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Achtes Buch
Hallig Hooge
oder
Die Kammern der Seele

 

Erstes Kapitel: August

Renate an Magda

am 1. nachmittags

Magda!

Schon Nachmittag, und ich bin noch hier. Georges, der Dir diesen Zettel bringt, wird Dir sagen, daß ich bei ihm bin, und alles andre! Mitleid, Liebste, meine Sorge um Dich ist grenzenlos, wer wüßte wie ich, was der Herzog Dir war, aber ich kann nicht, kann nicht in das Haus kommen, wo Du bist! Ja, Grauen überstehn, aber hingehn, wo es ist? oh nein! Ach, zu Asche gebrannt, Kind! Genug, vergieb, komme zu mir, nein, komme nicht, hüte mir – umsonst, ich kann den Namen nicht schreiben, alles versagt.

Georges gieb bitte ein Kleid für mich, Wäsche für Tag und Nacht, und was sonst nötig. In meinem Festkleid – ich sitze da wie eine Irre. Georges' Bruder trat mir Kammer und Bett ab. Morgens als ich aufstand, da war alles leer, nur ein Zettel von Georges' Hand, daß er seinen Bruder ins Gymnasium fuhr, da fiel mir sein erster Schultag ein, er geht ja noch ein Halbjahr hin wegen des Examens. Den ganzen Vormittag blieb er, Georges, weg, um Zitate nachzuschlagen in der Bibliothek. Es war so zart von ihm, mich allein zu lassen, aber solche Zartheit macht in die Verzweiflung einen Knoten, wenn man schon drin sitzt. Ich muß wohl aufhören zu schreiben. Innig Dein!

R.

Renate an Magda

noch am 1. nachts

Noch ein Wort in der Nacht für Dich, armes, gequältes Herz, und die Bitte, Dich meinetwegen nicht zuviel zu sorgen. Kraft ist noch da, weiß nur eben nicht wo, aber glaub schon, daß ich sie finde! Habe Dank für Dein liebes Wort durch Georges, die Franziska hat alles schön besorgt, sogar an meine Badessenz gedacht. Daß Du Dich niedergelegt haben würdest, konnte ich freilich denken, es ist schmerzlich, daß Georges Dich nicht sah, nun, morgen seh ich Dich selbst. Jetzt ist alles leer, ich fühle nur den Schmerz des Risses, er trennte mich in leblose Teile, nur wo der Riß läuft, brennt Leben, Vergangenheit und Zukunft sind wie abgehauen, der Himmel weiß, wann sie mir wieder anheilen werden.

Hörtest Du von Georg? In der Zeitung soll gestanden haben, er sei erkrankt.

Heute morgen erwachte ich aus diesem Traum, in dem Du vorkamst. Es fängt an mit etwas Kleinem, das an der Erde lag; als ichs heben wollte, wars eine haarige Spinne, ich bebte zurück, trat mit geschlossenen Augen auf ihren Leib, der war weich und regte sich, da sah ich, daß es ein widerlicher brauner Frosch war, so groß wie eine Hand; sah mich verschmitzt an und sagte: Ich bin so weich und gehe nicht entzwei! – Da lag auf einmal der Herzog auf einer Bahre, hatte die Augen zu, und ich wußte, wenn er nur die Augen aufmachen könnte, war der Zauber gebrochen, ich lag auf den Knieen, rang und weinte, da stand Erasmus hinter mir und sagte, die Hände faltend: Laß uns beten! – Wie ich aber unter sein Gesicht blickte, sah ich, daß er heimlich lachte. Ich stand vom Bett auf und sah, daß ich nichts anhatte als weißen Unterrock und Leibchen, ich schämte mich, da hing ein violettes Kleid über der Wäscheleine, es war nun im Gemüsegarten, das nahm ich herab und zog es an, und nun kam Josef über die Beete im Frack, einen seltsamen großen Zylinder in der Hand, und sagte ernst: Dein Onkel liegt im Sterben, und du hast ein rotes Kleid an. – Ich sagte: Es ist doch blau! aber es war wirklich blutrot, und da wußte ich, es war das, das Bogner angehabt hatte. Josef lachte da fürchterlich, und ich war so erstaunt und sagte: Josef, ich dachte, du wärst tot! Ach, dann hab ich das nur geträumt, oder schriebst du es nicht? Daneben war nun das große Blaue, das warst Du, die fortwährend mit einem großen Kleidrock rauschte, den Du nicht festbinden konntest. Du warfst ihn hin und her, es waren hundert Falten, es dauerte endlos, dann fingst Du an zu fliegen, flogst auf die Fensterbank, drehtest Dich wie ein Vogel und sagtest triumphierend: Siehst du, nun kann ich doch fliegen, und du wolltest es nicht glauben. – So schwebtest Du davon, machtest einen Bogen, und nun war es ein ungeheurer blauer Schmetterling, der die Flügel langsam auf und zu faltete. Das sah wunderbar aus, aber nun kam er auf mein Bett gekrochen, und als ich die langen haarigen Beine sah, die so vielgliedrig griffen, Hörner und Glasaugen und das braune, mundlose Gesicht, packte mich das Entsetzen, ich brachte aber keinen Ton aus der Kehle, und es kam immer näher gekrochen, ich dachte, ich stürbe vor Ekel, da merkte ich, daß ich alles abschütteln könnte, wenn ich es nur fertigbrachte, aufzuwachen. Es gab einen Ruck, ich lag in Finsternis und atmete auf …

Ach, und jetzt: wenn ich es nur fertigbrächte, aufzuwachen, und auch dies wäre ein Traum gewesen, – oh mein Gott!

Und um das Haus, das mir Heimat wurde, liegt nun der magische Gürtel. Drin sitzt das Grauen mit den Augen eines alten Mannes, und statt eines Mundes steht da Kain geschrieben.

Ja, aber weißt Du es denn überhaupt? Nein! und nun sehe ich erst, daß ich vergaß, Georges danach zu fragen, und gewiß hat er Dir nichts gesagt, da er Dich nicht sah. Ich muß ihn morgen fragen. Ach, nun ist alles wieder glühend geworden.

Aus Renates Gedächtnisbuch

am 2. August

Ein stiller Vormittag. Ich schnitt mir von Georges' Aktenbogen Blätter in der Größe meines Buches; nun soll einmal die Feder laufen statt meiner Füße, die eine Stunde lang den grauen Läufer herauf und herunter irrten, und diese hohen roten Mauern da drüben, regennaß, die schwarzen Gitterfenster und die grasbewachsenen Dächer, naß und umspült vom Regen, die grauen Wolkenfetzen am jagenden Himmel, ich kann sie nicht mehr ansehn. Als ich heut nacht erwachte, hörte ich schon den Regen in einer Dachrenne klappern so fremd! fremd wie nun die Stille. Und doch wohlbekannt seit Jahren! Ach, das Alleinsein ist fremd im Zimmer der langen, gemeinsamen Arbeit, der Gespräche, der Behaglichkeit! und was auch sonst im Leben geschah: die Arbeit war jahraus jahrein; wie wird das werden, wenn sie vollendet ist? und auch das soll nun bald sein.

Kraftlos, oh ganz kraftlos zu sein! Ich bin so müde und matt. Und wie das nun aussieht, geschrieben! Wie machen es nur die Dichter? Wenn sie dergleichen schreiben, so spürt mans in allen Gliedern, und konnten sie es mehr fühlen als ich? Georges würde sagen – o Himmel, was gehn mich alle Dichter an und Georges, jetzt wo Eins not ist? Aber die Gedanken! Sie stellen sich ein, unbekümmert darum, wer das ist, der sie denkt. – Wer hat mir das einmal gesagt? Das schrieb Magda in einem Brief, im Herbst vor drei Jahren muß es gewesen sein, ja fast um diese Zeit. Was war ich damals, was bin ich heut? Ihre elenden Briefe damals und meine stolzen! Ich saß im Überfluß wie die Königin aller Bienen und dünkte mich groß, mitfühlen zu können mit einer verfolgten Seele.

Wie wölbten mir damals die noch unverblühten Linden hinter der Kapelle den Eingang in ein reiches Leben! Düfte der tausendfältigen Erwartung regneten in mein offenes Herz. Die Orgel tönte Zuversicht, ich war fleißig, meine Kenntnisse in Kontrapunktik und Generalbaß zu vollenden, ich dachte kaum nach, Erasmus gab es noch nicht.

Du tust mir weh, Erasmus, mit deinem immer gesenkten Kopf! Armer Kain! Du hast es nicht tun wollen? – Nein, sagst du, ich wollte, weil ich mußte, man muß nicht schönreden. – Sieh, was hier liegt, ein schönes Ding, ein großer blauer Schmetterling, eine seidne Schleife hängt dran, und Abels Namen steht darauf. Als ich ihn gestern zuerst las beim Erwachen, küßte ich ihn und weinte darüber. Diese Tränen gönnen wir ihm, ein zarter Abel war er nicht und Kain seit ewig beklagenswerter als er. Gebe Gott, daß die große kalte Seele sich erwärme im warmen All, wo sie nun ist! Deine Seele war immer warm, lieber Kain, oh wer hat sie so furchtbar zum Glühen gebracht!

Mir wird wieder wirr.

nachmittags

Wie gut, daß ich den Nachtbrief an Magda Georges doch nicht mitgab! Denn was heißt nun diese Nachricht, die er mir heut von ihr bringt: »durch Zufall eine Verletzung der Augen zugezogen«? Kein Wort zur Erklärung. Bin ich übervoll? Ich kann nichts aufnehmen, verstehe nichts, und wenn ich ahnen will, geht es schon auf im allgemeinen Grauen, und ich wende mich ab …

Kleinigkeiten erhalten Zutritt. Der graue Läufer. An drei Jahre sah ich ihn abgenützt werden, ohne ihn je genützt zu sehn, da Georges nur darauf geht, wenn er allein arbeitet. Und nun gehe ich selber darauf und denke, er muß in einer Stunde zerschlissen werden, und weiß nicht, warum mir das wunderbar scheint!

Da sitz ich am Sofatisch und schreibe. Am Fenster ganz links sitzt der Gelähmte still für sich an seinem Pult; am Fenster ganz rechts sein Bruder, die vier Kartothekenkästen je zwei zur Linken und Rechten, und ich kann ihm minutenlang zusehn, wie er die saubern Karten, die wir Beide beschrieben, im Kranz um seine Schreibunterlage ausfächert, jede, von der er abschrieb, zur Seite legt, eine auf die andre, dann den ganzen Pack in seinen Umschlag und in den Kasten zurück, und dabei nimmt er den Federhalter quer in den Mund, und wenn er schreibt, geht das wie ohne Besinnen, es ist alles schon fertig. Lauter kleine Vorgänge peinlichster Ordnung. Und so entstehn Werke; so eine Dichtung, denn die Art, wie er Geschichte schreibt, ist ganz Dichtung. Oh heroisch, oh göttlich der Mensch, der etwas entstehen sieht unter seinen Händen! Die Berührung des Werdens verleiht Unsterblichkeit ganz gewiß, Leben springt über in Funken zum toten Stoff und der lebt, Augen schlagen sich auf, Lippe färbt sich und lächelt, Stirne blinkt weiß und rein, und aus ganzem, vollem Antlitz haucht es: Siehe, ich bin! und durch mich bist erst du!

Wie nun der Regen strömt um die Zinnen der Mauer!

am 3.

Als ich heut morgen ins Zimmer kam, stand Georges entfernt am letzten der drei Fenster, die Hände auf dem Rücken. Hell war der Raum im kühlen Regenlicht. Ernst, blasser als sonst schien er mir im Entgegenkommen. Ich glaube, ich stand wohl eine Weile vor ihm, die Hände auf seinen Schultern, und sah an ihm vorüber die nasse blanke Bekrönung der roten Mauer, die Drahtnetze und Gitterstäbe der Fenster und all das andre von Gefangenschaft, und dann fragte ich: »Grünt die Hoffnungsbirke noch?« »Sie grünt wie alljährlich«, versetzte er still, führte mich ans Fenster und ließ mich nach links sehn, und da stand die kleine, seltsame Birke oben auf der Ecke der Mauer, grün und zitternd im Regenfall. Plötzlich fiel mir ein, daß Georges noch immer nicht alles von mir wußte, ich setzte mich auf den Stuhl am Schreibtisch, wußte nicht, wie ich anfangen sollte, es war so grenzenlos traurig auf einmal. – Wir waren verlobt, der Herzog und ich, stieß ich dann hervor. Er antwortete nicht, ich hätte weinen mögen vor Hülflosigkeit, aber auf einmal stand ich mitten im Zimmer und sprach und sprach, es war schrecklich, jeder Satz wurde mir in der Mitte oder im Anfang abgerissen, ich strauchelte über meine eigenen Worte, sprach nur weiter wie im Fieber, von Josef und dem Ech-en-Aton, von Benno, von Sigurd, von Erasmus, vom Wehr und der Nacht, von Ulrika und meiner Angst um sie, das strudelte alles durcheinander, und immer sah ich Josef in seiner schwarzen Vermummung aus der Luke im Festwagen tauchen und Erasmus hinter ihm, den Helm voll kleiner Sträuße. Schließlich wars aus, ich saß wieder im Stuhl hinter Georges und hörte ihn nach einer Weile langsam sprechen.

»Ja, dort drüben wird der arme Sigurd nun sein. Über ihn wird man lesen: der feige Meuchelmörder, – da es aber unser Sigurd ist, so werden wir wissen, daß er nicht feige war, sondern vielleicht mehr ein Held als ein überzeugter Monarchist aus der Schlacht bei St. Privat, denn es ist ja, nach allem was man weiß, eine schwerere Aufgabe für den Edlen, auf einen Wehrlosen zu schießen als auf einen, der wiederschießt. – Ach, sagte ich, ich glaubte, er sei irr, – aber er meinte, deshalb dürfte es doch kaum leichter gewesen sein, und dann mußte ich ihm Sigurds Plan erklären vom bevorstehenden Krieg und den Fürsten, die allesamt fallen sollten. – »Ach,« sagte Georges, »daran erkenne ich meinen Sigurd! Der Herzog wäre vielleicht ganz gern gestorben, wenn alldas richtig gewesen wäre. Regimenter der Unterdrückten, die riesige Internationale der Ungerechtigkeit in allen Ländern, die hörte Sigurd ja immer aufmarschieren, Juden und Polen, Iren und Finnen, Armenier und Serben, Arbeiter in England und in Frankreich und Deutschland, hungernde Rumänen und verwahrloste Portugiesen, Heere unübersehbar, alle vereint in einen Schrei nach dem Recht, – ja, wer wollte da nicht Tambour sein! Und kommt vielleicht in hundert Jahren«, fuhr er fort, die Augen heiß und schmerzlich zu den Gitterfenstern gewandt, »ein Luftschiff hoch mit Griechenwein –« er lächelte fast schluchzend – »durchs Morgenrot dahergefahren, wer möchte da nicht Fährmann sein! – Ihr habt ihn ja nicht gekannt! Die Menschen sind uns nicht, was sie sind, sondern was wir von ihnen sehn, und wen von euch hat er beraten, betreut, ihm geholfen, wen hat er besucht in Gefangenschaft und getröstet in Krankheit und gespeist, wenn ihm die Seele hungerte, mit edler Speise des Vertrauens und der Begeisterung, und mit wessen Traurigkeit war er traurig, in wessen Heiterkeit froh? Ihr saht ihn feiertags, da spielte er Cello und war eine schöne Figur …«

Und nun nach einer Weile fing er an, mir von Magda zu erzählen, was er mir auf ihre Bitte bisher geheimgehalten hatte; da konnte ich nicht anders als nur seufzen: Oh Gott, will es denn niemals ein Ende nehmen? – worauf ich ihn alsbald etwas sagen hörte von: Renate Montfort, die er gestern auf einem goldenen Wagen gesehen habe mit Elefanten und Einhornen, und was ich nun den Kopf hängen ließe! – »Ach, du häßlicher Spötter!« sagte ich und sprang wieder auf, »warst du nicht auch bei denen, die mich immer auf goldenen Wagen sehn wollten und schöne Vergleichungen wußten von Bienen und Sonnenblumen!« Ich war ganz von Sinnen und sagte, wenn ich auf goldenen Wagen gefahren wäre, so wäre ich auch tiefer herabgestürzt, als er vielleicht sehen könnte, und dann herrschte ich ihn an, mir meinen Mantel zu geben. Ich zitterte am ganzen Leib und erinnerte ihn daran, wie ich ihn einmal hinausgeschickt hatte, obgleich ich damals doch im Unrecht war. Seine Gestalt, das Zimmer, die Fenster zuckten groß auf und nieder, ich mußte noch etwas sagen, und so fragt ich: »Wo warst du am Festtag?«

Er drehte sich langsam zum Fenster um, sagte kein Wort. Ich wiederholte meine Frage, gepeinigt, um ihn zu peinigen. – »Du hast«, hörte ich ihn endlich sagen, »beinah zwölf Stunden geschlafen, denn es ist Mittag, und dich ausgeweint. Andre hatten nicht soviel,« schloß er, »und ich war dort, wo du mich fandest, als du mich brauchtest.« Da war meine Kraft zu Ende, auf einmal hatte ich einen Regenmantel an, legte den Kopf auf seine Brust und sagte, er möchte mir vergeben, er wisse ja immer alles. Dann bin ich hinaus, auch die Treppe ganz hinuntergegangen, aber vor dem Haustor drehte ich um und stieg wieder hinauf.

Nun sitze ich und schreibe, um nicht zu denken.

Nachmittags

Ich ließ Georges nach Hause telephonieren und um den Wagen bitten. Der Wagen, dacht ich, soll dich denn zwingen, wenn du nicht willst. Nun sitz ich und warte, weiß nicht, wie ich es fertigbringe, mir fliegen die Hände, ich muß schreiben, daß ich nicht rasend werd vor Angst. Schwach sein, oh schwach sein in der Stunde der Not, ich, ich! Gestern – was, gestern? drei Tage ists ja schon her, aber da hab ichs doch ertragen. Nein, das Grauen – Josefs Vater … ich kanns nicht! Und wieder Magda, die mich braucht! Ließ ich sie vor drei Jahren nicht allein und begnügte mich mit redseligen Briefen?

Schuld ist es, Schuld, sag es, sag es doch, daß du dich lange schuldig fühlst! hier, sitz, schreib, schreib auf, willst du wohl! schreib: Damals, als Josef aus dem Haus wollte, konntest du ihn nicht halten? Nein, da war die Kunst vergebens, du bewegst keinen Marmor, es war zu spät! Aber Erasmus? Sah ich ihn nicht mit Fäusten losgehn, damals, auf seinen Bruder? Und dann, was sagte er? »Ich bin doch schon als Junge einmal mit dem Messer auf ihn …« Oh das hör ich nun, als wärs heute! Warum vergaß ichs denn inzwischen? Warum war ichs nicht eingedenk Tag und Nacht, wachend und schlafend: er ist als Junge schon mit dem Messer auf ihn losgegangen! Warum war ich nicht eingedenk Jahr um Jahr: »Lieber Bruder Erasmus, noch ists nicht Zeit! – Und warte,« sagte Josef, »ich entgehe dir nicht!« Wars nicht so? Oh Gott, habe Barmherzigkeit, was konnt ich tun? Liebte mich nicht Erasmus, kannt ich nicht seine Natur, die mich in keine Nähe zu ihm ließ, es sei denn die eine?

Fort jetzt, nur fort! Warum kommt nur der Wagen nicht. Ich muß hin, ich muß ihm in die Augen sehn! Sehn, sehn, ob ich schuld bin wie er, und ihn bei der Hand fassen und verbrennen mit ihm, wenn ichs bin.

in der Nacht

Wieder in meinem Zimmer.

Sonderbar und unbeschreiblich ist mir zumut. Ist das möglich, daß alles hier unverändert ist? Lampe und Sofa, Ofen und Bücher, – und mein weißer König sieht über mich hinweg wie immer.

Ja, du mein Heiland, du heilender, so laß mich dir bekennen alles, was inzwischen geschah.

Die Fahrt war so grauenhaft schnell zu Ende, daß ich kaum nach dem Hinsetzen im Wagen die Augen geschlossen hatte, als er schon wieder hielt, und da war wirklich die alte Hausfront, das Tor und die goldene Fünf in den eisernen Ranken, alles fest und still und genau. Als ich durch den Vorgarten ging, öffnete Konrad die Glastür, lächelte und sagte bekümmert: »Das kleine Fräulein, ach Gott!« Aber kaum im Hausflur, fuhr ich entsetzt zusammen, weil das Telephon aus der Kleiderablage gellte. Ich dachte, ich sei nur wie immer erschrocken, seit Irene durch das Telephon von Doras Kindern sprach, und so nahm ich mich zusammen, ging selber in den kleinen Raum voller Mäntel.

Und dann wars Ulrikas Stimme, matt und erschöpft, die fragte, ob ich es schon wisse, und unendlich weit fort hört ich sie sagen, ach, ich weiß die Worte nicht mehr …

Sie haben sich geschossen. Bogner ist verwundet. In der Brust. Der Arzt sagt, er wird leben bleiben. Ulrikas Mann – ja, nun weiß ich das auch nicht mehr, – ist er tot? Ich verstehe es nicht, verstand es kaum, als ich sie sprechen hörte, es schien mir so gleichgültig, – und auch – als hätte ich alles schon gewußt …

Und im nächsten Augenblick, glaube ich, hatte ich alles vergessen; statt dessen merkt ich, daß ich furchtbaren Hunger hatte; zu Mittag hatt ich keinen Bissen hinuntergebracht. So stand ich minutenlang, konnte mich auf nichts besinnen, zwischen den Mänteln und Jacken, und da lag der große graue Hut des Erasmus auf den Messingstäben und Magdas grober Gartenpanamahut mit dem dünnen schwarzen Band. Der sagte mir denn, was zunächst kam, und ich ging die Treppen hinauf bis vor mein Zimmer. Die Klinke in der Hand merkte ich, daß ich falsch gegangen war, wollte zurück, bildete mir aber nun ein, eine Minute Schonung, nein, Aufschub sei wohl gegönnt, und als ich öffnete, saß im Sofa, eine breite, weiße Binde vor den Augen, Magda.

Wie starrt ich nur hin! Eine leise Stimme sagte: Da sitzt es! – Ihre grade Haltung und die Binde, das halb verdeckte Gesicht machten sie so zu einer Figur, einem Bilde der Gerechtigkeit oder etwas ähnlichem, so daß sie mir vorkam wie eine Gestalt all des Tödlichen und Schaurigen, das mich durchfahren hatte, so reißend schnell, daß jedes sich erst verstehen ließ, wenn es schon geschehn war. Nun saß das Unheil hier, ganz still, eine Binde vor den Augen … Magda! schrie ich und fiel mit dem Gesicht in ihren Schoß. Mit mir fiel die Erde. Sie hielt nun nicht mehr, ich wollte schreien vor Angst, als ich spürte, wie die Erdfesseln ganz lose wurden, und da rissen sie, der Boden tat einen ungeheuren Ruck, es toste, riesige Bäume wankten und schlugen um, ich konnte noch denken: Ein Augenblick, dann ist alles vorüber! Da kreiste die rote Finsternis langsamer, von unten kam die Sicherheit wieder, der Boden hielt, ich kniete, in meinem Haar glitt eine lindernde Hand …

Dann sprach ich mit Magda. »Wir wollen nicht verzweifeln,« sagte sie, »der Arzt meint, das eine Auge würde sicher heil bleiben –« sie brach unruhig ab, lehnte den Kopf gegen die Wand zurück und drehte das Gesicht nach dem Fenster. Ihre Stimme war so tief gewesen wie sonst nur, wenn sie singt.

Meine Fragen wehrte sie ab und fragte selber nach Georg. Als sie hörte, daß er krank sei, stand sie gleich auf, sagte, sie müsse zu ihm, ich sollte sie führen, aber plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und rief verzweifelt: »Daß ich nun hülflos bin, mein Gott, das durfte doch nicht kommen!« Ich hielt ihren Kopf an meine Brust gedrückt, das kleine weiße Königsantlitz flimmerte mir vor den Augen, und ich sagte zu ihm: Wir, Josef, ja, wir gehn unsre luftigen Wege und finden die schönsten Worte, o du Delfin des Lichts, aber unsre Handlungen gehn allein vor sich, bis es zum Sterben kommt, dann besinnen wir uns und nehmen grade Haltung vorm Tode. Herrgott, schrie ich innerst, und die Kinder müssen leiden, was Riesen nicht schleppen, über die Armen wird Armut gehäuft, die Hungrigen bekommen zu fasten, und wer Sonne austeilen möchte mit beiden Augen, dem werden sie ausgestochen, und ich, sagte ich außer mir, ich habe die Verneigungen nun satt, große wie kleine, und ich habe genug gelitten! – Sage doch, was du willst, antwortete es kühl aus den weißen Statuenaugen, aber du irrst, wenn du meinst, daß ich hinsehe. –

Magda machte ihren Kopf frei und sagte: »Jahre sind gekommen und gegangen, und ich habe mich in die unbekannte Einsicht Gottes gefügt und gewartet.« Und, sie habe gelitten, sagte sie, so sei es nicht schwer gewesen, an den Tod zu denken und seine Bitterkeit mit einer rettenden Tat zu vergolden, – so daß ich nun merkte, sie hatte die alte Prophezeiung der Zigeunerin niemals vergessen. – Ihre Hände fielen schlaff herunter, sie fing wieder an: »Die Nacht ist hingegangen, die ich mit Grübeln versessen hab, die Uhren schlugen Tag, und es kamen Menschen, und ich – was soll ich glauben? Ich bin ja hülflos. Ich kann nun bloß dastehn und warten, daß der Tod jemand treffen will, und ich stehe vielleicht dazwischen, und er trifft aus Versehen mich, – was kann ich tun?«

Mir quoll das Herz. Aber jetzt auf einmal kam das Seltsamste zu Tage. Sie wußte ja noch nicht die genauen Vorgänge vom Tode des Herzogs, wie sie aber nun alles von mir hörte, fuhr sie zusammen, berichtete mir in der Hast etwas von einer Fremden, im französischen Park, einem Anfall gegen sie oder Georg, ich verstand es nicht deutlich, und daß sie Georg habe ins Wasser fallen hören, was ich ihr ja aus Sigurds Worten bestätigen konnte. »Und siehst du,« sagte sie dann erglühend, »wenn nicht das mit mir geschehen wäre, so würde Sigurd Georg getroffen haben, und also – also wars nun das dritte Leben, das ich – gerettet habe. Und meins ist nun aus …«

Danach wurde sie ruhig. Franziska kam und meldete, es sei zu Abend angerichtet, und sie stand auf, ich führte sie zur Tür. Draußen ließ sie meine Hand los und ging allein an der Wand hinunter, fand auch zum Treppengeländer hinüber, wo sie aber fast umgesunken wäre. Sie brachte keinen Laut hervor, richtete sich nach Sekunden wieder auf und ging die Treppe hinunter. In der Halle – nein, da riß alles ab.

Plötzlich stand ich vor Erasmus' Stubentür. Ich wollte klopfen, aber meine Hand versagte, auch den Türdrücker bekam ich kaum herunter, und als die Tür aufging, wars, als fiele ich an ihr herunter in das Zimmer. Da saß Erasmus vor dem Schreibtisch in Hemd und Hose, über ein großes Buch auf seinen Knieen gebückt, schon umgewandt nach mir, aber ganz geduckt, und als ich seine Augen sah, schrie ich: »Mach die Augen zu, Erasmus!« Dabei muß ich selber die meinen geschlossen haben, aber nach einer Weile sah ich ihn wieder mit gesenktem Kopf wie einen Sünder in seinem gelben Unterhemd über seinem Bibelbuch hocken. Da ging ich zu ihm, als ging ich über Wasser, legte eine Hand auf seine Schulter, und sein Nacken war so lang und ganz rostrot, und sagte leise: »Was liest du denn da, Erasmus?« Er hatte die Unterarme über die Seiten gelegt und die Hände über die oberen Buchränder gekrallt; so blätterte er mit den Fingern die Seiten auf, zog aber endlich die Arme fort und ließ mich auf das Blatt sehn. Die schwarzen Zeilen schwammen ineinander, es war, als begingen wir eine Sünde zusammen, und ich flüsterte: »Du mußt mirs zeigen!« Nun brachte er eine Hand über die Seite hin, der Zeigefinger krümmte sich und wies eine Stelle, und ich las hinter dem rückenden Finger her langsam die Worte: So wird mirs gehen, daß mich totschlage, wer mich finde …

Und dann? Ich hielt sein Gesicht in den Händen, sah durch das Fenster mit blinden Augen, sah das Gartengitter unten und die Alleebäume, und seine großen Hände lagen glühend um meine Unterarme geschlossen; dann fand ich mich über ihm stehend, und er hielt meine Hände. Auf einmal hatte ich wieder Kraft, nahm das Buch von seinen Knieen, legte es fort und sagte zu ihm: Steh auf! – Mir zitterte das Herz, wie blindlings er gehorchte, und er stand da wie ein Knecht, groß, so breit und mit geducktem Nacken. Darauf ging ich zur Tür, hörte, wie er sich auch in Bewegung setzte und mir nachkam und die Tür wieder schloß und hinter mir die Treppe hinunter stieg; es brauste in meinen Ohren, alle Geräusche waren so deutlich und doch wie in weiter Ferne. Vor dem Schlafzimmer seines Vaters hab ich auf ihn gewartet. Als ich die Tür öffnete, gab es einen Luftzug, ich fühlte das Haar wehn auf meiner Stirn, und an beiden offenen Fenstern des Raumes wehten die leichten weißen Vorhänge herein. In seinem Bett, das frei dastand, saß der alte Mann; ich sah seine hohe, kahle Stirn und den Bart und die flackernden dunklen Augen, er aber sah mich nicht, sondern den, der draußen stand und die Hände rang, und dann fühlte ich mein eignes Lächeln so brennend, als hätte ich eine Sonne im Antlitz. Ja, ja, ja, die hielt ich ihm hin, die Luft brauste auf, Fittiche schlugen weiß aus der Tiefe, der Engel stieg wieder herauf, und die uralte Stimme rief laut: »Komm herein, mein Sohn, komm herein!« Da stürzte ein schwerer Körper an mir vorüber in den wolkigen Raum, ich hörte einen dumpfen Fall und die Worte: »Vergieb mir, mein Sohn, und laß mich wieder dein Vater sein!« – Dann war ich draußen.

Am Ende eines langen weißen Flurs sah ich das stille Einhorn auf und nieder gehn; doch entfernte es sich bald, bog um eine Ecke unter eine altertümliche Arkade ein – später fand ich sie wieder auf der römischen Abbildung, die dort hängt – und verschwand, den langen, weißwallenden Schweif sanft um die zierlichen Fesseln legend, in einer grünen Dämmerung, die sich langsam schloß und zu grünen Korridorwänden mit weißen Türen wurde.

Später fand ich mich in meinem Schlafzimmer auf dem Bett und schlief gleich.

Cornelia Ring an Renate

Altenrepen, am 4. 8.

Liebes Fräulein von Montfort,

bitte wollen Sie mir verzeihen, daß ich mich an Sie wende, aber ich habe sonst niemand, den ich fragen könnte, wo Herr von Montfort ist, und ich bin ja so verzweifelt! Nun ist schon der fünfte Tag, daß er das Haus verließ – Sie werden wohl wissen, daß er seit seiner Rückkehr nach Deutschland hier im Hause von Herrn Bogner wohnt –, und es wäre gar nicht seine Art, uns ohne Nachricht zu lassen. Mit ›uns‹ meine ich seinen Diener, der Ihnen diesen Brief bringt, einen Halbchinesen; er heißt Li und hängt mit so außerordentlicher Liebe an seinem Herrn, daß ich Sie bitten möchte, falls Herrn von M. etwas zugestoßen sein sollte, es ihm zu sagen, und Sie brauchten dann mir nicht erst zu schreiben.

Von Herrn Bogner hörten Sie wohl? Er ist heute zum ersten Mal zur Besinnung gekommen, der Arzt meint, er soll ins Krankenhaus, was auch recht schmerzlich für mich ist zu aller Aufregung, ich meine, weil ich ihn dann nicht pflegen kann und nur unruhiger werde. Ich will nun aber schließen und grüße Sie mit nochmaliger Bitte um Vergebung als Ihre gehorsame

Cornelia Ring

Renate an Cornelia Ring

Waldheim, am 4. August

Liebes Fräulein Ring,

durch Li wissen Sie nun schon, ehe Sie diese Zeilen lesen, was geschehen ist. Glauben Sie mir, daß ich wie eine Schwester mit Ihnen empfinde, und so gerne wäre ich selber zu Ihnen gekommen, aber leider habe ich eine erkrankte Freundin im Haus, die ich noch nicht allein lassen kann. Möchten Sie nicht statt dessen mich besuchen? Ich könnte Ihnen dann vielleicht noch mehr sagen, was Sie wissen möchten. Li, der kleine, war so sehr gebrochen, ich werde nie vergessen, wie sein eben noch lächelndes gelbes Gesicht ganz grau wurde! Er bewegte sich nicht, aber er sank ganz zusammen in seinem langen braunen Mantel. Ich bin sehr in Angst um Sie, liebes Fräulein, und bitte, wenn Sie sich fähig dazu fühlen, besuchen Sie ja recht bald Ihre

Renate Montfort

Noch etwas fällt mir ein, das Li betrifft. Meine kranke Freundin, deren ich erwähnte, hat eine Augenverletzung, es ist zu fürchten, daß sie erblindet. Nun war sie dabei, als ich mit Li sprach, und da er mehrere Male ganz verzweifelt sagte: Was soll nun aus mir werden? so ging es uns durch den Kopf, daß ihn meine Freundin zu sich nehmen könnte, gesetzt, Sie selber wollen ihn nicht behalten. Meine Freundin würde einen Führer brauchen, und mir gefiel er sehr! Seine Treue, sein Schmerz, seine Höflichkeit, und was hat er für merkwürdig runde Augen in dem Chinesengesicht!

Irene an Renate

Nonnenkloster Mariabrunn, am 7. August

Ja, Renate, da bin ich wieder hier, Hals über Kopf, und da ich leider keine Ahnung habe, weshalb Du nicht im Hause warst, so bin ich ziemlich ratlos und wäre Dir dankbar für ein Wort über Dich und vor allem über Magda. Renate, was ist mit ihr? Ich sah sie, sie sprach von einem Unfall, sie war so beängstigend still!

Zu Hause wars nämlich nicht auszuhalten. Meine Eltern redeten bis in die Nacht, und am nächsten Morgen fingen sie wieder an. Und alles die reinste Neugier! Herrgott, was wollten die alles wissen! und o Himmel, diese Vorstellungen! Immer wieder die Fragen: Ob denn mein Mann nicht gut zu mir gewesen wäre? Ob ich ihn denn nicht liebte? Als ob das etwas damit zu tun hätte! Als sie sich aber bis zu dem Ausdruck Ehebrecherin verstiegen, da hatte ich denn doch die Nase voll. Ach, du lieber Gott, wenn Worte einen Menschen zu etwas machen könnten, ich wäre es geworden in diesem Augenblick. Ich hätte an mir selber irre werden können, packte meine Sachen und entfloh.

Hier ist alles, wie es war. Die guten Alten sind bis auf eine einzige noch dieselben, die Jungen sind Andre als dazumal, aber das Genre ist geblieben. Ein Aufheben gab es meinetwegen natürlich nicht, nur die Abatissa konnte sich eine triumphierende Bemerkung und einen spitzen Mund nicht verkneifen. Sie ist eine Gräfin und hat sich auch so! Vor lauter Genugtuung über meine Wiederkunft sagte sie etwas ganz Verwickeltes vom Heiland, der nicht in Häusern wohnte, sondern in Herzen. Ja, dacht ich, der wird sich grade bedanken und in deinem verfrömmelten Herzen wohnen! und sagte: ich wäre dankbar, hier nur etwas Ruhe und Sammlung zu finden, bis sich herausstellte, ob mein Aufenthalt von Dauer sein würde (was der Himmel verhüten möge!) oder nicht. Da wurde sie noch spitzer und sagte, ein Herz voll Unruh wäre was Köstliches, und nur am Abgrund hin führte der Weg in den Frieden. – So eine geht nun alle Tage mit dem Heiland um, und ist sie deshalb anders als die Andern? Na, die wird sich wundern, wenn es am Jüngsten Tage heißt: Reichsgräfin Jutta von Lindenau, weiland Abatissa, verblichen im Geruche großer Heiligkeit, und sie sieht sich denn dastehn in ihrem Sündenstank, der zum Himmel schreit. Mir ging ein großes Licht auf, und ich sehe, daß es mit der Mehrzahl der Menschen so bestellt ist: der eine ist leidenschaftlich Bergsteiger, der andre sammelt leidenschaftlich Briefmarken, einer geht ins Kloster, und eine ist meinetwegen Frauenrechtlerin. Und all diese leidenschaftlichen Dinge tragen sie sauber verschlossen in einem großen Koffer mit sich herum, den sie überall vorzeigen und sagen: da ists drin! und im übrigen sind sie ganz gewöhnliche Menschen. Die Briefmarken machen sie nicht weiser, und die Berge nicht klar; die Jesusliebe nicht demütig, und das Frauenrecht nicht duldsam. Ach, ist es denn mit mir vielleicht anders gewesen? Ja, denn ich war die ganzen Jahre lang überhaupt nichts!!!

Was mit mir zu geschehen hat, ist klar. Ich muß wieder werden, die ich gewesen bin, vor der Ehe, mit Leib und Seele. Ich weiß noch nicht, wie das geschehen soll, aber es muß. Nun – damit muß ich allein fertig werden. Leb herzlich wohl, wenn ich kann, werde ich schreiben. Gedenke nicht unfreundlich Deiner

Irene

In meiner üblichen Selbstsucht vergaß ich natürlich, daß ich Dir von meiner Schwägerin Dora schreiben wollte. Daß sie mich vermissen wird, glaube ich zwar nicht, bei dem versteinerten Zustand, in dem ich sie verließ; da ich aber weiß, daß ich trotz ihrer vielen Freunde und Bekannten allein ihr ganz nahe war, so ist mein Gewissen gar nicht rein! Deshalb möchte ich Dich bitten, recht bald einmal nach ihr zu sehn und mir möglichst ausführlich zu schreiben, wie Du sie fandest! Nicht wahr. Du bist so lieb?!

Renate an Irene

Waldheim, am 14. August

Meine liebe Irene!

Daß ich Deinen Brief erst heute beantworte, geschieht deshalb, weil ich erst Bestimmtes über Magda wissen wollte. Das habe ich nun heute erfahren, und es ist sehr schmerzlich. Die Sehkraft des einen Auges ist ganz, die des andern fast erloschen. Sie sieht nichts, wir dürfen uns das nicht verhehlen, obgleich sie selber behauptet, Farben, sogar Gestalten erkennen zu können, und hell, sagt sie, sei es stets. Du siehst: sie ist, wie sie immer war! Übrigens giebt es etwas, das ihr dies Schicksal tragen hilft, aber ich finde die Worte nicht, es zu erzählen. Es ist aber das, daß sie die alte Prophezeiung, von der Du weißt, nun erfüllt sieht; und daß es Georg war, an dem sie sich erfüllte, ist ihr Trost.

Zu Dora ging ich schon zwei oder drei Tage nach Empfang Deines Briefes, fand sie über einem Berg von Schriften und Rechnungen ihrer Vereins- und Küchenangelegenheiten, und sie gestand mir ihre letzte Verzweiflung: ihr Gedächtnis habe gelitten, sie könne nicht mehr rechnen oder mit Angestellten verhandeln und dergleichen. Es gelang mir, ihr meine Hülfe aufzudrängen, ich bin seitdem fast täglich bei ihr gewesen, sie hat mich bei ihren Mitarbeiterinnen eingeführt und so nach und nach alles in meine Hände gleiten lassen. Ich werde es freilich wieder abgeben müssen, ausgenommen die Beschäftigung mit der Volksküche, Doras persönliche Domäne, denn für die Damen bin ich ein Eindringling. Bin auch wohl fähig einzusehn, daß Kampf gegen die vielen sozialen Schäden und Unvollkommenheiten notwendig ist, aber in der Welt, wo er vor sich geht, bleibe ich fremd und mag auch nicht kämpfen. Die Welt ist bisher eine männliche Angelegenheit gewesen; haben sie sie verunglimpft, sollen sie sie auch wieder rein machen, und sind die Frauen unzufrieden, so können sie ja streiken, aber als Frauen, und kein Geschrei machen wie die Männer. Daß arme Leute für wenig Geld viel und gut zu essen haben müssen, leuchtet mir ohne weitres ein, und deshalb gehe ich in die Küche.

Kaum dann, daß ich alles so weit hielt, um es weitergeben zu können, ist Dora mir fast unter den Händen erloschen. Sie lebt, sie besorgt weiter für sich und ihren Bruder das Haus, aber sie ist stumm und ganz stumpf. Jason, den ich häufig bei ihr fand, sagte mir, was sie ihm bekannte: sie erwartet ein Kind, das sie in der Nacht empfing, als die andern starben. Warum gerade dies ihr so qualvoll ist, würde ich mich vergebens fragen, wenn ich nicht wüßte, daß jede Qual den Menschen weniger bricht, als vielmehr ihn furchtbar verkehrt, und was dann Andern Trost scheinen mag oder Hoffnung: es paßt alles nicht für ihn; es wird alles nur wieder Qual.

Soviel habe ich an mir gelernt. Dir mehr davon zu sagen, bin ich noch nicht fähig, gute Irene, und muß es Deinem liebevollen Herzen überlassen, zu ahnen, was sich nicht erklären läßt. – Daß Du den Weg finden wirst, den Du suchst, will ich von Herzen mit Dir glauben. Da sehe ich Dich wieder in meiner Kapelle stehn: ›Die Wege des Himmels sind außerordentlich …‹ hieß es nicht so? Ach, Kind, Kind! ehe wir nicht durch die menschlichen Ordnungen gebrochen sind und rasend geworden vor Not, eher werden wir in die göttlichen kaum passen. Da sind die alltäglichen Verrichtungen für uns gut genug, und nach uns wendet kein Gott sich um, wenn wir vorübergehn.

Magda schließt ihre innig-liebenden Grüße den meinen an! Stets Deine alte

Renate

Aus Renates Buch

am 21. August

Heut habe ich nun zum ersten Mal Bogner wieder gesehn, ein Anblick zum Weinen.

Er hat Schlimmes überstanden. Zu den Wunden trat Rippenfellentzündung; bei der Punktion, um das Wasser zu entfernen, muß schon Eiter dagewesen sein, es gab eine Infektion an der Stelle, und nun waren weitere Punktionen unmöglich. Später stellte sich eine schwere innere Vereiterung heraus, es mußte geschnitten werden, ein Stück Rippe heraus, und es gab einen Eimer voll Eiter. Nun liegt er mit einer Kanüle an einen Saugapparat angeschlossen. Ulrika erzählte mir das auf der Fahrt zur Klinik und bereitete mich auf seinen Anblick vor. Ihre eigenen Züge waren verfallen, oder war es schon diese unheimliche Erweiterung von innen durch die Mutterschaft?

In dem schmalen Krankenzimmer war zuerst nichts zu sehn als die hohe Rückenwand eines Metallbettes, ausgefüllt von hochgestellten Kissen, dazu ein Gestell mit dem Saugapparat, von dem aus ein langer roter Gummischlauch in den Kopfkissen verschwand. Weiter vorgehend sah ich einen alten, furchtbar vergrämten Mann dasitzen, und aus schlottrigen grauen Stoppelfalten seiner Gesichtshaut, aus den Knochenrändern seiner großen Augenhöhlen blinzelten ganz dunkle Augen in die Höhe, wo von einer der Länge nach über dem Bett angebrachten Eisenstange eine Kette mit einem Ringe hing, den er mit schneeweißer, langfingriger Hand gefaßt hielt. Ich glaubte, in einem falschen Zimmer zu sein, und wollte mich zu einer Tür umdrehn, als er mir das Gesicht zudrehte und ich ihn erkannte. Oh, hinter der Maske von Gram und Krankheit das alte, wohlbekannte Gesicht nun so erschreckend deutlich wie ein Gesicht in einem Gebüsch oder hinter einem Zaun!

Die Rosen, die ich ihm hinlegte, sah er gar nicht an, sondern griff gleich mit beiden Händen nach meiner. Dann saß ich auf einem Stuhl bei ihm, meine Hand hielt er fest, und von irgendwo kam eine kaum vernehmbare Stimme: »Renate Montfort …« Da seine Lippen sich bewegten, so mußte es seine Stimme gewesen sein, nun mußte er husten, es dauerte lange, bis er fortfahren konnte: »Ich wollte sagen: Renate Montfort weint. Traurig für mich,« setzte er hinzu, »aber – hübsch! hübsch!« Dabei lächelte er, daß mich die Erinnerung an meinen Vater durchrann; der hatte auch in den letzten Tagen dies mühselige Lächeln der dem Tode Nahgekommenen: nur ein Gesichtverziehen, als ob sie erstaunten.

24. August

Mein dritter Besuch bei Bogner. Beim zweiten bat er mich, doch täglich zu kommen. Er spricht nun viel, wird aber schnell müde; seine Stimme ist mitunter kaum zu vernehmen; seine Gedanken scheinen rastlos in Bewegung.

»Sagen Sie doch,« fragte er heute, »ist Fuge wirklich das lateinische fuga?« Da ich bejahte, wunderte er sich und meinte: »Also wirklich Flucht? Das ist ja abscheulich!« worauf er mich und Ulrika nachdenklich betrachtete und fragte: »Ich möchte wirklich wissen, wie ihr es anstellt, diese unseligste aller Künste zu betreiben!«

Wir stellten uns sehr böse. Warum unselig?

»Eben,« sagte er fein, »weil sie gradezu die Seligkeit will. Aber sie kriegt sie nie. Sie ist ja nur immer da hinterher. Sie ist so ganz – bergig! Fuga, die Flucht. Sie ist wie der Lauf eines flüchtigen Tiers über ein Gebirge.« So sprach er unaufhaltsam weiter. Immer hätte die Musik etwas Gejagtes, könne nie stillhalten, sei zwischen ihrem Anfang und dem Ende unaufhörlich, und wenn man ja absetze an einer Stelle, so geschehe das nicht glatt wie bei einem Gedicht, sondern mit einer zackigen Bruchstelle. Immer wolle sie die Ruhe, liege immer im Sterben, »und hat sie die Ruhe doch einmal,« sagte er, »so tritt sie schon wie ein Gewässer über ihren Rand.«

Ulrika wandte ein, wenn er ihr einmal bei einem guten Legatosatz schön zugehört haben würde, ob er dann nicht hinter der Bewegung den Stillstand gehört haben würde.

» Quies in fuga?« meinte er zweifelnd, »die Ruhe auf der Flucht?«

Schöner, erwiderte ich, ließe es sich kaum ausdrücken.

»Aber erklärt mir eins,« fing er nach einer Weile wieder an, »warum habe ich denn immer, wenn ich genau zuhöre, das Gefühl: weshalb ist das nun so? Könnte es nicht gradsogut alles ganz anders sein?«

Weil er, erklärte Ulrika ihm lachend, jetzt genug geredet hätte und schlafen sollte.

»Das will ich,« sagte er folgsam entschlossen, »aber noch eins!« Er fing umständlich wieder an, wir hätten seine erste Frage nicht beantwortet, wie wir es nämlich machten, die unselige Kunst zu betreiben. Er rieb sich die Hände. »Ich wills euch sagen. Die Musik ist für gewöhnliche Menschen Gift, ihr aber habt in euch ein Gegengift, denn – ihr seid Angeli sancti, nicht wahr?« schloß er mit einem sonderbar ängstlichen Blick zu Ulrika empor.

Diesen scheuen Blick seh ich noch immer. Denn er war nicht nur dasmal, und wenn er nicht in seinen Augen war, so doch in einer Bewegung; und stets ist er gegen Ulrika von einer so ängstlichen Zartheit, die mir, ich weiß nicht warum, so schuldvoll erscheint, und ich muß die Augen niederschlagen, wenn er nur sagt: »Möchtest du wohl so gut sein …«, als wäre da etwas zum Schämen.

am 25. August

Auf Ulrikas Bitte teilte ich Bogner heute mit, was er von Magda noch nicht wußte. Er hörte wortlos zu, schloß dann die Augen und hielt sie lange so, wie um zu versuchen, was Blindheit sei. Als er sie wieder öffnete, sagte er, sie zukneifend, geblendet: »Unmöglich! Sterben ist möglich, aber blind werden nicht!« Da erinnerte ich ihn, um ihn sich selber vergessen zu machen, daran, daß Magda nicht male.

»Richtig,« sagte er, »sie hat ja auch eure Musik. Oh freilich Musik! Die Sehenden macht sie halb blind, diese blendende Sonne, aber für Blinde kann sie ja dann wohl eine schöne Quelle der Wärme sein.«

»Ich wills Magda sagen«, meinte ich leise.

»Nein,« sagte er da, »sagen Sie ihr nicht das! Es klingt nicht gut so von Blinden … Sagen Sie ihr –« Er besann sich, die Lippen bewegend, sagte dann: »Der Körper ist blind, aber die Seele ein Argus mit tausend Augen; soviel Götter, soviel Augen.«

Wir hatten dann eine Weile von andern Dingen gesprochen. Auf einmal fragte er mich, lächelnd mit einem Mundwinkel, ob mein Vater nicht Pfarrer gewesen sei, und als ich nickte, ob er gewesen sei, was man so liberal nennte. – »Ach, nein!« »Ein ganz frommer Mann?« Ich bejahte.

»Dann«, sagte er, »will ich Ihnen noch was schenken. Jason hörte ich einmal sagen: Ein liberaler Pastor – da könnte man auch sagen: eine liberale Musik, – und nun fällt mir bei dem Seelenargus ein: das sogenannte liberale Christentum ist wie der einäugige Polyphem, geblendet vom listenreichen Ulyß,« schloß er verschmitzt, »der Vernunft.«

Er ist nun so klügelnd geworden …

am 26.

Ich kam von Bogner zurück, es war schon spät und dämmrig geworden, da hörte ich die Orgel. Konnte das wieder Magda sein? Gleich lief ich in den Garten, wo ich dem Getön anhörte, daß Tür und Fenster der Kapelle geschlossen sein mußten und daß es äußerst heftig war. Näher kommend hörte ich Gesang und erkannte die Musik der alten Kirchenarie von Stradella › Si miei sospiri‹, zu der Georg Magda einmal einen deutschen Text geschrieben hat. ›Wer weint in Finsternis? Wer schluchzt im Dunkel?‹ fing es an. Vor der Tür der Kapelle hörte ich die Orgel allein die Schlußwendungen mit solcher Kraft brausen, daß die hölzerne Tür erbebte; ich öffnete und trat ein, es war dunkel drin, die riesigen Orgelstimmen warfen sich über mich wie Geister, schon wieder mit der Wucht der Oktavengänge im Baß des Anfangs einherstampfend. Ach, ich glaube, alle Engel meiner Brust sind aufgestanden vor einer übermenschlichen, viel zu lauten, einer rauchenden Stimme aus dem Dunkel, die hinfegte über mich durch den Raum, so tief und gewaltsam, so brechend aus allen Fugen, nach oben stürzend und sich niederschmetternd, daß ich mich nicht halten konnte und hingekniet bin und das Gesicht in die Hände gelegt habe. Und jetzt: schwarzblau durch das Schwarze der Nacht, unter Gewölben her, kam der Engel gebraust, der furchtbare, blinde. Die Stirn im Armbug trat er die Lüfte hinter sich mit zuckenden Füßen; die riesenhaften Schwingen bogen und wanden sich wie schwarze Flammen, er peitschte mit ihnen, und so jagte er unterm Gewölbe hin und über mir fort, und die Lüfte schlugen schallend hinter ihm auf wie Gewässer, heraufklatschend an den Nachtwänden. Es war ein endloser Gang, nicht breiter, als daß der Engel darin fliegen konnte, und so kam er zurück; ich, oh ich sah die Sohlen seiner Füße bleich schimmern, wie er über mir fortstürmte, und plötzlich sah ich ihn an den Stäben eines Gitterfensters hängen und daran rütteln; sein Leib fiel nach unten, er hing, so lang er war, aber er schwang die Füße hoch, stemmte sie gegen die Wand, und während hinter ihm die ohnmächtigen Flügel in rasenden Wirbeln die Lüfte peitschten, rüttelte er mit seinen langen Armen, rüttelte und schrie auf, ließ los, ermattete, tastete und stürzte ins Bodenlose ab. Ehe aber der Donner seiner Schwingen in den Tiefen verhallt war, kam er wieder herauf gerauscht wie ein Brunnen, und jetzt rannte er mit wütender Schnelle schräg nach oben und mit ungeheurem Prall gegen die Wölbung, daß sie barst.

Sechs schöne, farbige Engel, Gitarre, Harfe und Posaune in Händen, standen in einem tiefen, morgenstillen Zwielicht auf der Kuppe eines Berges; tiefer braute Gewölk. Es orgelte ruhig in den Tiefen, große Takte schlugen majestätisch herauf, der Umkreis der Himmel erschien, duftende Büschel und Hecken feuerfarbener Lilien raschelten, bewegten, ordneten sich und standen still, mit fahrender Schnelle kam das Licht, körperlos zog es herauf, goldene Dünste stiegen in triumphierenden Wolken überall, die Engel hoben ihre Instrumente, die lange Lure wies steil in das kühle Morgenblau oben. Dort stand einsam ein weißer Stern, aus dem langsam eine Träne rollte und fiel; der Stern war ein weinendes Auge, die Träne fiel naß und brennend auf meine Hand, es war dunkel.

Nun hörte ich meine Orgel leiser sausen, es war wieder das Vorspiel, aber als nun Magdas singende Stimme wieder einsetzte, war es reine Sanftmut, nur schmelzender Wohlklang, und sie leitete nun ihren Gesang, wie es schön und recht war, ohne Übermaß, beugte ihn und richtete ihn auf, ließ ihn schwellen und verhallen, ließ die Stimme schweigen lernen und sich bändigen durch unerbittliche Pausen des bemessenen Orgeltons. Und als sie zum vierten Male zum da capo al fine einsetzte, hatte sie das Maß; die Stimme gehorchte freiwillig, der lärmende Gott der Blindheit war nirgend.

Und wiederum in diesem fremden Augustmond sah ich meine Erscheinung.

Im grünenden bewegten Garten stand die Sonnenuhr. Es war heller Tag, in allen Büschen glitzerten Taulichter, aber als ich wieder nach der Sonnenuhr blickte, war der Zeiger sonderbar lang und war das gewundene Horn des Tiers. Das weiße Tier stand im Garten, es hob die leichten seligen Füße und ging vorwärts wie im Tanz, indem es sich unaufhörlich verneigte, die Stirn mit dem Horne senkte und hob, ein Tanz von der unbeschreiblichsten Sanftmut, der plötzlich endete, da das Tier den Kopf stillhielt und zu lauschen schien, und nur die Spitzen des Mähnenhaars und des Schweifs flatterten ganz wenig an dem Marmor gewordenen Leibe. Jetzt wendete es den Kopf zu mir her, und ich sah, daß es freundlich lächelte, während es auf einen großen, blauschwarz gewandeten Engel zuschritt, der plötzlich unter den hohen Bäumen stand. Er legte eine Hand auf den Rücken des Tiers und wandte sich zum Gehn, so daß ich die hohen Büge seiner gewaltigen Schwingen über seinen Schultern sah, während die gebogenen, sehr schmalen Flügel selber an seinem Leib vorüber weit nach vorne die Spitzen streckten. Der Engel und das Einhorn gingen so zusammen fort in den Wald hinein, und sonderbar nahm er im Gehn seine Fittiche unter die Arme; dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen; er war klein geworden in der Ferne und sah nun schon ganz wie Jason aus; er war es auch wirklich, da er sich nun umdrehte und sein Gesicht zeigte, weiß mit schwarzen Augen, aus denen es lächelte …

Sie waren verschwunden. Es rauschte durch den Wald, dann erlosch er eilig. Ich lief, Magdas Namen leise rufend, zum Podium, sie wandte sich zu mir und sagte, wie sie im Traum gesagt hatte: »Siehst du wohl, daß ich doch fliegen kann?« »Ich muß es glauben«, antwortete ich leise und schauderte.

am 27. nachts

Bei Bogner traf ich Ulrika heut nicht mehr an und statt dessen Jason. In der Volksküche hatte es eine böse Geschichte gegeben mit zwei ineinander verhakten Aufsichtsdamen, die auf keine Weise auseinander zu bringen waren. Um so stiller war Bogner. Es geht immer auf und ab mit ihm. Immer wieder kommt Eiter und mit ihm Fieber. So abgemagert er ist, war er doch ein schwerer Mann; er hat sich ganz wundgelegen, die Füße sind geschwollen und sollen ganz violett aussehn. Er fieberte, lag unruhig da und sprach kaum.

So verließ ich ihn in recht gedrückter Stimmung. Auf der Heimfahrt erzählte mir Jason, den ich mit zu Magda nahm, daß er vor ein paar Tagen bei Georg gewesen ist; daß er nun anfängt zu gesunden. Er liegt in dem kleinen Schloß, in dessen Nähe er auch gefunden wurde. Was mit ihm vorgegangen ist, weiß niemand, und vielleicht wäre er gar nicht entdeckt worden, wenn nicht sein Reitpferd sich beim Hause gezeigt hätte. Auch das ist nicht zu verstehn, denn der Park ist klein und von einer Mauer abgeschlossen; wie konnte er da reiten wollen?

Dies hörte Jason von Doktor Birnbaum. Als dieser dann von seiner Bekümmertheit sprach, daß er sich nicht getraue, Georg den Tod seines Vaters mitzuteilen, so hat Jason sich angeboten.

»Aber da«, sagte Jason, »hatte ich einen Versager. Vielleicht hätte ich es doch lieber mit Einschläfern versuchen sollen. Er schien ruhig zuzuhören, aber als ich besser hinsah, war er einfach ohnmächtig geworden.«

Als wir nun schwiegen, erschreckte mich das Geräusch des Fahrens, überlaut in meinem Gehör, und da merkte ich, wie alles wieder bröcklig in mir wurde. Da erschien der Festzug, ich saß auf der Höhe des Wagens, die Elefanten schritten dort, ich sah das bunte Getümmel unten und oben, und jetzt, wie es erlosch, jetzt erst sah ich alles, was geschehen war an diesem Tage, der so triumphierend begann. Alles zählte ich da Jason auf: Erasmus' Tat, und Josefs Tod, den Jammer seines Vaters und meinen eignen, den Tod des Herzogs, und Sigurd, Georgs Erkrankung, Magda, und weiter noch Bogner und Ulrika und gar Irene. »Jason!« mußte ich endlich entsetzt fragen, »wie war es nur möglich! all dies an einem Tag!«

Jason sagte: »Du lieber Egoismus! Warum lässest du alles Übrige fort? An jenem heißen Sommertag haben achtzehn Menschen einen Hitzschlag erlitten, woran sieben starben; drei stürzten mit einem zusammenbrechenden Balkon beinah hinter dir in den Festzug; zwei fielen vom Dach, zwei von der Straßenbahn, sechs wurden überfahren, einer brach den Arm im Gedränge, und übrigens müssen der Wohnungen, die von ihren Besitzern verlassen waren und in die eingebrochen wurde, mindestens zwanzig gewesen sein.« Er hätte nicht gezählt, schloß er, aber was mir einfiele, alldas nicht zu rechnen?

»Nein, Jason,« konnte ich trotz der erschreckenden Aufrechnung entgegnen, »du wirst mich wohl recht verstehn: die ich aufgezählt habe, gehörten doch Alle zusammen. Wir waren doch Alle verwandt miteinander!«

»Freilich,« erwiderte er, »kommt ein Sturm, stürzt das Dach ein, so trifft es Alle, die darunter versammelt sind. Oh gewiß, ich erinnere mich wohl: die Friedliebende Gesellschaft hieß es, und damals fing alles an. Denn«, endigte er liebenswürdig, »ich gebe dir gern zu, daß du die Dinge so ansehn mußt, wie sie sich um dich ordneten.«

»Ordnung, Jason!« rief ich empört.

»Ja, wer kennt denn all die Gesetze? Hat der Mensch einen Gott, muß er auch Dämonen haben.«

Mir graute es vor Jason in diesem Augenblick, und es dauerte eine Weile, bis ich fragen konnte, wie er es mache, stets gelassen zu bleiben, denn ich wisse ja, er meine es gut mit uns Allen.

»Ein bißchen schwarze Kunst vielleicht?« riet er.

»Ach freilich, die Schwärze sieht man an den Augen! Aber worin besteht sie?«

Das sei schwierig, meinte er, jeder Zauber sei nur in einer Hand wirksam; worauf er mir ernsthaft riet, wenn ein Leid an mir zerrte, nur die Augen kräftig zuzumachen und zu denken, daß es mich gar nichts anginge.

»Du hast uns so oft wohlgetan, Jason,« sagte ich leise, »wie willst du das denn gemacht haben, wenn wir dich nichts angingen?«

Das, sagte er, sei eine Verwechselung der Ausdrücke. »Ihr Alle geht mich viel an und auch euer Leid. Wenn aber eines davon an mir zerren wollte, an mir, nämlich an jemand, den es in Wahrheit nicht betrifft, und ich lasse das zu, und es wird nun meine Sache, was geschieht? Dann werde ich verwirrt und unnütz, und das Leid ist weiter nichts als größer geworden. Muß man ihm nicht Grenzen setzen? Kommt die Springflut über den Deich, so zieht man einen neuen. Wie soll man denn ein Leiden verringern, als indem man ihm Einhalt gebietet und versucht, es in ein ordentliches Bett zu leiten? Oh, man muß es gut schieben und zwängen, bis es an Ort und Stelle und eingepaßt ist. Dazu ist aber doch Besinnung nötig. Nun, und wenn schon der sie verliert, der darin steckt, soll ich sie auch noch verlieren?«

Ich konnte nur den Kopf schütteln und sagen: ich verstehe es nicht.

»Es läßt sich ja nicht verstehn,« erwiderte er freundlich, »ich sagte es schon. Oder kann dirs klar werden, wenn ich sage: Man muß mit fühlen, aber nicht mit leiden?«

»Ja, wie denn nur, Jason, wie denn?«

»Nehmen wir«, erklärte er nun, »einen eisernen Topf. Der ist voll Wasser, steht am Feuer, das Wasser fängt an zu kochen. Das Feuer glüht, der Eisentopf glüht, aber die leiden nicht. Das Wasser leidet, und die Luft im Wasser, die vor Angst, hinauszukommen, alles über den Rand wirft. Sie leidet die Glut, aber der Topf? Er fühlt sie. Fühlt sie ganz ruhig so lange, bis die Luft in der Freiheit der Lüfte ist, alle schädlichen Keime tot sind, und das Wasser gekocht. Das Feuer geht aus, der Topf wird kalt, alles hat seine Richtigkeit. Du aber, sage mir, mein Kind: war ein Gott im Feuer oder ein Dämon?«

»Beide, Jason, doch beide!« rief ich ganz aufgelöst, »aber warum, und wie macht es denn dein Topf, dein –«

Ich glaube aber, ich habe das gar nicht gesagt oder jedenfalls nicht weitergesprochen. Mir fiel nämlich etwas ein, das mit Jason zusammenhing, doch konnte ich es nicht finden; dann hielt auch der Wagen, und jetzt erst in der Nacht, wo ich mein Buch hervorholte, um zu schreiben, wußte ich, daß es darin stand, was ich gesucht hatte, und ich brauchte nicht lange, um diese Zeilen zu finden, Jasons Worte, geschrieben am 5. November im vorigen Jahr:

»Gewiß erinnerst du dich der Geschichte von den drei Männern im Feuerofen, die sangen. Ganz kühl standen sie in aller Glut und sangen schöne Lobgesänge. Das sollten eigentlich wir Alle können, ja, das ists, was wir lernen sollten. Die Glut verschonte sie ja nicht, jene Drei, was wäre das weiter gewesen? Ist Gott ein Taschenspieler, der Kunststücke macht mit seinen Heiligen? Nein, er ließ sie ganz und gar verzehrt werden von der Feuersglut, bis sie zu Asche gebrannt waren, aber siehst du, Kind,« sagte er zu mir, »in ihnen war Gott, mit seiner himmlischen Essenz waren ihre Leiber durchtränkt, so daß ihre Asche fest wurde, fest wie gebrannter Ton, und da empfanden ihre Seelen erst, wie kühl und wie angenehm gekleidet sie mitten in den Flammen standen, und nun begannen sie unverbrennlich den Lobgesang.«

Unverbrennlich, das war das Wort. Das sollten eigentlich wir Alle können, – o Gott!

Jason, ja, und die Andern! Magda ist es geworden, Bogner wird es vielleicht, aber ich, wie weit bin ich davon! In Flammen stand ich lichterloh, aber alles, was ich davontrug, sind Wunden. Und war es nicht so, wie Jason erklärte? Was gingen jene Flammen mich an, mich, die sie nicht betrafen? Erasmus, den trafen sie und gingen sie an, und seinen Vater, Sigurd und den Herzog, aber doch nicht mich! Sie konnten brennen und verbrannt werden, ich aber lief nur zum Feuer hin und versengte mir die Hände. Nein, mein Gott, oh nein, was konnt ich denn tun? Erasmus, was konnte ich tun? Ich legte die Hände auf seinen Kopf, oh Heiland, wie das Feuer drin raste! Ich habe Woldemar einen Verband gemacht, so gut ich konnte, und ich habe Sigurds Stirn angefaßt und gefühlt, wie sie glühte, und da war meine Hand noch kühl. Ach, sie ist doch verbrannt, denn was half ich?

Was ist denn nur mit mir, was ist denn nur? Diese Schwäche, diese innere Lähme schon durch die Wochen. Es ist, als hätte ich Angst, dies könnte noch nicht alles sein, wenn aber das Letzte kommt, das Wirkliche, werde ich schwach sein und nur brennen und nicht überstehn. Sollte das möglich sein? Ein schlimmeres Unheil und eins, das nur nach mir zielt, nach mir? Ach, und die Jahre all, wie hungerte michs nach dem Glück!

Ruhig war ich früher immerhin und sagte: ich warte! Da aber, in jener Nacht, am Wehr erst, dann im Zimmer, auf der Fahrt, in der Universität, im Schloß dann, die lange Ewigkeit bis zum Schlaf bei Saint-Georges, da war ich – besinnungslos, war ich leer, von mir selber verlassen und betäubt, und da hat mich einer, der mich schon lange belauerte, der hat mich da überfallen, der schlüpfte in mich hinein und hockt nun in mir, zusammengekrümmt, und wartet, und dies alles bisher waren nur erst die großen Verneigungen.

Bist du ein Gott, du fürchterlicher in mir, sage, bist du Gott oder der Teufel? Du hast mich öfters auch trunken gemacht in diesen Wochen, hingegeben der Ferne, einem himmlisch Kommenden zugeschmolzen, und dann dachte ich gewiß: Ein Gott muß es sein! Aber ich weiß es nicht, ich weiß es ja nicht! Angst ist immer Angst, ob sie nun süß ist oder bitter, wie soll ich da erkennen?

War ein Gott im Feuer oder ein Dämon? fragte Jason, und ich schrie: Beides!

Cornelia Ring an Renate

Altenrepen, am 29. August

Liebes Fräulein von Montfort, wie sehr danke ich Ihnen für Ihre lieben Zeilen, und denken Sie bitte nicht schlecht von mir, daß ich Sie bis heut ohne Antwort ließ! Ich, wissen Sie, habe gar keine Widerstandskraft, und wenn mich etwas trifft, so kann ich nur stillhalten und mich zerreißen lassen. Es ist nun so weit vorüber, daß ich wenigstens der Außenwelt Fassung zeigen kann, aber sehen lassen kann ich mich noch nicht, ich bin am ganzen Körper geschwollen. Wenn Sie es denn erlauben, komme ich in der nächsten Woche zu Ihnen. Heute will ich Ihnen nur schreiben, weil Sie nach Li fragen. Er hat mir erst einen guten Schrecken eingejagt, denn nachdem er Ihren Auftrag an mich ausgerichtet hatte, ging er hin und wollte sich umbringen. Ja, Sie haben sein ›Was soll nun aus mir werden!‹ wohl nicht ganz recht verstanden, denn das hieß nicht, daß er nun keinen Herrn mehr hätte, sondern daß mit seinem Herrn auch sein Leben zerrissen war; es bestand nur in ihm. Ach Gott, es war wohl sehr komisch! Er war hinaus, ich glaubte, ohnmächtig zu werden, mein Herz ist nicht gut, ich schrie nach ihm, da kommt er wieder hereingelaufen ohne Jacke, um den Hals einen Strick, an dem er zerrt, und der nicht los will. Ich habe nun gesucht, ob sich in Josefs Papieren irgendwelche Bestimmungen für Li fänden, fand aber nichts. Li selber hat sich nun eines Auftrages seines Herrn entsonnen und behauptet, seine – Josefs – Erinnerungen aufschreiben, das heißt aus seinen Tagebüchern wiederherstellen zu müssen und herausgeben. Er, Josef, erlebte ja viele und unglaubliche Dinge, es giebt mehrere Tagebücher, die meistens von Li geschrieben wurden nach seinem Diktat, oder auch ganz selbständig. Schon hieraus können Sie sehn, wie sehr der Kleine sein Vertrauen hatte. Wenn er lebte, würde er Ihnen Li aufs höchste rühmen. Er spricht, glaube ich, alle lebenden Sprachen und besitzt tausend Fertigkeiten. Er hat ihn, Josef, auf allen Reisen begleitet, und seit ich Josef kenne, war er, Li, immer bei mir, wenn er, Josef, in Ihrem Haus wohnte. Er hielt es irgendwie (ich glaube fast, seinem Bruder gegenüber) für unpassend, einen Diener für sich allein zu haben. Ich habe ihm nun Ihren Wunsch mitgeteilt und auch, daß er bei mir nicht bleiben könne. Er hat sich Bedenkzeit erbeten, obgleich es ihm gewiß lieb sein wird, in Josefs Haus zu kommen. Bitte, wenn Sie oder vielleicht Herr Montfort etwas aus Josefs Leben wissen möchten: Li weiß alles, und es sind ja auch die Tagebücher da. Heute erklärte er mir, wenn er schon bei mir nicht bleiben könnte, so gefalle es ihm, daß seine neue Herrin nicht sehen könne, denn da es die alten Augen seines wahren Herrn nicht sein könnten, wären gar keine schon das beste. Das klingt ein wenig lieblos, aber Sie sehen, wie er es meint, und das ist auch ganz so, wie ich Josef einmal sagen hörte: Wenn ein Mensch ein Unglück hat und gar nicht weiß, wie er damit fertig werden kann, so macht er einen Haken und hängts am Unglück von einem Andern auf. Und ein andermal sagte er: Unglück kommt selten allein; das ist wahr, denn immer hat es irgendein Glück zur Folge für jemand anders, und aus der Birne, die ich für faul halte, klaubt mein Bruder die Kerne und pflanzt sich eine Allee.

Ich schicke Ihnen also Li mit diesem Brief. Entschuldigen Sie bitte meinen Freimut, aber wenn er nicht ginge, so würde ich mich am liebsten selbst anbieten. Einem Blinden zum Führer dient wohl der am besten, der selber kaum noch aus den Augen sieht, und mir fällt wieder ein Wort Josefs ein: Schlage mich auf den Leib, so trägt er ein blaues Auge davon; wo es aber die Seele traf, was für ein Auge wird sie da aufschlagen? – Herr Bogner wird mich ja kaum mehr brauchen; da Frau Tregiornis Mann tot ist, nehme ich jedenfalls an, daß sie zusammen bleiben.

Und nun gottbefohlen! Herzlich grüßend Ihre

Cornelia Ring


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