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Viertes Kapitel

Magda/Renate

Georg war, als er das Frühstückszimmer wieder betrat, zufrieden mit dem, was er an sich beobachten konnte. Denn nicht nur, daß er die jetzt anwesende Renate, weil sie mit dem Rücken am Kreuz der Glastür lehnte, – so daß er, selber ins Helle blickend, ihr vom Licht abgewandtes Gesicht nur undeutlich wahrnahm – für Irene hielt, zumal sie die Füße im Stehn vorgeschoben und sich dadurch verkleinert hatte; nein, auch als er sie erkannte, war, was ihm aufs Herz fiel, eher eine abweisende Kühle, und er fand sich unangefochten. Auf seine Frage nach Irene wurde ihm gesagt, daß sie sich immer noch angegriffen fühle und nicht vor zehn Uhr zu erscheinen pflege. Renate – er sahs – hatte wieder geweint, und Georg hatte eine alte Abneigung gegen vieles oder leichtes Weinen von Frauen. Im Augenblick trug sie freilich einen skurrilen Ausdruck zur Schau, der ihr Gesicht lieblich verkleinerte, die Augen blank machte und etwas spitz wie die kleiner Tiere. Georg äußerte zu Anna – im stillen Renates Kleid bewundernd, das von blauem Violett, in der Form dem der Äbte glich, mit weitem, faltenreich glänzendem Rock und engen Ärmeln, die bis zum Ellbogen ein schlichter Schulterkragen bedeckte –, ob sie nicht auch fände, die Abatissa habe Augen wie ein Wiesel heut.

Über Magdas Gesicht ging ein ungemeines Glänzen, während sie, ohne die Augen aufzuschlagen, schwieg und fortfuhr, die Knöpfe ihres Lodenkragens zu schließen, Renate fing an zu lachen, drehte sich um, legte das Gesicht in den hochgehobenen Ellbogen und den Arm gegen die Scheibe und lachte so einfältig, daß Georg ungehalten wurde.

»Was lacht sie denn so? Ist heut nicht Charfreitag?«

»Erst Pferd und dann Wiesel, da hast du's«, sagte Anna unverständlich zu Renate hinüber, und indem erschien vor Georg lautlos Egloffstein, ihn blicklos anblinzelnd mit den ganz hellen Augen unter weißen Brauen, Renates Mantel und Schirm in den Händen, die er Georg überreichte. Der aber fand nun, ins Freie blickend, daß es nicht mehr regnete; über die Terrasse glitten Sonnenstrahlen. Es gab noch einen Kampf mit Renate um den Mantel, bis Georg ihn ihr zum Tragen überließ, da er sie und Anna zu führen hatte.

Als Georg dann, Annas Oberarm mit der Linken umspannend, mit der Rechten Renates Handgelenk, seinen Arm unter dem ihren, was sie unbegreiflicherweise zuließ, – als er so am Ende des Hauses die Beiden die Stufen hinabführte und zur Linken den Weg hinab in den Park, sich aufrichtend und Luft einziehend, stimmte er sich ernster, im Gedanken des Wegs, den sie gingen, und an den Annas Rosenstrauß ihn erinnerte.

Naß, aufgeweicht, braun erstreckte sich vor ihnen der stumpfe Sandweg mit glänzenden Lachen an den Rasenrändern. Über die Büsche des Waldes, die zierlich begrünten, lief ein fröstelndes Beben. Vor ihnen, in der Weite der Parkflächen, standen die Bäume noch kahl und ohne Bewegung, während die grünen Gesträuche sich schüttelten im leichten Wind. Birken glänzten kalkigweiß, und stark war der Geruch all des Nassen, Erfrischten umher; österlich wie das Ganze selbst der eilig in grauweißen Wolken fahrende Himmel.

Sie schritten schweigsam, langsam dem Weiher zu. Die Insel erschien, noch ganz schwarz, nur über dem Ufer unten grün mit Buschwerk gefleckt. Georg nahm die Blicke aus der Höhe des kahlen Astwerks zurück und wandte sie insgeheim gegen Renate.

Herzbewegend schien ihm, was er nun sah: zwischen den kleinen Bögen des hohen Halskragens, die unterm Kinn und den Ohren nach außen gerollt waren wie die äußersten Kelchblätter einer Blume, kamen von innen kleine weiße Zungen heraus, Kelchblätter gleichfalls, und daraus stieg, und darin ruhte die geschlossene, feste, reiche Blüte des kleinen Haupts mit den ewigen Farben: Hyazinthblau und Magnolienweiß und Buchenbraun; mit seinem Wunder der Braue; der Sehnsucht von Engeln im Winkel des Mundes; dem Stolz von Byzanz in der Biegung der Nase, – ach, Heliodora, wie war alldas doch festlich und schön gewesen! – Und er bekam den Blick nicht los aus diesem, gradaus schauenden ihres Auges, zwischen winzigen Schlägen der Wimpern aus dem feuchten, gewölbten, durchblauten Kristall; diesem blickenden Leben, dieser sichtbar vor sich hinschauenden Seele aus dem magischen Haus.

Dunkelgrau lag der Weiher, leicht wellenbewegt, zur Linken die schmale Brücke mit dem Rindengeländer; aber die Anna blieb, als er zu ihr einbiegen wollte, stehen, indem sie genau zu wissen schien, wohin sie gelangt war. So hielten auch er und Renate, wortlos, und Georg fand sich emporblickend leise geblendet von einem weißgelblichen Quellen im grauen Gestrudel des Himmels. Nicht weit davon war ein hellblaues Loch von unendlicher Tiefe.

»Weißt du noch,« hörte er Anna sagen, »wen wir hier herausgezogen haben?«

»Wir, Anna? – Übrigens hast du im Leben keine edlere Tat getan«, setzte er mit ungewolltem Spötteln hinzu. Sie bewegte daraufhin nur leise verneinend den Kopf hin und her, streckte die Hand nach dem Geländer aus, fand es und ging allein über die leise sich wiegenden Bohlen. Auch Renate bewegte, da er sie ansah, ähnlich wie Magda den Kopf, machte sich los von ihm und ging langsam davon, den Weg am Ufer hinunter. Also folgte er allein über die Brücke, rasch, um Magda in den Baumgang zu führen, die nach Renate nicht weiter fragte. Georg bedauerte immerhin soviel Zartgefühl, das ihn beraubte.

Magda

Das Herz Georgs schlug an, als er aus dem Baumgang über die kleine Mulde hinaustrat, behutsam und so gleichsam mechanisch wie die Einlaßglocke in einem Hausflur, worauf er das Ausbleiben eines Mehr an Empfinden damit entschuldigte, daß in dem scharfen Sterben dieses Jahres die alten Tode zugrunde gegangen seien. Immerhin empfand er die ernsthafte Feierlichkeit des leicht geschlossenen Raums, über dem er blaue Segel taumlig über weißquellende Meere hinfliegen sah. Die kahle und nasse Buche gegenüber dampfte da und dort unter dem linden Feuer vereinzelter Strahlen; undeutlich an der Rinde erschien das dunkel metallene Schild.

Es waren aber schon Menschen dagewesen. Da, wie Georg sich erinnerte, sein Vater bald nach Helenes Tod eine zweite Brücke hatte schlagen lassen, die von der Landstraße aus zu erreichen war, so fand Georg den Rasen unter dem Baum bedeckt mit frommen Zeichen: Sträuße, Kränze und Schleifen, und um den Stamm – welch holder Einfall eines Kindes! – war eine Girlande von Primeln geschlungen, – ein jungfräulicher Gürtel des Frühlings. Georg teilte Anna dies halblaut mit, und sie gab ihm ihre Rosen, die er in den Primelkranz hing, um ihnen so einen bevorzugten Platz zu geben. Sie standen dann stumm einander gegenüber, getrennt von dem blühenden Durcheinander am Boden, auf das Magdas Blicke hinabgerichtet schienen wie die seinen, und wo der Geruch von Nässe wetteiferte mit dem herben der Stechpalmen und dem leidenschaftlichen der Hyazinthen. Auf einer violetten Schleife, die seltsam an Renates Kleidung erinnerte, entzifferte Georg die in Gold gestickten Worte: Der Unvergeßlichen.

Der Unvergeßlichen … Gewiß vergaß er sie niemals. Drei Jahre bald war sie tot, aber worauf beruhte die Anhänglichkeit dieser Menschen an die immer unsichtbare Gestalt? Dienerschaftsgeflüster, dachte Georg, und dann, daß Güte und langes Leiden wie Christus über den Wellen wandeln nach überall. Indem ward er des Sarges inne, der hier unter seinen Füßen stand. Er fühlte die Luft kühler und fröstelte.

»Sind viel Blumen da?« hörte er Magda fragen.

»Eine Menge.«

»Voriges Jahr«, erwiderte sie, »waren es zwei Sträuße und ein Kranz. Was mag das bedeuten?«

Georg erriet an ihrem Ausdruck, daß sie es auf ihn selbst bezog, und sagte leise: »Ja, die Menschen sind seltsam.«

Stille. Laut schmetternd erhob ein Buchfink seine nahe Stimme, und aus weiter Ferne herüber war eine Amselflöte zu hören.

»Sage mir, Georg,« redete ihn das Mädchen wieder an, »glaubst du je empfunden zu haben, daß sie nicht deine Mutter war?«

Er hob die Achseln. »Wie kann ich das sagen? Ich empfand etwas. Aber ob ich auch, wenn sie weniger unsichtbar gewesen wäre …«

»Aber«, sagte sie, »dein Papa, das hast du doch immer gefühlt!«

»Ja, Anna!« bekräftigte er überzeugt – und schreckte zusammen. Was sagte er denn da? Aber wie mißverständlich hatte sie auch gefragt! – Noch nach einer berichtigenden Antwort suchend, sah er Magda horchend den Kopf anheben und hörte gleich darauf selber Stimmen und Schritte von Menschen. Wenig später standen sie wieder vor der Brücke.

Renate

Unweit am Ufer zur Linken, über der Flut, wo Blaues und Weißes sich schnell ineinanderschlang, saß eine sehr stille, violettblau gekleidete Gestalt, in sich versunken, – Renate auf ihrem Mantel, den sie über die Bank gebreitet hatte, und von ihr ging ein Gefühl von Ernst und Trauer aus. Nahe über ihr flüchteten weiße gestaltlose Nebelwolken unter dem blauen Gewölbe, das durch vielfache Lücken schien und glänzte, und Strahlen wanderten lautlos golden dazwischen umher, erloschen und brachen an anderer Stelle mit lächelnder Sanftmut hervor. Weit und offen darunter das Land glänzte in Heiterkeit; Grün der Wiesen, überall zart erblinkend von gelben Schlüsseln; die kleine weiße Versammlung der Birken, unweit hinter Renate, schien dazustehn gleich Jünglingen oder Mädchen, die auf den Anfang der Wettspiele warten; ganz fern wirbelten Büsche grün und licht, und die Gruppen der schwärzlichen Bäume hatten nichts Struppiges mehr, sondern Weichheit und die unsichtbare Verschleierung ihrer Knospen. In der bewegten Stille der Lüfte regten sich lebhafte Vogelstimmen, zwitschernd und zuversichtlich, durch die lautlos weiche Geschäftigkeit der wandernden Lichtstrahlen.

Ach, mein Frühling! dachte Georg und fühlte sich wieder beglückt; er führte wortlos die Anna über den Brückensteg und den Weg zu Renate hinunter, nach einer Weile erst kurz bemerkend, daß sie dort sitze.

Renate blickte auf, als sie näher kamen, durch Georgs Augen streifend mit einem unverständlichen Blick voll Trauer und Güte. Das verwirrte ihn so, daß er nach einer Weile erst inne wurde, daß sie sich mit Magda stritt, die sich jetzt an ihn zur Entscheidung wandte. Sie müsse zur Generalprobe in die Stadt, und obwohl für Renate ein Vertreter bestellt sei, wolle sie jetzt mitkommen, und Georg sollte es verbieten, da sie doch ihren Fuß für den Abend schonen müsse.

»Braucht sie abends ihren Fuß?« hörte Georg sich ganz freundlich fragen.

»Aber ja doch! Zum Orgelspielen! Zum Pedaltreten!«

Georg, nicht recht begreifend, warum er einen kleinen schneeweißen Eisberg in einem blauen Wasser schwimmen sah, raffte sich auf, sie zu überzeugen, aber der Streit schien bereits entschieden, und er konnte sich nun wundern, die Anna in ihrem hellroten Kleid, den Mantel am Arm, zwar irgendwie unsicher, aber ganz allein den Weg hinabgehen zu sehn.

»Kann sie denn sehn?« fragte er ungläubig.

»O ja, heute ganz gut!«

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gern!« Und Renate zog ihren Mantel, auf dem sie saß, weiter auseinander neben sich, denn die Bank war ganz naß.

Georg schloß die Augen, erquickt vom Gefühl des Sitzens.

Eine Lust schnellte jetzt in ihm auf wie ein Hund hinter der Hoftür, eine Begier, zu reden über irgendwas, da er sonst denken mußte, und schon hatte er sich an der Banklehne hin zu Renate hinübergelehnt und schwoll über.

In diesem Augenblick glaubte Renate zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, die Leibhaftigkeit Georgs, seine wirkliche Nähe zu spüren. Früher – wieviel ferner als alle Andern war er ihr allzeit gewesen, ein junger Mensch, den sie nicht verstand, fremdartigen Wesens, abgeschlossen von ihr. Während sie ihn sprechen hörte, stellte sich deutlich Erinnrung an seinen Vater ein. Was erinnerte denn so sehr an ihn? Es war – Magda hatte es getroffen – etwas Fürstliches da, eine Unbändigkeit und Überlegenheit. Freilich – seine Mundwinkel hatten ein Verächtlichkeitszucken, das ihr zu häufig kam, als daß es ihr ganz echt scheinen konnte. Aber sein Auge war klar, zumal in Pausen, wenn er schwieg und weithin blickte; dann hatte es einen Glanz von Unerschrockenheit, von Stetigkeit und – sie fühlte ein innres Erröten, als sie es dachte – fast von Wärme, wenn er sich nun zu ihr wandte. Warum nur lärmte er so? sprach schallend laut und machte heftige Gesten? Ja, auch das war wie beim Vater …

»Ja, nun sehen Sie mal, teuerste Renate, da haben wir Charfreitag. Ein schöner Tag offenbar, ich bin ganz erstaunt. Denken Sie an, ich habe da drei Wochen bis über die Augen in Geschäften gesessen und nicht bemerkt, daß es Frühling ist. Aber so geht es mir immer. Passen Sie mal auf!« Er redete nun immer freier und sorgloser, in schnellender Erleichterung von Satz zu Satz. »Ich will Ihnen mal genau sagen, wie sich das mit mir verhält. Vor ungefähr vier Jahren hatte ich folgenden Traum. Ich stand in einem Theaterparkett, nicht wahr; auf der Bühne war ein glänzender Festzug, ich sollte eigentlich mitwirken, nicht wahr, aber die Menschen ließen mich nicht hin, und ich schrie, nicht wahr, Sie verstehn, wie das so ist im Traum, und ich schrie jedenfalls: Ich komme nicht hinein. Komisch, was, aber wir können so weise werden wie Salomo, wir träumen doch immer wie die Esel. Übrigens war dieser Traum eben nicht so dumm, barg vielmehr eine Wahrheit am tiefen Grunde, wie der Dichter sagt, und was meinen Sie, wer förderte sie zutage? Natürlich Ihr leider verstorbener Vetter Josef. Was sagte er nämlich, wie legte er es aus? Ganz einfach, nicht wahr, nämlich – ich käme bei Gott nicht hinein, in die Gegenwart gewissermaßen, Sie verstehn, was man so ›das Leben‹ nennt. Ja, Sie lächeln, Renate, aber nun ist es wahrhaftig eingetroffen. Im Allgemeinen und im Besondern. Soll ichs beweisen? Ich meine –, ich weiß ja nicht, ob es Sie –«

»Sehr, Georg, sehr doch! Ich habe ja viel an Sie denken müssen, seit Sie Herzog sind, und –«

»Das wird ein schöner Schlamassel werden, nicht wahr? Haben Sie das nicht gedacht?« rief Georg, bog sich nach hinten und lachte schallend.

»Nicht ganz, Georg, aber daß es sehr schwer –«

»Schwer? Was für'n Unsinn, Renate! Wie kann so was schwer sein? Das ist genau wie mit dem Dichten, meinen Sie, das wäre schwer? Der Eine kanns immer, der Andre kanns nie. Ich gehöre zu denen, die es nie können«, schloß er überzeugt.

Georg schwieg. Minutenlang schwieg er, aber während dieses Schweigens sprach er ganz andre Worte zu ihr als im Augenblick zuvor. Er sagte, langsam und nachdrücklich Wort für Wort und ohne die Fürstenpose, die er sich angeformt hatte, ohne selber zu wissen wie; er sagte:

Sieh, Renate, wie das mit mir ist! Zwischen den Menschen und mir ist etwas wie ein Schleier; nicht einmal Schleier, – nur Glas, durchsichtig, und scheinbar ist gar nichts da, und doch ist es etwas, das den geraden Blick bricht, so daß er nicht eindringen kann in ihr Sein. Das ist die Lüge …

Hier brach er ab, dachte trocken und heiß: Warum sag ich es nicht? Warum leg ichs nicht einmal in eine fremde, in ihre Hand, daß sie's weiß, daß sie – ja, daß sie nur etwas näher zu mir ist, als daß wir nun sitzen als Unbekannte und reden, was ebenso gut und was besser ungeredet verbliebe?

Georg bemerkte, daß genug geschwiegen war, besann sich und begann von neuem so wie vorher.

»Also ich wills Ihnen beweisen! Zum Beispiel folgendermaßen, nicht wahr, ich will beispielsweise reden. Sie wissen, Ihr Vetter Erasmus hat, wie auch früher mein Vater, und nach dem Vorgang von Abbe in Jena, die Einrichtung getroffen, daß die Arbeiter seines Unternehmens am Einkommen beteiligt sind. Nun, herrlich, nicht wahr, menschenfreundlich und gerecht. Und was kommt heraus? Ein jeder Arbeiter, nicht wahr, hat sein Stück Geld auf der Bank, ist, mit einem Wort, ein kleiner Kapitalist. Ist aber damit ein Übel beseitigt? das Grundübel, der Kapitalismus? Tausend Menschen sitzen mit Goldplomben in den Zähnen, und da giebt man den Übrigen auch welche, das ist die Geschichte. Ja, sehen Sie doch, der steifste Reaktionär könnte ja nichts Besseres tun, um der sozialdemokratischen Arbeiterschaft den Mund zu stopfen, denn wer satt hat, der ist zufrieden, das ist so alt wie Jerusalem. Ja, aber meinen Sie, das könnte mir passen? Da sehen Sie also, daß bei Menschenfreundlichkeit nichts herauskommt. Also, wie greif ichs an, wie komm ich hinein, da ich auf einer ganz andern Grundlage stehe?

»Oder ein andres Beispiel. Ein Dichter schickt mir da seine Verse mit der ergebenen Bitte, ihm zum Abdruck zu verhelfen. Dummes Zeug, nicht wahr, das sich reimt, na, aber das ist Zufall, sie könnten ja gut sein. Was tu ich? Laß ich diese drucken, so kann jeder kommen, ich muß einen Verlag aufmachen, das geht nicht. Aber, da ich nun mal die Aufgabe habe, im Einzelfall den Mangel der Gemeinschaft zu erkennen, was tu ich? Ich denke nach, nicht wahr, über diese besondre Gemeinschaft der Dichter, die keinen Verleger finden, oder wenn auch, nicht genug zum Leben bekommen, und was fällt mir ein? Folgendes, nicht wahr? Alle Dichter höheren Grades, eben jene, die es am schwersten haben, tun sich zusammen und geben ihre Werke gemeinsam heraus. Was geschieht? Diese Werke kauft niemand; da sie gut sind, niemand. Was muß der Dichterverlag m. b. H. tun, um sich über Wasser zu halten? Muß noch andre Werke herausgeben, die gehn, Kunstbücher oder Schmarren oder so, was Sie wollen, mit einem Wort: sie müssen einen richtigen Verlag gründen, den Konkurrenzkampf aufnehmen, und so weiter. Können sie das? Gott bewahre, sie sind Dichter, sie müssen also einen Geschäftsmann an ihre Spitze stellen, einen Verleger, der es macht wie die Andern, und was kommt zutage? Ein Verleger mehr zu den alten. Oder aber, ich muß einspringen, muß den Verlag unterstützen –, ja – na, da kann ich grad so gut dem Einzelnen helfen, der zu mir kommt, und wir drehn uns im Kreis wie die Schafe mit Littiti.

»Oder drittens, um zum Kern der Sache zu kommen. Ein Schuldirektor überreicht mir in Audienz ein dickleibiges Manuskript: Umformung des gesamten Schulwesens. Schön, nicht wahr, des gesamten, der Kerl, denkt man, fängt die Sache am Grunde an. Ich fange an zu lesen, nicht wahr? Übrigens ein geistvoller Mann, wie Herder, nur praktischer. Also ich lese zwanzig Seiten und habe folgende Vision. Ich lege das Buch meinem Kultusministerium vor. Das sagt: Ausgezeichnet, und streicht mir die Hälfte weg. Die verbliebene Hälfte, nicht wahr, leg ich vor den Landtag. Der sagt auch ausgezeichnet und streicht wieder die Hälfte. Das verbliebene Viertel geht an die Schulbehörde, und da sickert es nun über die Inspektoren zu den Direktoren, zum Lehrkörper endlich, und allda wirds ein Pensum. Da sitzen in allen Klassen diese braven und unbraven Berufsmenschen, die fünfzig Karpfen und drei Hechte in die Schleuse der Versetzung zu treiben haben, und was meinen Sie nun, ist inzwischen aus der glorreichen Umformung meines Herders geworden?

»Und da, Renate, da haben wir die Sache beim Kopf und können sie lausen. Hilft es irgend etwas, die Einrichtungen ändern zu wollen? Nein, die Menschen müssen sich ändern, und nun sagen Sie mir um Gottes willen, wie ändert man die?«

Georg, heftig frierend, aber sonst frei, sah zu Renate auf, die sich langsam erhoben hatte.

»Ja, möchten Sie denn nicht zugreifen, Georg, um sie zu ändern, die Menschen?« sagte sie leise. »Wie schön –«

»Ich, Renate, ich?« Hohnlachend warf Georg sich zurück. »Ich? Ja, wie komm ich denn dazu? Einigermaßen sitze ich ja fest in meinem Leben, bin wenigstens fertig damit, aber – hab ich mich denn je geändert? Wie hab ich ein Recht? Gott, sehen Sie doch, mein Vater –« Er verstummte, für Sekunden sprach- und gedankenlos, und sah Artaxerxes, den Schwarzen, über das Wasser heranziehn, plötzlich abbiegen und um Renate, die vorn am Ufer stand, einen weiten Bogen beschreiben, indem er leise fauchte.

»Mein Vater«, fuhr Georg mit Anstrengung fort, »war ein Mann der Tat. Er stand nun mal auf dem Boden, auf dem er zu schaffen verstand. Ich steh auf einem ganz andern, von dem aus die ganze Gemeinschaft, in der wir leben, falsch aussieht, oder so – warten Sie – nun, wie wenn Menschen, nicht wahr, deren Natur für eine bestimmte Höhenlage, ein bestimmtes Klima geschaffen ist, in einer andern, höhern oder tieferen Luftschicht angesiedelt sind, und was sie auch anfangen, es verbiegt sich, es wächst verdreht, was nach unten will, nach oben, und umgekehrt, ja, es ist doch wahrhaftig, als säßen sie alle mit dem Wipfel im Erdboden und ließen die Wurzeln in die Luft starren. Kann ich sie umdrehn?

»Mit einem Wort: daß ich hier sitze und Herzog bin, das ist der allergrößte Schwindel. Aber so geht es eben. Jahrelang habe ich nach diesem gestrebt und es für Glanz und Ruhm gehalten, wie der Dichter sagt, und nu – was is es nu? Wie die Engländer sagten, als sie auf dem Brocken gewesen waren: We have seen all the mist and missed all the scene. So ist es.«

Renate lächelte, und er lachte nach Kräften.

Fertig damit und still geworden, sagte er nachdenklich:

»Und das, Renate, das sind denn so die Dinge, von denen sich reden läßt.«

Renate, auf ihn heruntersehend, fragte freundlich: »Und die eigentlichen, die wir verschweigen –?« Aber indem fiel Georg, erstarrt vom Erschrecken, ein: »Um Gottes willen, was war denn das eben? Das habe ich doch schon einmal erlebt! Nein, es war – anders, aber – die Worte, meine Worte eben –«

Er verstummte, jagend nach der Erinnerung durch hundert Bildstücke seines Lebens, und mit einer Erleichterung endlich traf er auf Bogners gutes Gesicht und hörte ihn die Worte sagen: Und das sind denn wohl so die Dinge, von denen man reden kann. Wann? Wann? Hier, in Helenenruh, am Ende auf dieser Bank? Nein, in einem Zimmer war es, im Gastzimmer. – Georg sprang auf und starrte die Bank an, fühlte indem die Hand Renates an seinem Arm, sah aufblickend ihre Augen, lächelnd in einer beängstigend süßen Besorgnis, und stammelte eine Entschuldigung.

»Haben Sie«, fragte er, »das einmal erlebt, daß man glaubt, sich an ein andres, ein Leben vor diesem zu erinnern? Aber nun weiß ich schon, es waren nur Worte Bogners, die ich eben brauchte. Vor drei Jahren – –« Er brach ab. »Soll ich Sie ins Haus bringen?«

»Ja, aber auf einem Umweg bitte. Wirklich, es ist nicht so schlimm für meinen Fuß,« bat sie, »ich möchte so gern ein wenig gehn und auch mehr von Ihnen hören. Sagten Sie nicht, im Besondern und Allgemeinen? Ja, dann müssen Sie mir schon das Allgemeine auch noch beweisen, und dann – dann werde ich Ihnen einen Rat geben!«

»Das wäre herrlich! Also gehn wir!«

Er nahm ihren Arm wie zuvor und führte sie an der Bank vorüber, weiter am Teich hin, um auf einen der Wege zwischen die Wiesen abzubiegen.

Renate (Fortsetzung)

Georg brachte seine Sprachmühle laut klappernd wieder in Gang.

»Ich sagte, glaub ich, schon mal, daß ich fertig wäre. Das heißt, ich habe mich abgefunden mit dem hier, dem sogenannten Ich. Man bastelt überhaupt viel zuviel dran herum, weniger wäre mehr, wie immer, aber – nun, was ich sagen wollte: heut morgen auf einmal wach ich auf, und kaum daß ich merke, ich bin für diesen schönen Charfreitag mir selbst überlassen, was fällt mir ein? Daß ich keinen Glauben habe. Oder das Christentum. Ja, ganz so sehe ich das auf einmal vor mir, als hätte ich das versäumt. Nun sagen Sie, Renate, Ihr Vater war doch Pastor, und Sie – verzeihen Sie die Frage! – Sie sind doch fromm? Ich fände wenigstens – es wäre schön, wenn Sie fromm wären …«

Renate, die ihn nicht ansah, fragte, etwas tonlos, wie ihm schien: »Warum meinen Sie das?«

»Warum? Ja, erklären läßt sich das kaum … Aber – eine gottlose – ich meine: wirklich gottlose Frau, nicht wahr, das erschiene mir schlimmer als eine Betrunkene. Ja, sollten nicht alle Frauen Priesterinnen sein? Bei den Germanen galten sie doch wenigstens als heilig, und – auf den Glauben, auf den Gott käme es vielleicht weniger an als – eben auf das Frommsein. Irgendwie Gottheit verwalten, einer Gottheit dienen, sei es Astarte, wenn sie glauben könnten an Astarte, aber – das ist ja freilich, was immer fehlt: der Glaube. Und Sie – Sie glauben aber an Gott?«

Er war bei diesen Worten mit ihr stehen geblieben, da sie an das Gatter neben dem Eichenwäldchen gelangt waren. Sich los von ihm machend, trat sie davor, legte eine Hand darauf, und während sie über das Land hinzublicken schien, sah Georg von Schatten ein ganzes Heer über die lichten Gefilde dieser Züge fallen. Wieder und wieder wollten sie aufglänzen, fast sich schüttelnd darunter hervorkommen, der Mund bewegte sich häufig, die Winkel bebten; mit einer Anstrengung machte sie sich endlich frei von den inneren Vorgängen und sagte mit rauher Stimme:

»Was wollten Sie denn wissen?«

Etwas beschämt, dies gesehen zu haben, und beklommen, da sie seine Frage nicht beantwortet hatte, schwieg Georg. Indem näßte ein Tropfen seine Stirn, und er bemerkte, daß Land und Himmel sich verdunkelt hatten. Der Himmel war wieder schwer grau, auf den zum Deich ansteigenden Wiesen wehte das Gras heftig, schon fiel ein feuchter Schauer von oben. Georg hängte Renate hastig ihren Mantel um die Schultern und sagte: »Ins Haus kommen wir nicht mehr, aber ich weiß hier einen Unterstand!«

Sie folgte stumm, scheinbar ganz willenlos am Wäldchen hinunter, bis Georg, in das Unterholz einbiegend, voranging, um die tropfenbehängten Zweige auseinander zu schlagen. Nach wenigen Schritten stand er vor einem riesigen Eichenstamm ohne Krone, in dem eine fast zwei Meter hohe Höhle in Dreieckform klaffte. Er ließ Renate eintreten, es war Raum in dem warmen mehligen Innern genug, daß auch er selber drin stehen konnte, und so standen sie eine Weile, wortlos, lauschend, wie der Regenschauer von hoch oben in den Wald einfiel und hier und da prasselte auf den jungen Blättern.

Tiefer ins Innre der Höhlung tretend – während Renate am Eingang eine Schulter anlehnte, ins Freie blickend –, sah Georg mit nicht geringer Beklommenheit in die enge Wölbung empor, die sich in der Höhe in Nacht verlor. Durch einen fensterartigen Spalt über ihm in der Rückwand sickerte Licht. Das ist eine Kapelle! dachte er, und daß er ihr nun so nah und in solcher Abgeschlossenheit mit ihr war wie noch nie. Ich glaube, ich könnte ihr gut sagen, daß ich sie liebe; Wirkung, irgendwelche Folgen würde es keine nach sich ziehn, und ich werde es auch wohl kaum tun.

Unter solchen Gedanken betrachtete er den reichgeschlungenen Knoten ihres Haars, dessen sondres Braun an einer Stelle matt glänzte und heller schien in dem aus dem oberen Spalt fallenden Licht. Nur die Biegung ihrer Nase war ihm sichtbar und an dem kaum merklichen Auf- und Niedergehn der violettblauen Schultern, daß sie schwer zu atmen schien. Weich lag die Stille umher mit dem Regengeräusch und fernem Gezwitscher von Meisen.

Renate sagte:

»Sie sagen, daß Ihnen ein Glaube fehlt. Was ist denn das für ein Glaube, den Sie haben möchten?«

Georg zauderte lange im Empfinden, nun ganz aus innen sprechen zu dürfen, und indem wurde sein Auge von einer neuen Erscheinung gefesselt. Das war nichts weiter als der Zweig eines Holunderstrauchs, der sich gegen den Eingang von draußen erstreckte. Die jungen, noch weichen, aber schon großen – vielleicht erst heut, nach dem Morgenregen so groß gewordenen Blätter mit kleiner Zackung waren sich in einer so liebreichen Weise gleich, so geschwisterlich auf ähnliche Weise immer wieder vorhanden, und dabei so genau gemacht und so schön, so einfach und klar in dem Dasein, in einer verborgenen, aber merkbaren und stillen Aufgabe begriffen, nur ruhig schaukelnd und ungestört, wenn eines ein Tropfen traf, daß Georg die Augen nicht abziehn konnte von dem freundlichen Bild und so lange gedankenlos blieb. Endlich fing er dann an:

»So bin ich hineingerannt in die Welt und habe immerfort ausschauen müssen nach allen Seiten. Was hab ich gewonnen? – Weltanschauung – das Wort will zu viel und giebt zu wenig, denn: was ist anschaun? – Nein: wahres Wissen um einige wenige Dinge, um das Eins ist not, – und ein tiefes ernstes Eingerichtetsein auf dies Wissen – das möchte ich wohl. Ach wohl, ich habe immer gedacht, es ernst zu nehmen mit mir, aber nun scheint mir fast, mir – und jedem heut, dem der Glaube fehlt, dem fehlt nicht er, sondern dem fehlt es irgendwie – am Ernst.

»Und dann, Renate,« fuhr er traurig fort, »dann wäre Religion nichts, das einem zuflösse von außen, vom Himmel, oder woher es auch sei. Sondern sie wäre wie eine Eigenschaft des Wesens und Lebens, wie ein Temperament, wie Heiterkeit oder Schwermut, und was man mit ihr berührte, das müßte von ihr an zu fließen fangen.«

»Und das Christentum,« hörte er nach einer Weile Renates Stimme durch den Regenstrom, »das, glauben Sie, könnte Ihnen –«

»Ich weiß ja nicht!« rief er, sie unterbrechend. »Heut morgen sprach ich mit Anna und Benno darüber –, aber seitdem ist mir alles so zerfallen. Das Christentum ist für jenseits; ich will etwas für hier. Vom Ahnenkult der Japaner, das fiel mir heut morgen schon ein, las ich bei Hearn, daß es in ihm weder einen Unterschied zwischen Religion und Ethik gebe, noch zwischen Ethik und Moral oder Sitte. So etwas dachte ich mir. Die Gesetze der Gemeinde und des Hauses, der Familie, die, sagt Hearn, seien die Sittenlehre des Shintoismus, und Staat und Religion, Sitte und Gesetz, die sind eins. Klingt das nicht wundervoll? Und weiter erinnere ich mich, daß er sogar sagt, das wahre Leben jedes religiösen Gesetzes liege in seiner Bedeutung für die Pflicht des Menschen gegen den Menschen; in der Lehre von Recht und Unrecht, sagt er. Das, das ist es! Die sittlichen Erfahrungen eines Volkes, die zu Religion geworden sind. Verstehen Sie mich doch, Renate, ich will keine Religion für mich, sondern für Alle. Sie haben ja Alle keine, wie könnte ich sonst ohne sie sein? Also hätte unser Volk, hätte Europa keine sittlichen Erfahrungen? Warum auch übernahmen wir das Christentum? Sie wurde uns eingeimpft, diese unsinnige Lehre vom Leiden, diese versprechende Religion, die das Leben nimmt, statt es zu geben. Ja, und sehen Sie dabei: sind die Japaner vielleicht bessere Menschen?«

Er sprach, ohne noch fest zu wissen, was er sprach, immer die mattgrünen stillen Blätter vor Augen, deren jedes ihm mehr und mehr eine Offenbarung hinzuhalten schien in ihren ruhigen kleinen Götterhänden. Dann als er schwieg, hörte er deutlich die große Stimme der Einsamkeit über die niederfallende Flut.

Renate hatte ihm jetzt das Gesicht zugewandt und lächelte ein wenig. »Ach Georg,« sagte sie dann, »ein bißchen, ein ganz klein bißchen erinnern Sie mich doch immer an Jules Verne.«

»Ach! Aber warum denn das?«

»Weil er«, erklärte sie, »zuerst eine Möglichkeit annimmt, zum Beispiel die, daß eine Kugel voller Menschen sich zum Mond schießen lasse. Und auf dieser unbewiesenen Möglichkeit baut er nun weiter, ganz wissenschaftlich und logisch und richtig, und alles bekommt seine Ordnung und wird belegt und bewiesen – bis auf jene Möglichkeit. Und Sie, Georg, Sie betrachten einen Gegenstand und sagen: der ist so! Und auf diesem ›so‹ bauen Sie auch weiter nach allen Regeln der Logik, und es hat alles seine Richtigkeit, bloß das ›so‹, das hat keiner bewiesen«, schloß sie lächelnd.

»Meinen Sie wirklich?«

»Ja, nannten Sie nicht das Christentum eine Religion des Leidens? Nun, und selbst wenn es das wäre, heute wäre, wer zwingt Sie, das anzunehmen?«

»Sie haben recht, Renate, ich – ich kenne es vielleicht gar nicht. Also habe ich unrecht? Überzeugen Sie mich doch bitte!«

Sie schwieg eine Weile und schien zu warten, daß der überlaut strömende Regen leiser würde. Dies geschah auch bald, und Georg hörte sie sprechen, von ihm abgewandt, dem Wald zugewendet.

Renate begann langsam, die Worte nur selten verändernd, eine Charfreitags-Predigt ihres Vaters zu sagen.

»Wir«, sagte sie langsam, »blicken aus der Gegenwart in die Vergangenheit; und sehen wir dort in der Ferne Christus, im Jahre Eins oder Dreißig, so scheint uns dort alles anzufangen wie die Rechnung unserer Zeit. Es scheint, als wäre von allem, was er brachte und war, nichts gewesen zuvor; als ob er ein noch nie dagewesenes Neues erfunden habe, und wie wäre das möglich? Nur auf einem Grund läßt sich bauen, nichts ist neu von allen Seiten, und wie alle Andern, die uns heute ein völlig Neues gebracht zu haben scheinen, war er ein Erneuerer, und es war alles schon vorher, und nur auf seine Weise war es noch nicht.

»Und ferner sieht, wer ihn von hier aus sieht, sein Leben nicht vom Anfang, sondern vom Ende. Vor dem Ganzen erhebt sich das Kreuz, überschattet das Ganze und macht sein Leben zu einem einzigen Stollengange des Leidens, einem Gange zum Kreuz, in der Gewißheit dieses Endes von Anbeginn. Die gewaltigen Worte von Golgatha, von der Vergebung der Sünden, vom ewigen Leben, von der Vollendung des Leidens, sie scheinen nunmehr das Einzige, scheinen das Gefäß, das Leben und Lehre, alles umschließt, und das Leben nur der Weg zu ihm, oder der Unterbau, der sie als Krone, als Schlußstein trägt, und es dient nur, sie zu erklären, zu stützen, zu vervollkommnen. So aber müßte man sie in Wirklichkeit sehn, als Krone und Schlußstein des Baus, aber das Eigentliche ist und bleibt doch der Bau und nicht seine Bekrönung.

»Und so müßte man ihm nachgehn durch dieses Leben, ihm, nicht als einem Halbwesen, halb wirklich, halb immer symbolisch, sondern als einem leibhaften, glühenden, wollenden, versuchenden Menschen, der kam, um zu helfen, nicht um zu sterben. Der Schritt für Schritt, immer eifriger, immer wissender, immer liebevoller, sich steigerte in Worten und Taten, erst Worte gab, dann Taten – jene, die heute die Wunder heißen – zur Erhärtung, als Bürgschaft der Worte. Er, der Liebe säte und Glauben empfing. Der leidenschaftlich lebte, ein Dichter, kräftig packend in die Speichen der Sprache, dessen Rede leben sollte und brennen, der ihr Augen gab und Lippen und schlagende Flügel, und der also leibhaftig redete und stets mit den Grenzen des Ausdrucks, in den Tiefen der Darlegung, und so kam es dann, daß er so widersprechende Worte sagte wie, daß kein Stein auf dem andern bleiben werde, bis daß es alles geschehe, und daß auch kein Tüttel vom Gesetz verloren gehn solle, und er nicht gekommen sei, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das sagte er, denn die jüdische Glaubenslehre, so erstarrt sie schon Christus empfunden haben mag in der Verpanzerung des Gesetzes, sie war unendlich reich an sittlichen Forderungen, an tiefer Weisheit des täglichen Lebens, und wie schön an die Erde gebunden mit dem Messias, der kommen sollte, nicht nach dem Tod, sondern zu lebenden Menschen der Erde. Und es ist die wundervolle Unterscheidung der jüdischen Heilslehre, daß sie das goldene Zeitalter nicht in der Vergangenheit sah wie der Grieche, nicht im Jenseits wie der Christ und der Brahmine, sondern in einer leibhaften Zukunft der Menschheit.

»Man kann sich wohl denken, daß auch er dies gewollt hat, und also sein Leben weiter sehn. Nachdem darin im Anfang alles helle gewesen war, überall Freude und Entgegenkommen, Dankbarkeit und Vertrauen, fing nun der Haß an, der immer an zweiter Stelle kommende; die Befeindung, – und langsam ließ sich gewahren, wie er sich verstrickte, und daß es nicht genug war, gut zu sein, daß es keinen Schutz gab gegen das Mißtrauen und gegen die Eigentümer des Hergebrachten, die sich bedroht schienen von jeder Neuigkeit. Und die Ahnung ging ihm jetzt auf, daß er einmal zu zeugen haben werde für das Wort seines Blutes, mit dem Blut. Jedenfalls – in den Beschreibungen seines Lebens findet sich vom Leiden kein Wort – obschon vom Dulden und Geduldhaben –, bis jene Ahnung begann. Und so kam die Abschiedsnacht.

»Jene Nacht, in der die ewigen Worte fielen, die Samenkapseln, aus denen das ungeheure Feld aufgehn sollte. Er war aus Jerusalem entwichen und kehrte zurück. Er sammelte nun seine ganze Kraft, Bürge zu stehn für die Lehre, und ach sehen Sie ihn nun, den zarten, glühenden Menschen, der sich unterfangen hatte, Alle zu ändern auf seinem Wege, sehen Sie ihn in der furchtbaren Stunde gewissen Todes? Nein, denken Sie jetzt an keine schönen Gemälde des ruhigen Abendmahls, denken Sie nicht, daß er nur, wie es heißt, auf Gethsemane seine Kraft verlor und Gott bat, den Kelch vorübergehen zu lassen! Wenn er die Kraft auch besaß, war jene im Garten die einzige Stunde der Angst? War da Ruhe und Gelassenheit in dem fremden dunklen Gastzimmer, in der sinkenden Nacht, der letzten, da schon das Urteil verlesen war und nur die Vollstreckung noch ausstand? War er nicht unendlich einsam, eine durstige, frierende Frucht in der Hand des Todes? Und diese Hand war es, die nun zugriff und preßte und herauspreßte das Ewige, die Blutworte aus den ersten Wunden: Nehmet hin und esset, dies ist mein Leib!

»Ja, was war denn seine Angst, und was ist denn die Angst des Sterbens? Vergessen zu werden, vergessen von der Welt, vergessen zu werden mit seinem Werk, seinem lebendigen Willen, umsonst sich zu opfern, da er die Menschen doch kannte, umsonst die Marter zu leiden! Und da schmolzen ihm nun die glühenden Worte hervor, mit denen er sie bat, zu gedenken, sie, die Wenigen um ihn, die er selber gezogen hatte, die er kannte, denen er doch vertraute, von denen sich hoffen ließ, daß ein Strahl seiner Sonne sich in ihre Stirnen und Herzen eingebrannt habe, und: Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird! flehte er sie an, solches tuet zu meinem Gedächtnis. Und in letzter Glut, sie beisammen sehend, später in Jahren, allein, ohne ihn, zu seinem Gedenken versammelt, geheiligt und entflammt durch Treue und Sehnsucht und Hoffen, sagte er auch, daß sie sich das Letzte trinken würden im Wein seines Blutes, wenn sie nur glaubten: Reinheit, Unschuld, Vergebung der Sünden.

»Nicht wer ißt und wer trinkt, dem wird vergeben, sondern wer glaubt und wer liebt.

»Was kam danach? Dann kamen die Vielen, die aufschrieben, was sie von ihm wußten, einfältig die Einen, die Andern klug. Sie zeichneten sein Leben auf, das schon lange nicht wirklich mehr war, Legende war und Symbol, und zu Legende und Symbol geriet ihnen nun alles, außer dem frommen Einen vielleicht, dem Maler, der alles noch leibhaft sah. Und als dann die noch Spätern kamen, die Lehrer, die Ausleger, da war nun alles Symbol geworden; bitterster Schmerz nur Symbol für Schmerz, das Leben, das Feuer, die Zweifel, die Qualen, die Wonnen, all das Sterbliche, was um Unsterblichkeit erst rang, ehe sie es segnete: das war heraus, und es blieb ein Gleichnis vom Leiden.

»Was dann kam, wissen Sie, Georg.«

»Kaiser Julian«, sagte Georg schwer versonnen und atmete auf. Da war es zu Ende. Er hatte mit Inbrunst gelauscht – im Anfang; mit Eifer und Hoffnung die ganze Zeit; als es aber ein Ende nahm, blieb ihm nichts in der Hand, und er sagte zu sich: Botschaft – unendlich schön, aber so erging es mir immer, daß ich auf das höchste entzückt und beglückt war, Botschaften zu hören, aber was sie niemals enthielten, war Glaube.

»Kaiser Julian?« fragte Renate, sich umwendend, »warum der?«

»Der letzte Christ«, erklärte Georg trübe. »Wissen Sie, was Strindberg von ihm sagt? ›Er lebt wie ein Christ und lehrt dasselbe wie Christus, ist aber doch ein Christushasser.‹ Das ist so beschränkt, wie Strindberg merkwürdigerweise immer ist. Er war mir nämlich verwandt, glaube ich, und nicht etwa ein Christus-, sondern ein Christenhasser. Denn: mit dem echten Christentum, nicht wahr, das sah er, war es aus, mußte es aus sein, sobald es anerkannt, sobald es Staatsreligion wurde. Bis dahin war das Bekenntnis für seine Anhänger Gefahr gewesen, Martyrium, nicht wahr, und nur die Guten, nur die Echten und Gläubigen nahmen es auf sich. Wurde es Staatsreligion, kam es auch an die Schlechten, wurde es zur Formel, die es auszusprechen genügte, während es vorher Leben, Schicksal, Glauben und Sterben war. Also, nicht wahr, ist dieser Julian, der Abtrünnige, vermutlich der letzte christliche König gewesen, der gut war, ohne öffentliche Formel dafür, der aber annahm, es sei dieser Lehre besser, ausgerottet zu werden, als verbreitet. Ach, wie kam es, wie kam es denn, Renate? Da wurde es Zwang, nicht wahr? da wurden die Menschen mit Feuer und Schwert zu Christen gemacht, dann galt es für die alleinseligmachende Religion, und wer sich nicht selig machen lassen wollte, wurde gerädert, geteert und gesäckt. Ach, ist es nicht unerhört, daß diese, grade diese Religion der Geduld die erste unduldsame geworden ist?!«

»Ja, Georg, aber warum sagen Sie mir das?«

»Weil – also weil sie eben unannehmbar für mich geworden ist! Da ist mir alles weggeglaubt, möcht ich sagen.«

»Müssen Sie denn glauben?« fragte sie plötzlich.

»Ja, das ist freilich die Frage! Von der bin ich ja eigentlich ausgegangen heut morgen. Denn – vielleicht ists doch nur Einbildung? Alle Millionen Menschen, die vor mir waren, haben geglaubt und gemeint, glauben zu müssen. Und wenn das nun ein Irrtum war, und ich kann mich nur nicht entziehen?«

»Das könnten Sie doch noch versuchen, Georg. Wie es scheint, kommt es Ihnen vor allem auf das Sittliche an, und – ich will Ihnen sagen, was mein Vater lehrte. Er hatte in einer außerordentlichen Stunde Einsicht gewonnen in die vollkommene Ordnung der Welt; in eine ewige, alles lenkende Weisheit. Und nun –«

»Aber kann man das lehren? Ich meine: lassen sich daraus Anweisungen ziehn für das Handeln, für die Gemeinschaft?«

»Gewiß. Denn wer mit vollem Glauben überzeugt ist vom Walten dieser Weisheit, wird der sich nicht bestreben, sein Leben, seinen Teil dieser Weisheit mit ihr in Einklang zu bringen? In Einklang jede Tat, jedes Wort und jeden Gedanken?«

Georg dachte lange nach und kam zu dem Schluß, daß er von solchem Glauben weiter entfernt wäre als von allem andern.

»Aber mein Gott, Georg,« rief sie nun verzweifelt, »was ums Himmels willen wollen Sie denn eigentlich?«

Georg erwiderte ihren fast zornigen Blick mit möglichster Festigkeit und sagte:

»Es giebt eine Art Menschen, die ohne Glauben leben kann. Das ist Bogner. Er fiel mir schon ein, als Sie vom Maler Lukas sprachen. Der zeugende Mensch, der braucht keinen Glauben, denn aus der Zeugung brennt die Unsterblichkeit, und in der Unsterblichkeit thront Gott. Wie aber läßt sich zeugen, Renate? Auf zweierlei Weise. Im Werk und im Opfer. In diesem war Christus der Höchste, der sich so sehr – sagen Sie, ob ich begriffen habe! – so sehr sich als Opfer fühlte, daß jede Berührung mit den Menschen Liebe wurde, und das heißt Zeugen. Dazu gehört der grenzenlose Glaube an die Menschen, den ich nicht habe. Glaube an die Menschen, der ersetzt den Glauben an Gott, oder vielmehr: er ist darin.«

Georg hatte nun mit ganzer Flamme gesprochen, und mit einer schnellen Regung der Ergriffenheit sah er Renate sich zu ihm wenden und beide Hände auf seine Schultern legen. »Wir wollen uns doch bemühen, Georg, sollte uns das nicht fruchten?«

Aber schon, während sie die Worte sprach, sah sie in seine nah vor den ihren stehenden Augen einen Ausdruck eintreten, den sie um jeden Preis verhindern wollte, – und so gab sie, vergiftet von dem Schmerz, daß sie das Heiligste preisgeben wollte, das sie hatte, nur um dies zu verdrängen, was in seine Augen gedrungen war, aber beim Sprechen doch Wort um Wort kämpfend und hoffend, dies, was sie gab, müsse stärker sein und jenes verdrängen, bis es alleine leuchte und seine Seele erhelle, mit der sie Mitleid hatte, – gab sie das letzte Wort ihres Vaters vor seinem Sterben; sie sprach:

»Das letzte Wort meines lieben Vaters war so:

» Wenn es eine ewige Seligkeit giebt, so kann ihre Erscheinung nur die eines unendlichen und unablässigen Staunens sein; des Staunens über die unerfaßliche Herrlichkeit oder die herrliche Unerfaßlichkeit Gottes, das ist: des ewig seligen Daseins.

» Denn sie kann, die ewige Seligkeit, in allem nur das Gegenteil unserer zeitlichen Unseligkeit sein. Deren Erscheinung aber ist Gewohnheit, die alltägliche Wiederkehr, die Wiederholung und dadurch die Abstumpfung und Abnutzung, ja schließlich die Ohnmächtigkeit der Empfindung. Wir sind immerfort sterbend.

» Dort aber werden wir immerfort lebend sein. Denn wir werden Eingang gefunden haben in das vollkommene und unaufhörliche Sein, dessen Wesen Liebe ist. In der Liebe ganz sein, das ist ganz lebend sein; sie, die Liebe, ist die einzige Erschafferin und Erhalterin aller Dinge, die unendlich Frische, alles Lebendige immer wieder neu, herrlich und erstaunlich Machende; so wie jeder Morgen den Tag, jeder Frühling die Erde, – so wie jedes tiefe Gefühl dich und die Welt immer wieder neu und erstaunlich macht.

» O aber wie willst du eingehen können in die ewige dorten, wenn du in die zeitliche Liebe hier nicht schon weit und tief eingedrungen bist! Und ach, so wende dich ab von jenem unsichern Sein in den schönern Himmeln, das du nur dein nennst in der Hoffnung, dein im Verzicht, dein aus deiner irdischen Kraftlosigkeit! Laß dieses eine sein dein Bemühn: lerne zu staunen! Lerne die mächtige Kraft der Neuheit, die schöpferische; lerne zu lieben, lerne zu leben! Wenn auch alles die Zeit daran setzt, dir immer wieder den Faden zu zerreißen, den du liebend von Augenblicke zu Augenblick deines Lebens legen willst: lerne ihn immer wieder knüpfen, verliere nie aus dem Auge seinen einzigen Schein von Gold, und um so süßer verlockend das Wort »von Ewigkeit zu Ewigkeit« dir im Herzen ertönt: sprich dagegen: » von Augenblicke zu Augenblick« knüpf ich und webe ich das einzige Kleid meines Lebens. Ob es Gottes Hand einmal aus der meinen nehmen wird, mich für immer hineinzukleiden, oder ob sein ganzer Sinn der ist, von mir gewoben zu werden: das ist zu wissen nicht not. Not ist, zu tun. In dem Tun wird die Liebe, in der Liebe das Wesen, in dem Wesen das Leben sein, das weder zeitlich noch ewig, sondern das in der Liebe ist

Renate verstummte. Hoffnungsvoll mit schwellender Zärtlichkeit versuchte sie, durch ihren Blick Georgs über ihre Schulter gerichteten Blick zu sich herzuwenden, und sie sagte noch, lächelnd, obwohl schaudernd im Ernst des Todes: »Hast du verstanden?«

»Ja,« sagte Georg, »ich liebe dich!«

Sie schluchzte auf. Das lange schon in ihr quellende Schluchzen brach haltlos über ihre Lippen, sie senkte eilig den Kopf, und nichts wissend von Enttäuschung, nur verzweifelt im Herzen, brach sie blindlings durch Buschwerk und Bäume, bis sie den Weg erreichte.

Georg wagte nicht zu folgen. Das war, dachte er mit geringer Beschämung, falsch, – und war es nicht trotzdem recht? Sie sah wie ein Engel aus, als sie sprach, und was kann man zu einem Engel, der kommt und Gott verbürgt und verkündet, was kann man andres sagen als: Ich liebe dich, Engel? – Und so empfand ich die Worte in diesem Augenblicke, nicht anders.

Er senkte den Kopf. Danach konnte er den Stamm nicht verlassen, ohne einen dankbarlich Abschied nehmenden Blick an den Holunderzweig zu heften, wobei er jedoch zu bemerken glaubte, daß dieser, der während der ganzen Zeit die kleinen graugrünen Hände mit so viel Geduld – damit er erkenne, was sie hielten! – hingestreckt hatte, sich jetzt völlig achtlos verhielt. Da wandte auch er sich zögernd und fand sich bald im Freien der Mittelallee durch das Wäldchen und in der voll einfallenden Mittagssonne. Ganz fern in der lichten Öffnung, in der die Wiese vor der Terrasse lag, sah er die kleine dunkelbläuliche Gestalt von Renate und ging ihr nach.


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