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Drittes Kapitel: Oktober

Insel

Renate erwachte in Helenenruh vom lauten Zusammenschrein der Stare in den Bäumen mit einem fast schweren Gefühl des Wohlseins. In augenblicklicher Wonne des Erkennens: Nun ist alles, alles wieder abgefallen … spürte sie sich noch aus dem Schlummer liegend heraufgehoben, spürte, wie er dünner und leichter um sie wurde, endlich aus ihr selber fortrieselte. Und nun empfand sie ihr ganzes Wesen wie durchduftet, gesättigt mit einem wundervoll kühlen Dampf, der ausquellend um ihre Glieder lag. Sie warf die leichte Steppdecke ab, setzte sich auf und sah nach dem Fenster, wo die klaren Mullvorhänge unbeweglich hingen, obgleich es offen stand, – nicht ohne leichtes Enttäuschtsein, denn da schien keine Sonne, es war grau. Die Stare schrien immerfort an derselben Stelle. Auf einmal zog ihr Herz sich empfindlich zusammen unter einem Bangigkeitsanhauch, der sehr langsam wieder entwich, und danach blieb ein Gefühl, als müßte einer ihrer Sinne beeinträchtigt sein oder gar verschwunden – und doch war da jeder: Gesicht wie Gehör, Geruch und Geschmack, und sie fühlte sich auch! – Die andern aber hatten sich zu einem süß brausenden Chaos von Musik vereint, das in ihr brodelte wie eine innere Sonnenwärme, und dies wars, wovon sie für Augenblicke blind, für Augenblicke taub zu sein glaubte, und die Stare waren jetzt kaum hörbar oder ganz fern.

Sie streifte das Nachthemd von der linken Schulter und versuchte, den nackten Oberarm an das Ohr zu halten, im Gefühl, sie müsse es darin dröhnen hören wie in einer Stimmgabel. Dabei neigte sie den Kopf und rührte unversehens mit dem Kinn an die Schulter, zuckte aber, kaum daß sie die weiche und kühle Glätte spürte, zusammen wie unter einem magischen Schlage, streifte den Ärmel wieder hoch, sprang vom Bett, ging zum Fenster und teilte vor dem offnen den leichten Vorhang.

Draußen war nichts als ein undurchdringlich dichter weißer Nebel von unbeweglicher Stille. Erst nach einer Weile erschienen schattige Massen darin, zwei große Bäume, und von dorther lärmten die Stare.

Diese Welt schien so geheimnisreich, daß Renate sich überneigte, um zu sehn, ob die Hecke noch da war, und richtig, da war die sehr stille Wand von rauhen Haselblättern, matt glänzend von schwerer Nässe, dunkelgrün und vielfach bräunlich gesprenkelt.

Als sie aber nach oben sah, verriet ihr ein ganz geringes Blenden die Reinheit des Himmels über der Nebeldecke, in der so viel Blau war wie in frischer, gewaschener Leinwand.

Baden jetzt, ah in diesem Nebel baden! wie still würde die See sein! – Renate hatte augenblicks das Nachthemd abgestreift, den daliegenden, dunkelgrünen Trikot angezogen, dann die Sandalen mit goldenen Wadenbändern angelegt, worauf sie in den seegrünen Bademantel schlüpfte und die grüne Gummikappe in die Hand nahm. Die Uhr im Armband, das sie überstreifte, zeigte ein Viertel nach sieben.

Im Nebenzimmer stand ihr Frühstück bereit, doch nahm sie nur, um nicht ganz nüchtern zu sein, einen Schluck warmer Milch und ein Stück Weißbrot mit Honig zu sich, das sie noch im Fortgehn fertig kaute.

Wie klein war dann der Hof vor dem Verwalterhause! Kein Mensch … Schweigen, und nur vor der roten Hauswand bewegte sich ein Schatten, der Hund, der vorkam, soweit es seine Kette erlaubte, wedelte und ihr nachsah, die leichtfüßig am Gartenzaun hinlief und, an seinem Ende nach links biegend, durch das lange, nasse Gras der Wiesen in den Nebel hinein. Es war so lautlos um sie her, daß sie stehen blieb und sich umsah. Deutlich in den Nebel hinein zog sich eine dunkle Furche dort, woher sie gekommen war, aber zu hören war nichts als das Schlagen ihres eigenen Herzens; dann das leise und spitze Ticken der Uhr.

Sie ging weiter, angenehm frierend in der Morgenkühle; unter dem Nebel erschien die sanfte Schrägung des Deichs, die sie alsbald erstieg mit einer leisen Besorgnis: wenn jetzt nur nicht Ebbe ist! – Sie stand oben und sah die schräge Mauer der Quadersteine mit grünen Fugen von Tang hinab. Nein, da war das Wasser, dunkel, unbeweglich! Ohne Laut war es bis hier herangekommen. Zu sehen war nur wenig von ihm, alles verbarg der Nebel, in dem allhier ein geisterhaftes Fliegen und Bewegen war, ohne daß die Dichte und Undurchsichtigkeit sich dadurch änderte. Zerfließend weiche Füße tanzten aus der dunklen Glätte der Flut. Die ganze große See war nicht vorhanden.

Renate konnte die Höhe des Wasserstandes an der Entfernung von ihm bis zur Deichkrone messen. Sie warf den Mantel ab und legte die Uhr darauf. Als sie wieder gerade stand und die Luft an den Umrissen ihrer Glieder fühlte, mußte sie lächeln mit zusammengezogenen Augen. Sie zog die Kappe fest über das Haar, stieß dann die Arme wagerecht von sich, dehnte die Brust, legte den Kopf ins Genick und blieb so Sekunden, mit schon schärfer geblendeten Augen spürend, daß hoch über ihr ein Hauch von Bläue sich regte. Plötzlich gluckste das Wasser in der Tiefe. Sie senkte den Kopf, verscheuchte den Schauder vor dem Kalten, lief behutsam drei Viertel der Schräge hinunter und warf sich über den Rest hinweg laut klatschend in die Flut.

Aber – oh tausend Teufel! – sie schrie und schnaubte vor Schreck, wie eisigkalt das doch war! Sie schwamm heftig, merkte, als sie nach einer Weile die Füße sinken ließ, keinen Grund mehr unter sich, drehte sich halb zurück und schwamm nun, die Linie des Deiches achtsam mit den Augen haltend, in langen Stößen die Füße schließend, übergreifend mit dem rechten Arm, am Ufer hin, den Kopf schüttelnd und leise prustend nach jedem Stoß, wie alle rechten Schwimmer es machen. Als sie das Wasser lau um sich her fühlte, drehte sie um und schwamm so weit zurück, wie sie gekommen zu sein glaubte, legte sich auf den Rücken und erreichte so bald den Deich.

Kaum mehr als zehn Minuten konnte sie im Wasser gewesen sein, und doch war, als sie wieder oben stand und sich frierend und triefend nach ihrem Mantel umsah, alles schon verändert. Wind wehte jetzt. Die Sicht über die Wiesen hin war freier geworden, die Zäune sichtbar, und in der Höhe bewegten sich flüchtende blaue Löcher im Weißen. Und als Renate ihren Mantel entdeckt, ihn an- und den Trikot darunter ausgezogen hatte, war die Uhr fast acht, war die Sonne als matte Goldscheibe hinter der weißen Wand zu erkennen, und war sie selber vom Frottieren so brodelnd heiß wie ein eben neugeborenes Brot aus dem Ofen.

Voll Behagen schlenderte sie noch eine kleine halbe Stunde – gedankenlos wie ein Pferd, wie sie meinte – am Deichrand hin und her, See und Himmel beobachtend, die immer blauer wurden und immer freier, und dann lief sie plötzlich in größter Eile ins Haus zurück, um sich anzukleiden und zu frühstücken, jählings ersterbend vor Hunger.

Später dann, als vom Nebel auch nicht eine Spur mehr weit und breit zu entdecken war, fand sie sich auf einer guten Kamelhaardecke ausgestreckt im nebelnassen Gras unter den äußersten Zweigen der Parkeichen, vor sich die Wiesen, grau taugestreift in der Morgensonne, wehend von Halmen und den letzten Margueriten bis in die offen feurige Bläue des Himmels hinein. Sie holte den kleinen Kamm hervor, den sie im Strumpfband zu tragen pflegte, und eine gute Stunde verging ihr mit dem Auflösen ihrer um den Kopf gelegten Flechten und sorgsamem Kämmen, stückweis erst von oben bis unten hin, dann der langen Schweife, die sie in der Hand hochhalten mußte, in großen Strichen, wonnevoll spürend, wie die Masse weicher und lockrer sich dehnte und es darin knisterte von elektrischer Kraft.

Später saß sie auf ihrer Decke mit hochgezogenen Knien, die Hände um die Fußknöchel geschlossen, während der leichte Mantel ihres Haares um sie wehte und sich zerteilte im behutsamen Wind, und vergnügte sich damit, in den Ausschnitt ihres Kleides über ihre Brust hinunter zu blasen.

Später lag sie, schmal und lang hingestreckt, die Arme über der Brust gekreuzt, das Gesicht von der Sonne abgewandt, aufgelöst in Erd- und Himmelswärme, und dachte, halb schon im Schlaf: Nun bin ich so rein wie die Welt! –

Dann entschlief sie beruhigt.

 

Irgendwie war es Nachmittag und Abend geworden. Renate ging in einem weißen Kleid auf den gewundenen Wegen des Parks umher zwischen tiefgrünen Flächen der von Bäumen und Gebüschen langhin überschatteten Wiesen, – jetzt innerlich nur tief hinabgeneigt über die immer noch unvollkommene Musik, die dort unerlöst wogte, nicht näher kommen, nicht deutlich werden wollte. Kaum daß sie hier und da einmal aufsah und es bemerkte, wenn eine große Gruppe von Buchen ein plötzliches und gewaltiges Rauschen begann, laut zusammenredend, vorwurfsvoll, wie ein Chor, während sie die laubigen Arme und Glieder schüttelten, von denen flüchtende Blätter seitwärts hinunterwehten über die Wiese. Oder wenn eine Schar weißer Birken die ganze leichte Masse goldgelben Laubes hochausgestreckt ins blaue Leuchten der Höhe hineinwarf, in einer feurigen und weiblichen Gebärde des Fortverlangens. Für Augenblicke dann betroffen, zuckte sie mit, gleich nach innen wieder gebeugt, fast verstimmt, weil die Musik in dem Innern geringer vernehmbar geworden schien.

Als sie dann vor der kleinen Brücke zur Insel stand, fühlte sie sich angesichts der mächtigen, schattenvollen Masse der Baumkuppeln von einem unerklärlichen Zaudern ergriffen, ja, von einer Angst, so daß sie sich selbst hinüberlocken mußte mit dem Gedanken an das Grab der Herzogin, und fast hinüberziehn mit der einen Hand am Geländer. Drüben stehend, gewahrte sie zum erstenmal das kleine Rad der Winde, trat hinzu, begann zu drehen und sah mit Verwunderung die Brücke sich bewegen und hochsteigen, bis sie im Winkel von dreißig Graden stillhielt.

Nun bin ich allein! dachte sie, jedoch nicht eigentlich erleichtert, und ging leise in den schmalen Gang zwischen dem Buschwerk hinein.

Da lag die Wiesenmulde, ganz im Schatten, so einsam, so abgeschlossen im Ring der Bäume wie in der Tiefe eines Waldes. Nichts bewegte sich, kein Blatt an den dichten Zweigen der braunen Trauerbuche, an deren Stamm das eherne Schild kaum noch zu sehn war im Düster des Laubes. Darunter nichts als ein besonders grüner, geschorener Fleck im Gras: das war das Grab.

Hier dämmerte es schon. Renate sah die ganze Mulde kaum wahrnehmbar übersprenkelt von den lila Flecken der Herbstzeitlosen. Sie sah, die Augen hebend, den Himmel oben im Kranze der Wipfel wie einen ganz seligen See von Bläue, überrieselt von güldenen Funken, und ein einsamer, weißer Fittich, vergoldet, streckte sich hinein, als stünde im Jenseits ein Engel. Dann empfand sie die Wärme hier, dunstiger, feuchter, und auf einmal glühte ihr ganzes Gesicht.

Da stand zur Linken auf der niedrigen Anhöhe unter Kastanien der kleine Tempel von Rokokochinesisch, aus Baumrinde und längst ohne Glöckchen; langsam ging Renate hinüber und trat in das Innre, in dem nichts war als ein Sessel mit verblichener, grünlich goldiger Damastbespannung. Renate glitt hinein und fand, daß sie gerade gegenüber die Blutbuche mit dem Namensschild hatte. Plötzlich entdeckte sie auf dem Fußboden den plattgetretenen Rest einer Zigarre, erinnerte sich, daß der Herzog hier oft gesessen hatte, und daß er nun auch tot war.

Für eines Augenblicks Dauer, angehaucht von den Toten, ward ihr das Herz schwer, und sie fröstelte. Schwerer aber dann empfand sie ihr Haar, zögerte noch eine Sekunde, löste Spangen und Nadeln, schüttelte den Kopf und fühlte erfreut die Erleichterung der zum Rücken fallenden Last von Zöpfen.

Aber nein, das war es ja nicht gewesen! Oder es war doch nicht genug! Ihr Kleid war das Drückende, und sie glühte, und im nächsten Augenblick hatte sie die ganze geringe Bürde der zwei Röcke und Wäsche von sich gestreift und auf den Sessel gelegt, leise, als dürfe niemand es merken. Sie legte Schuh und Strümpfe hinzu und ging dann halbgeschlossenen Auges, die Hand um die linke Brust und mit dem unsicher weichen Gang der ungewohnten Nacktheit im Freien, erst nur bis zum Türpfeiler, den sie umfaßte, und an dem hin sie sich selber hinunterdrängte, sich hingleiten zu lassen ins Gras.

Augenblicks durchrann ihren ganzen Leib ein magischer Schlag von solcher Gewalt, daß ihr Herz stand. Dann lag sie angeschmiedet, hineingefügt in die glühende Erde. Schon fühlte sie weit am Ende ihrer ausgebreiteten Arme, so weit wie am Himmelsrand, ihre Hände schreckenvoll vergrößert, und nicht Gräser, nein Gesträuche, nein Bäume wuchsen zwischen den Fingern hervor, ihre Finger waren Wurzeln, sie dehnte sich, aus riesigem Gewipfel über ihr stürzte Finsternis und Gold, da war ein gewaltiges Gesicht, da brauste es aus ihren Fingern nach oben, reißenden Himmeln zu und hinein, es brauste herauf durch die Arme zu den Schultern, daß sie schmerzten. An ihrem Rücken war die ganze Erde, ein andrer, ein riesiger Rücken, ein ungeheures Tier, das sie trug, hinwandelnd langsam durch ungemessenen Raum, und dann war auch dies nicht mehr, wieder Ruhe, und nur das langsame ächzende Drehen der Kugel, mit der sie eines wurde.

Unaufhörlich aus dem Himmel über ihr fielen blaue Stücke mit goldenen Rändern und zergingen lautlos an ihr, aufbrennend in Flammen sonder Asche und Rauch.

Ein Angstgefühl, das nicht menschlich war, ergriff sie jetzt. Sie lag bewegungslos, sie wollte sich aufrichten, sich losmachen, allein umsonst. Jetzt, dachte sie plötzlich, jetzt geht der Gott durch den Wald, jetzt steht er im Tal, jetzt sieht er herauf! Sah er mich? Ach!

Unter dem qualvollen Zwange, sich aufzurichten, gab es in ihr einen Riß, und langsam, erstaunend, erhob sich die sanfte, feierliche Seele aus ihr, sah sich um ohne Bangigkeit, sah hinunter vom Gipfel des Gebirges über das gewaltige Land, zu andern, schweigsamen Bergen voll Dunkel hin, über den abendlichen Strom, über die ewigen Hügel von Grün; atmete das Gold ein der regungslosen Lüfte, der unendlichen Abgeschiedenheit, und sie erkannte mit einem Schluchzen, süß betroffen, ihre Heimat.

Dann saß Renate aufrecht und gewahrte deutlich drüben zwischen der braunen Buche und der Fichte in der schwarzen Dämmrung ein weißes, menschliches Gesicht, klein, sanft, ewig, – und sie schrie auf aus tödlich entsetztem Herzen: Ech-en-Aton!

Da begriff sie: der da kam, war Saint-Georges, aber das war ein und derselbe! – Und noch zitternd, übermenschlich sich wehrend gegen den Kommenden, schmolz sie schon hin, schmolz hin zu seinen Fußen, lag hin vor seinem Nahesein, und das Niegekannte, das Niegewußte, das Niegeglaubte, das Gefühl über allen Gefühlen, seufzte sich los aus dem Stein, nicht mehr Lust, nicht mehr Grauen, ein beides in ungeheurer Majestät, nur Dasein grenzenlos, Süße grenzenlos, und mit dem Herzschlag des Wissens: es kam! und: es ist da! vergingen Leib und Seele ihr in das strömende Schluchzen, mit dem sie ihn empfing.

Da rauschte nieder zu ihr alles Leben der Höhen und vereinte sich mit den aufwärts stürzenden Tiefen. Über sie hin ging ein Regen von Küssen, in dem sie sich löste, und sie war eine Wolke von Küssen um den Gott. Bäume, brausend, warfen sich mit herunter zur Umarmung mit tausend Zweigen; herunter zu ihr schmolz der Himmel, herunter taumelten Schwärme von Gefieder, in unterirdischen Strömen ihres Blutes zogen Geschwader silberner Fische noch stumm, Vögel mit Fittichen von Sternen bewegten sich versuchend in ihrem Haar, auf und nieder wogten die Berge, wartend auf das Zeichen zum Aufbruch, da stand das riesenhafte Einhorn schneeweiß auf einer Silberzacke und senkte das Horn auf ihr Herz.

Eine Fanfare von Schmerz, ein ungeheurer Leib auf dem ihren, der sich regte, und so zog durch ihren Schoß ein die Orgelbrandung des himmlischen Sterbens. Noch verbrannte an der Berührung eines Mundes ihr Mund zur zitternden Narzisse, und eines Schlages war die Stummheit aller Kreatur aufgelöst in ihrer Umarmung zu schallender Harmonie. Es lobsangen in den Höfen die Engel, in den Lüften die Vögel, hinschweifend ohne Pfade, in den Bergen tönten die Erze, auf den Bergen die Wälder, Gebrüll der reißenden Tiere in Tälern ward Gesang, Heerscharen der Fische zogen musizierend nach Sonnenaufgang, und in Strömen und Quellen, in Teichen und Wasserstürzen standen Orgeln und wandelten Harfen, erklingend, erklingend, ewige Tage lang, bis aus dem unsterblichen Abend, einsam, die Flöte des Hirten Frieden blies, über Dämmerung, durch das Finster, und ein Stern ging auf.

Es war Nacht. Fremde Bäume rauschten gedankenvoll. Eine Kühle ging nachdenklich aus dem schwarzen Dickicht hervor, breitete die Arme und verhauchte schaudernd den Geist. Schonungsvoll zerfiel eine gealterte Vollkommenheit. Das dunkle Tier irrte zackig umher. Langsam fielen eisigklare, ruhige Tränen.

Aus den Papieren Georgs

Auf Hallig Hooge

Mir scheint, ich bin ruhiger geworden. Sollte das die Wirkung dieser ganz grünen Insel sein, auf der ich nun hause? Wir sind heute nicht abergläubisch mehr, und im Gegenteil, was diesen Telemach anbetrifft, so machen ihm die Geister und die Toten beziehungsweise ein gewisses Behagen. Übrigens sind ja auch Lebendige vorhanden, obschon auch diese besondre Untertanen des Todes, sein Zeichen tragend an der Stirn: Bogner, den er eben aus seinen Reichen entließ, und Ulrika, die – ich hoffe – nur hindurchgehen wird. Nur das Mädchen Cornelia scheint munter.

Der notwendige Hauptmann, den sie mir mitgegeben haben, scheint sich gut ertragen zu lassen; er schweigt. Birnbaum wird ihn ausgesucht haben. Da er bürgerliche Kleidung angezogen hat, könnte er der Pächter dieser Insel sein, seit langem: Einsamkeit steht um sein bartloses Gesicht wie ein fester Bart, gut und ruhig sind die Augen, immer scheint er zur Teilnahme bereit. Doch er schweigt. Ein wenig hat er etwas Russisches, vielleicht ist er Balte; die Sprache verriet nichts.

Ja, hier kann man leben und sterben! dachte ich schon im Segelboot auf der Fahrt.

Ja, so gieb nach, Georg, gieb einmal nach und sag es! Sage, wie unbeschreiblich es dich schon ergriff auf der Fahrt. Vom Festland der weiche, emsige Wind trieb das Boot in gerader Fahrt, weich reitend über die dunkle bläuliche See. Und da, wie vor dir nur Himmel noch war, zu sehen, ja fast schon zu fühlen die grenzenlose und berauschte Seligkeit, die seiner Umarmung mit dem Ozean ausstrahlt, – großes, locker bewegliches Getümmel grauer und weißer Wolken überm blauen Grund, und die Wasserwüstenei, kalt, nicht weit zu überschaun: unwiderstehlich preßte da der kühle, brausende Odem der Göttin sich in deine Brust, verdrängend den kranken Menschenatem drin, bis es nur der ihre noch war. Oh ruhiges, mildäugiges Leuchten der Nachmittagsstunde, schräge von oben durch die Breschen der himmlischen Wanderung! Oh wieder empfindliches Zittern beim Eintauchen in ihre leiblosen Schatten! Oh wieder Entschweifen weithin und voraus des entfesselten Blicks! Bis wieder ein Festes dem Auge sich bot, und plötzlich entzaubert das Inselgebirge sich schwimmend erzeigte ganz grün.

Wenn ich nun die Augen schließe und mir die Insel vorstellen will, erscheint sie mir besondrerweise immer aus der Vogelschau, – erhob mich so mein Gefühl? – Ich sehe den kreisrunden grünen Kranz des Deiches aus einer wolkigen Höhe, fest hineingefügt in die ungestüm daraufzu und an zwei Seiten vorübergewälzte dunkle See; sehe die leere Wiesenmulde im Kranz, und sehe, daß sie ein Amphitheater ist, diese Insel, denn an der Wattseite fehlt ein Stück des Deiches, dort ist flacher Strand, und dort zur Linken, schräge hinter dem Deich, liegt das Gesindehaus, langgestreckt, mit seinem schwarzmoosigen Schilfrohrdach, etwas erhöht, überwölbt vom einzigen Baum, dem Birnbaum voll kleiner, glänzend grüner Früchte, dahinter Gemüsefelder. Vom offenen Strandstück quer durch das grüne Tal führt ein getretener Pfad ganz grade zum ›Kavalierhaus‹, das übrigens dem Gesindehaus gleicht, außer daß es Fachwerk ist, weiße, jetzt schwärzliche Balken mit blauer, jetzt weißlicher Füllung, während das andre ganz rot ist, in dem seinerzeit die Begleitung des ›Astrologen‹ wohnte. Und keine dreihundert Meter östlich von ihm steht der achteckige Turm der Sternwarte oben auf dem Deich.

Ich glaube, ich zitterte seltsam, als ich wieder den festen Boden betrat. Ja, hier läßt es sich leben und sterben … Die schrägen, an der Außenseite vom Seetang ganz begrünten Wände des Deiches stiegen haushoch – und das scheint berghoch dahier vor der riesigen Fläche. Vom Winde war plötzlich kaum ein Hauch mehr zu spüren, es war rätselhaft still. Rechts, am innern Abhang des Deiches, wo er endete, waren zwei weiße Ziegen angepflockt, die bei meinem Anblick sofort entgeistert die Bärte hoben, sich ungemein wunderten und sich verabredeten, so weit näher zu stelzen um ihren Pflock, als es die Kette erlauben würde. Menschen waren nicht sichtbar, und so ging ich in die tiefe, grüne Stille des Tals hinein, abgeschlossen von aller Welt durch die berghohe Umwallung, deren westliches Stück eine breite Schattendecke in das Innere legte.

Das Haus, auf das ich von ferne zuging, ist gebaut wie alle Bauernhäuser der Landschaft, langgestreckt; ein Mittelstück ist überhöht, links sind die Stallungen (hier freilich keine), rechts die Wohnräume; Vorder- wie Hintertür in der Hausmitte sind zerteilt, so daß die obere Hälfte sich allein aufschlagen läßt und man darin lehnen kann.

Wie freundlich leuchteten mir im Näherkommen dann das Blau und Weiß des Hauses im tieferen Licht und im Blumengarten davor Gebüsche von rosigem, weißem und ziegelrotem Flox! Ich glaubte, wieder wie einst, das große Wandern der Sonne spüren zu können und wieder Raum in meiner Brust.

Als ich dann zum Hause gelangt und zur Linken um seine Ecke gebogen war, hatte ich dies unvergeßlich scheinende Bild:

Zwanzig Schritte hinter dem Hause wieder die hier gelindere Steigung des Deichs, – rundum schließend wie ein Ende der Welt. Hoch oben stand, noch ganz am Rande, die Gestalt der Cornelia, die ich gleich erkannte, obwohl sie schräg von mir abgewandt stand nach der See, ganz leuchtend vom feurigen Sonnenschein, im blauen Kleidrock und weißer Bluse und in einer Haltung, als ob sie im Gehen festgewurzelt wäre. Ein paar Schritte weiter rechts saß, zur See gewandt wie sie, auf einem Feldstuhl ein grauhaariger, unbekannter alter Mann, in dem mich erst Erfahrung zu meinem tiefen Erschrecken den Maler Bogner erkennen lehrte, – und Beide über der grünen Wand waren wie vor einer sattblauen, vor dem leeren Himmel, ganz nahe davorgesetzt. – Und dann, wie ich wieder nach unten und zur Rechten sah, gewahrte ich auf einer Bank vor der Hauswand Ulrika Tregiorni in einem grünen Kleid, die Hände im Schoß, sitzend in einer solchen Ergebenheit, so sich hineinfügend in die Tiefe, über der droben die beiden Andern feierlich eifrige Ausschau hielten über ein unsichtbares Land, – daß es schmerzlich zu sehn war.

Unbeschreiblich war dann die Freude des Malers, als ich seinen Namen rief. Wie er sich umdrehte im Sitzen; wie sein gealtertes Gesicht sich veränderte in der Freude; wie er aufstand und die Arme nach mir ausstreckte wie ein Vater – leider im Stehen noch verkrümmt infolge der fehlenden Rippe –; wie ich zu ihm hinauflaufen mußte und er fast weinte, – ach, ich fürchte doch, dies ist mehr erschreckend als erfreulich, denn früher war er alles andre als weich. Mir aber blieb alles nach in der Brust und so, als ob unmerklich eine Seele wieder sich bilde, von weicher Wasserfaltung erwacht, zartes Korallengeäst in dem Dämmer der Tiefsee.

Ich bin also in den besondren Turm eingezogen und so weiter, – ich weiß nicht, mir wird auf einmal wieder so unruhig …

*

Ah, haha! Rideamus, amici! Nun lustig, lustig, rideamus, und die See brüllt dazu wie besessen, denn warum? Ein neuer Aspekt des Todes, jawohl, jawohl, jetzt hätten wir alles besonders beisammen, rideamus nunc, was stellt sich heraus? was fördert sich, was muß ich selbst zutage fördern, wie ich nämlich mit Ulrika und Bogner abendlich dämmernd zusammensitze und keiner was zu sagen weiß und ich deswegen nach Irene frage? Dieselbe ist wieder im Kloster und warum? Nach einem endgültigen Endkampf mit diesem besondren Klemens haben sie sich zur süßen Liebe entschlossen, aber deswegen keine lieblichen Gefühle – nein, bloß nicht weich werden! – sondern er stößt sie von sich, jedoch – das ist nicht meine Sache, aber wie es entstand, das ist die besondre Frage, und zwar war es der große Mummenschanz naturgemäß, der jenen Klemens zu grausamen Schmähungen veranlaßte, weil Dieselbe trotz Verehelichung mit einem roten Sozialdemokraten es leckerte nach dem dynastischen Gepränge, und demgemäß, wer trägt die Schuld auch an dieser besondren Verwirrung? Immer derselbe. Nein, bloß nicht weich werden, und die See brüllt wie besessen, denn weiter: Spazierend am schmalen Gestade der Ebbe mit der sogenannten muntren Cornelia, will ich was Munteres sagen und öffne die Lippen zur Frage: Wie gehts eigentlich jenem Josef von Montfort? Oh erbarmungswürdige Entgeisterung! Einerseits und dann beiderseits, denn siehe da, derselbe ist maustot, umgebracht von dem eigenen Bruder! Rideamus, es ist zum Haarausraufen, denn gleich holt mich der Teufel, wenn das sich nicht auf immer denselben Mummenschanz zurückführen läßt, bloß nicht weich werden, denn das ist freilich noch nicht alles, denn sie weint ja nun und zeigt sich besonders bekümmert, daß dies an ein und demselben Tage vor sich ging, an dem auch der bekannte Maler beinah sein liebes Leben verlor, und auf Befragen erzählt sie gern eine höllische Szene, nämlich wie sie ein grausames Schießen hört, mitten am friedlichen Nachmittag, immerzu Knallen und Knallen, und hinunterläuft und in ein Zimmer, und da steht ganz rauchend dieser Bogner, oder vielmehr er fällt schon hin, vornüber auf eine besondre Fensterbank, fluchend und röchelnd und mit einer besondren Pistole fuchtelnd, und immer in seinen roten Teufelshosen vom Mummenschanz dazu, und draußen im Freien, wer liegt an der Erde und sagt auch nicht ein Wort mehr? Natürlich der andre Duellant, tot wie eine Ratte, und sie haben sich Beide mindestens mit zwanzig bis dreißig Kugeln durchlöchert, bloß nicht weich werden, denn siehe da, worüber zerbrachen sie sich lange den Kopf, Cornelia und auch die Ulrika? Wie ihr sogenannter Ehemann ihn hat ausfindig machen können, aber Bogner offenbarte dasselbe, denn der Ehemann muß ihn beim Mummenschanz gesehen haben zusammen mit Ulrika, seinen Namen erforscht, da er ihm natürlich gleich besonders erschien, und ihm nachgegangen sein, nachgegangen wem? dem mit den roten Beinen, sie ließen sich auf keine Weise aus den Augen verlieren, im dichtesten Dickicht der Beine nicht, und so geschah's!

Rein in die Hölle, raus aus der Hölle, und nicht weich werden und die Rechnung aufgestellt, denn nun hätten wir ja den Unheilsberg strahlend beisammen, als da sind: Esther und Sigurd, Cora und Magda, Josef, Erasmus, sein Vater und Renate, Cornelia und Cordelia, Bogner benebst Eltern und Ulrika mit Mutter, Irene nebst Ehemann und Klemens, bloß Helene ist leider noch immer nicht dabei, und über Allen schwebt – – –

Ich, ich, ich! Ich hinter der Maske, da saß ich jahraus und jahrein über Töpfen und Retorten und destillierte das zarteste Gift, verabreicht' es an einem Tag, und da sitze ich nun mit meinem grinsenden Schädel auf dem Berge der Leichen und kann meinen Nabel betrachten!

Auf, laßt uns nun wahnsinnig werden!

Den Verstand verlieren, o mein Gott, den Verstand verlieren! All ihr Götter, wie kann ich denn einen haben, wenn ich ihn jetzt nicht verliere!

Renate an Saint-Georges

am 7. Oktober

Mein Geliebter!

Siehe da, ich schreibe und weiß nicht wohin. Der Gedanke, daß Du augenblicks in die Welt aufbrechen solltest, um das Tal und das Haus zu finden, in dem wir bis in alle Ewigkeit wohnen würden, war preiswürdig, als wir ihn dachten, nun aber jammert mich seiner, er hat gar so viel Ähnlichkeit mit einem halb ersoffenen Kätzlein. Legen wir es auf den guten warmen Ofen bis übermorgen, und trösten wir uns derweil mit der süßen Speise Wiedersehn und dem klaren Weine, der Dann-niemals-mehr heißt.

Ach, mein ewiger Geliebter, wenn es in der Welt etwas giebt, das anders ist als alles Leben und alle Dinge dieser Welt, und das Liebe heißt, was kann denn dieses anders sein als die Vollkommenheit? Und wenn sie die Vollkommenheit wirklich ist, so ist doch alles, was geschieht, in der Liebe geschehn, was der oder die Liebende tut, was sie nur denken und anfangen, es muß alles in der Liebe sein und vollkommen. Demnach ist ein jedes verständlich und ganz klar, und daß Du dort bist und ich hier, auch dieses muß Vollkommenheit genannt werden, ich sehe es vollkommen ein und begreife es, bloß: sie ist nicht so leicht zu ertragen, diese Art von Vollkommenheit, und sicher ist Übermorgen gar nicht, aber Du kommst ja erst Freitag.

Freitag, das soll auch so was heißen! Morgen ist Dienstag, übermorgen ist Mittwoch, überübermorgen Donnerstag, und was über überübermorgen geht, das kann schon kein Mensch mehr aussprechen, also was fang ich an? Soviel im Hinblick auf die Vollkommenheit …

Übrigens:

Renate

Nachts

Aber eben als ich aufwachte aus dem Schlaf, und Du warst nicht da, als ich das Alleinsein spürte und den immerwährenden Schmerz und den Verlust, da fühlt' ichs doch auch: daß es viel mehr ein Verlust meines Wesens ist als meines Habens, ach, und daß es vielleicht nur einer kleinen Anstrengung bedürfte, um mein ganzes Wesen, dies hier und das Stück dort, wo Du bist, wieder ganz zu fühlen, und schon wie ich es versuchte, da – nicht in mir, ach, das nicht! Aber in der Welt fühlte ich die Vollkommenheit ganz heil und unerschütterlich, und ich seufzte.

Denn Du und ich sind eins und vollkommen, und eins und vollkommen in uns ward die zerrissene Welt; darum sollten wir nicht trennen, auf keine Weise, was eben erst heilte.

am 8. Oktober

Dein Bruder hat Schülerwitze gesammelt in den letzten acht Wochen und läßt sie nun vorsichtig los. Meist kann ich sie nicht behalten, aber höre diesen: Kannst Du mir einen Satz sagen, in dem die Worte an und bis hintereinander vorkommen? Nein, Du rätst es ja nicht. Du rätst es ja ganz verkehrt! – Es heißt: Ich angelte, wo der Fisch anbiß. Ach, wie kann es so etwas Dummes geben!

Aber Du Fischiger, weißt Du auch, warum diese Dummheit mein Gedächtnis anbiß? Weil Du schon ganz kalt und naß anzufühlen bist vor lauter Fischigkeit, will sagen lauter Stummheit! Ich rede den ganzen Tag mit Dir, Du hörst weise zu, aber Du schweigst wie Dein weißes Abbild vor mir auf dem Tisch. Ich sehe es an, bis mir die Augen übergehn, und dann wird mir unbegreiflich zumut.

Ech-en-Aton und Du! Ist es möglich, daß ich ihn hatte und Dich, drei lange Jahre lang, und doch glauben konnte, Ihr seid zwei? Ist es, war es wirklich möglich: drei Jahre zusammen mit Dir, am selben Tisch, im selben Raum, in derselben Luft tagaus und tagein und blind, so ganz blind ›für was in dünnem Schleier schlief‹? Nein, wäre es möglich, daß plötzlich glühen kann, was durch Jahre hin nicht kalt war, nicht warm? Daß Augen eines Abends in lichtem Feuer stehn, in Feuer der Mund, in Feuer das Haar und der ganze Mensch, ein Feuerofen, aus dem ein selig Verbrennender singt? Ach, Geliebter, es ist wahr, und es mußte so sein, denn es ist ja kein Du und kein Außen, für das ich plötzlich Augen und alle Sinne bekam, sondern das ist meine brausende Seele, die endlich, endlich über die Ufer ging und mich himmlisch zerriß. Und ich kann es doch nicht fassen, nein, nie, nie, niemals werde ich es fassen können, daß diese Hand hier, die schreibt, an einem Tage süß geworden ist, ach, so süß durch die eine Berührung, daß ich denke, alle Bienen müssen kommen und sammeln und die ambrosische Wabe bauen in Gottes Herz! Und so süß, daß ich sie manchmal hinnehmen muß in die andre, sie halten und fühlen schwer wie von Gold. Ach, so verwandelte schon ein holder Geist den Stab des Armen auf der Straße, daß er schwerer ward und schwerer in seiner Hand und längst zu Golde geworden war, ehe der es begriff mit den Augen. Ja, ist es nicht so? Es vollzieht sich die göttliche Wandlung, wir wissen es längst, alle Sinne wissens und sagens, aber da ist noch ein letzter Sinn, der weiß nichts, und grade der ists, den wir zum Erkenner gemacht haben, und endlich, endlich erfährt es auch der, wie der einsamste Siedler in den Bergen vielleicht von einem Kriege hört, der die halbe Welt zerriß, und er ist fast schon vorüber. Ein Schiffer vor tausend Jahren fuhr durch die Nacht an einer Insel vorüber und rief hinein: Der große Pan ist tot! – Und da, als dieser Schiffer es rief, da wußte es erst die Welt. Ach, aber wenn etwas sein sollte, und es ist nur ein Ding der Erde, das nichts davon weiß, so ist es noch nicht, so kann es nicht sein.

Mein Geliebter seit Ewigkeit, das warst Du! Und Alle, Alle, alle Geister der Erde haben es gewußt, nur ich nicht, nur ich! Und ob ich es nun auch zehntausendmal weiß: ich sehe mich nur immer an und frage mich und kann nicht begreifen: Warum ist sie denn jetzt süß, diese Brust, die linke und rechte, und süß dieser Mund, süß das Haar und die Knie und der ganze Leib unaufhörlich ein schluchzendes Wunder von Süßigkeit, warum, wenn er es vorher nicht war?

am Abend

Ich habe Dich im Süden und Norden gesucht, mein Geliebter, ohne Dich zu finden, kam müde heim, und da lächelst Du mich an aus meinem Herzen. Der Mond stieg, die liebliche Sichel, aus dem Meer. Nein, nicht aus dem Meer kommt der Mond, sondern aus der Tiefe der Welt; nicht aus mir kommt die Liebe, sondern aus der Tiefe der Welt; und Mond und die Liebe, sie fahren einer im andern durch mich und das Meer in die ruhige Tiefe der Welt. Schlafe wohl, mein Geliebter!

Renate an Irene

Helenenruh, am 8. X.

Irene! Irene, muß ich wirklich, oder besser noch, darf ich es wagen, den Drachen des Schweigens, von dem Du Dich verzehren lässest, mit dem Schwert meiner Rede zu bestehn? Ich könnte Dir, arme kleine Aja, freilich auch einen richtigen Saint-Georges zu Pferde schicken, der Dir und mir den Lindwurm erlege, aber leider kann ich ihn heute noch nicht entbehren …

Oh Worte, oh Worte! Komme zu mir, und Du wirst alles wissen. Ich bin glücklich. Du kannst es auch sein! Ich liebe. Du kannst es wie ich, ich werde geliebt, und Du kannst es werden. Kannst Du nicht lieben? Liebst Du nicht lange? Ich sage Dir, Irene, daß Du rasend bist, wenn Du andre Wege irgendwo suchst und vermutest, daß Du rasend bist, wenn Du nicht aufbrichst auf dem einen Weg, Dich hinzuwerfen und zu lieben!

Liebe, liebste Irene, muß ich Dir vielleicht noch erklären, wie Du das machst? Laß Dir sagen, Du brauchst nichts zu tun, als hinzugehn, wo Dein Georges, also Dein Klemens ist, und zu bleiben und zu lieben. Wenn er sich wehren sollte, so mußt Du ihn mehr lieben. Dann könnt Ihr Euch heiraten oder nicht heiraten, aber von nun an sollt Ihr alles gemeinsam tun, schlafen und essen, Werktage haben und Feiertage, eine Wohnung nehmen und drin wohnen, Einkäufe machen und Bücher lesen und Spaziergänge machen und keinen Armen von Eurer Türe weisen, und was es auch sei: hierin, hierin wird Eure Liebe, die Liebe sich zeigen und bestehn, und wenn dies so ist, werdet Ihr heilig geworden sein und dürft mit Eurer Berührung schon an Kranken und Beladenen, an Traurigen und Schwachen – Wunder der Liebe entfalten.

Dies verheißt Dir

Renate

Renate an Saint-Georges

Nachts am 9.

Heute nachmittag fuhren wir vom Böhner Hafen im Segelboot nach Hallig Hooge, Magda und ich mit Deinem Bruder und Li. Ulrika ist nun im siebenten Monat, und man sieht es; sie ist sehr still geworden, ihr Gesicht erschreckend verändert und auseinandergetrieben. Dem Maler – doch davon nachher. Wie die Insel aussieht, weißt Du, der Tag war köstlich, kühl, aber licht, der große, von allen Seiten her aufgebaute Himmel bewegt von reichen Scharen riesiger Wolken, schneeweiß, das Meer darunter, von ihren Schatten durchdunkelt, in Streifen schwarzblau und lebhaft bewegt, aber ganz ohne Schaum. Als Ebbe war, zogen Ulrika, Magda, die Cornelia und ich Schuh und Strümpfe aus und wandelten als Kette Arm in Arm den Strand hin, schrien und sprangen, wenn eine Welle über unsere Füße ging, und auf seinem Turm stand der arme Sternedeuter Georg mit einem langen Handfernrohr und betrachtete uns durchbohrend. Aber er zeigte sich nicht, obwohl wir Li als Boten zu ihm schickten. Armer Georg! Ach, und arme Liebe, die Magie ist nur an Zweien, an mir und an Dir! Müßte ich nicht die Hand auf seine Stirn legen können und sagen: Stehe auf und wandle? – –

Ich habe keine Grenzen an mir, wenn ich allein bin und eingehe in unsern ewigen Gedanken. Immer wieder ist sie dann, die einzige Stunde, und alles hebt wie damals an: aus unsern Herzen der einige Strom, großen Ganges durch die schlafende Welt, wir selber der Strom, nicht mehr Gestalt, nur unermeßlich Fluten, Wogenberge gleitend hingetürmt, durchqueren wir das alte Erdenland. Nicht einsam, Geliebter, nicht einsam! Sieh, es bevölkern sich unsre glücklichen Gestade, und wir, heilig leben wir, verhundertfacht wieder haben wir Herz und Odem und Gestalt in allen Wesen, die wir laben: Wenn sie, die großen Fabeltiere, sie, die erlauchte Tiere noch sind, Behausungen nur der Götter, noch Götter nicht, noch nicht Strom, die einsamen Liebenden all: wenn sie von ihren Weideplätzen hergewandert kommen scharenweis, oder auch einzeln in der dumpfen Leidenschaft der Einsamkeit; wenn dann ihr tief und frommes Schlürfen hörbar ist allein im weiten Mondesschweigen: oh wie leb ich, wie leben wir dann, tränkend, nährend, Liebe zeugend, da wir Liebe sind!

Und ich weiß, daß es einmal sein wird, weiß, daß Liebe Liebe zeugen wird, einmal, ich weiß – –

Und dennoch: es braucht nur irgendein Mensch vor mir zu stehn, leibhaft, so habe ich schrecklich nahe Grenzen überall, und kaum ein Strahl dringt aus meiner Hülle zu ihm. Wer sieht denn die Liebe, ach wer? in ihren Augen sind wir gewöhnlich wie sie selber, gekleidete Menschen mit Aussehn und Handeln: aber doch Liebende nicht! – Bogner freilich, er hat ja selbst einen Gott in der Brust, der erkannte sich gleich mit dem unsern, und sie lächelten einander zu. Noch seh ich ihn vor mir sitzen auf seinem Feldstuhl oben auf dem Deich – Stehen und Gehen gelingt ihm noch kaum, obgleich er schon ganz gut Fleisch angesetzt hat, auch braun geworden ist und sein Auge wieder das alte, helle – dasitzen und zu mir aufschaun mit seinen einzig sehenden Augen. Er sagte kein Wort, hielt nur meine Hand, und so erfuhr er alles und lächelte und war meiner froh.

Es wurde Nacht, ehe die Flut kam und wir zurückfahren konnten. Das Wattenmeer regte sich kaum, wir schaukelten auf seinen Atemzügen, schön wie ein Geist stand das bleiche Segel unter den herbstlichen Sternen. Da sah ich zum ersten Mai in diesem Jahr den Orion, Zeichen des Winters, und ich bat ihn, den großen Jäger, daß er mir Dich erjage und bald, bald die heilige Beute lege an mein zitterndes Herz!

am 10.

Du hast mir so schöne Namen geschenkt, mein Geliebter, und ich hole sie so behutsam hervor wie irgend wirkliche Kleinode, halte sie lang in den Händen und freu mich an ihnen, ehbevor ich sie anlege und vor den Spiegel trete, noch schöner als schön! Ach, und wenn jemals eine Armut war in meiner Schönheit, wie ist sie nun Reichtum geworden durch deine allsehenden Augen!

Ach ja, mein Gebieter, wenn Du sagst, daß ich die Magnetnadel sei, die niemals jemand einstellen könne als sie selber, so will ichs gern glauben, und die drei Jahre tun nicht mehr so weh. Mit Libussa aber, dieser Huldin, das stimmt doch schon gar nicht, denn wo blieb das weiße Pferd? Oder sandt ich es wirklich – im Traum? Am Morgen mags gewesen sein, als ich am Parkrand schlief nach dem Bad; der Nebel war so weiß, da machte mein Traum draus einen Schimmel und schickt' ihn zu Dir, und da kamst Du auf ihm geritten durch das Wasser des Teichs, denn war die Brücke nicht hoch? Woher aber dann die nassen Beine, mein Fürst, wo das Wasser doch ganz flach ist für ein Pferd? Nein, nein, ich seh Dich schon durchwaten, ich seh Dich, und Du bist der umgekehrte Christoferus gewesen, – oder wars nicht so, daß die Last der Liebe auf Deiner Schulter leichter und leichter wurde mit jedem Schritt zu mir her?

Was aber mich betrifft, so werfe ich alle Bürden kurzerhand von mir und breche morgigen Tages auf heimwärts. Morgen, sagst Du, kommst Du zurück, den Zug weiß ich auch, da bin ich an der Bahn, und es ist herzzerreißend schön, wenn wir uns unter all den Menschen wieder sehn und nichts sagen können und nach Hause fahren und – und – – und – –

Weißt du nicht, daß ich ein Weib bin, sagt die gute Rosalinde im Shakespeare, und nur denken kann, wenn ich rede? – Na, glaubs schon nicht, Teuerster, ein bißchen kann ich schon, auch wenn ich nicht rede, aber nun nimmt es ein plötzliches Ende und – und –

Und ganz schön still bin ich wieder und rede nur noch unsre heilige Sprache, der Liebe einzige Sprache des Schweigens, dort, in meinem Zimmer, in meinem alten Leben, im alten Muschelbett der einst lieblosen Träume, – des Schweigens Sprache, einsilbig in immer dem selben Kuß!

Saint-Georges an Renate

Den Du erwartest, der kommt nie zurück.

Es muß eine Wahrheit gesagt werden viel zu spät. Und darum ist die Schmach, sie nicht in Deine Augen sagen zu können, leicht genug zu tragen mit dem Ungeheuren.

Kommt nie zurück. – Denn –

Es sind am heutigen Tage drei Jahre und drei Tage her, als er Dich zum erstenmal sah; im ersten Augenblick das Schicksal wissend, das ihn mit Dir zusammenfügte; im nächsten auch schon das Zweite: daß Du die Magnetnadel seist, die niemand einstellt als die Kraft. Das Dritte ahnte er damals nicht.

Daß es drei Jahre dauern würde, drei niemals endende Jahre der unaufhörlichen Qual. Und daß, wenn diese drei Jahre dann ein Ende genommen haben würden, das Feuer sich selbst verzehrt haben sollte und nichts mehr sein.

Daß Du aber an ihrem Ende kommen würdest, ausgestoßen, aus einer ganz verschütteten Welt, in sein Haus, schon wissend – und doch es nicht begreifend –, daß niemand mehr war als Du und Er.

Und daß zwei Nächte der vollkommenen Hölle sein würden, Tür an Tür mit Dir und – genug!

Und danach die Erkenntnis.

Und danach die Angst, daß nun das Unselige kommen würde, nun, nun! daß die Nadel sich einstellen werde in diesem Augenblick, in jedem nächsten, der bevorstand. Und die Angst, daß die Erkenntnis ein Irrtum sei. Und so lag er über der Asche Tage und Nächte, blies und blies, bis dann beide Ängste ihn hinüberrissen zu Dir, um – was? Vielleicht – nur zu gestehn. Vielleicht wegen der Erlösung.

Da aber war die Insel. Da war die Erkenntnis ein Irrtum gewesen. Da kam der Flug in die Flamme. Und durch die Flamme. In das zeitlose Eis.

Da war sie doch wahr gewesen, die Erkenntnis.

Noch ist zu sagen von einer Flucht und einigen Tagen sinnlosen Kampfes um das, was längst nicht mehr war.

Und zu sagen vielleicht von der ruhigen Kälte Eines, der drei Jahre im Feuer stehn sollte – ganz kalt.

Und vom Ende und diesem Briefe, der keine Namen hat. –


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