe. Es ist die Aufgabe, die ich sieben Mal verriet.

Mein Heros, lebe wohl!

Georg


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