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Neuntes Kapitel: April

Aus den Papieren Georgs

am 1. April

Sein Antlitz, das wie eine Blume war,
Enthauchte aus den Augen Duft! Ich schwelgte
In diesem Glanz, der nicht wie andre welkte,
Ich schmolz wie Wolke auf und wurde klar.

So ganz verleiblicht ward die Gottheit hier,
So ward noch nie der Sonne Bild zur Blume!
O daß ich Land sei, Ackers ärmste Krume,
Und diese reine Seele blüht' in mir!

Jedoch ich bin soviel nur wie der Wind,
Der streifend nur den Duft vermag zu fangen,
Und trägt ihn fort auf Stirn und Mund und Wangen,
Vor Schmerz vergehend, und vor Wonne blind.

am 2. April

Telemach, o Telemach, da hast du es wieder! Eine trübe Erkenntnis und obendrein in Versen! Die alte Empfindsamkeit und der alte Betrug! Weil die Erkenntnis reizlos ist, so werden reizvolle Bilder erfunden; weil sie bedrückend ist, so wird sie in leichte Gegenstände aufgelöst; weil sie trübe ist, so wird sie wenigstens mit einem schwermütigen Lächeln beflügelt, und weil sie wärmelos und nüchtern ist und wahr, so wird sie in schöne, warme Scheinkleider eingemummt. Lyrische Erschütterungen, lyrisches Dasein – wenn anders lyrisch heißt: einsame Hingabe an gegenwärtige Gluten –, lyrische Schwermut, – und sowas will – Monarch sein. Wie ich sie nun hasse, diese dastehenden Verse, diese sprachlosen Gemächte, die ein Unsagbares tönend machen sollten und es nur bereden. Das alte Lied, das alte Leid: Unruh, Ungenügsamkeit, Überdruß und Verdrießlichkeit, alles, was peinigt und reizt, kommt aus dem Ungelösten in uns, das zur Klarheit will. Was ist Sehnsucht? In dem hundert- und tausendfachen Hingerissensein und Zerstreutsein, alltäglich, allstündlich an die Dinge der Erde, ist sie Verlangen nach dem Einen, das not ist. Aus den tausend Möglichkeiten ist sie das Streben nach dem Einen, das notwendig sei; aus den tausend Empfindsamkeiten nach der einen Liebe. Aus der tausendfachen Verschwendung nach – nach? –

Dem Opfer.

Hoffnungslos. Wozu dies dem Telemach? Was er tun kann, ist seine Schuldigkeit, ist das Weitergehn auf dem Wege, auf den uns die Toten verhalfen. Ich kann in die Sonne starren, bis ich blind werde, und das dürfte der ganze Erfolg sein. Näher, o Sonne, zu dir! Hoffnungslos, ich habe meine Liebe in einer Insel eingesargt, als sie totgeboren hatte, das ists.

Erkenntnisse, Erkenntnisse! feil wie Brombeeren. Steine im Strom, über die sich von Ufer zu Ufer springen läßt, ein Haus baut sich nicht daraus. O weh mir, daß ich meinen Tod verschlief!

am 6. April

Erloschen.

So mußte es freilich kommen; unabänderlich; genau so.

Ich erhaschte eine freie Minute und fuhr zu Anna. Warum fuhr ich? Weil seit dem Zusammensein mit ihr auf Hallig Hooge ein Duft von ihr in mir verblieben war, beunruhigend, der immer drängte, mit ihr zu reden, ihr zu schreiben, ihr – kurz, ihr nahe zu sein. Kann, dacht ich, wiederkommen, was lange verging? Immer sah ich auch ihr Gesicht in dieser sonderlichen Verändrung, die ich seinerzeit erst nicht zu deuten wußte, bis ich entdeckte, daß ihr Augenbrauen wuchsen, noch dünn, schwarze, nicht blonde Brauen – als sollten sie ein Ersatz sein für das, was den Augen genommen war. Fast farbig wurde von ihnen das sonst farblose Gesicht, sie gaben ihm Gestalt, Zeichnung, trennten die überstarke Stirn von dem Untergesicht und ersetzten wirklich etwas von dem fehlenden Blick der sonst klaren Augen. Und ich deutete daran herum, schon tauchten zärtliche Schatten auf, ich empfand Sehnsucht.

So fuhr ich zu ihr, und sie war nicht da. Ich wollt es kaum glauben. Bekanntlich ist so der Mensch: kommt, fragt – was, sagt er, ich komme, und sie ist nicht da? (Später hörte ich dann: sie wollte verreisen und war noch einmal zu ihrem Lehrer.) Nun mußte ich mich bei Renate melden lassen – ah, Telemach, schlug dir das Herz?

Der Tag war von besondrer Wärme, so fand ich sie halb im Freien, in der Veranda, sie schien unverändert. Und was mich betrifft, so konnte ich sie ruhig betrachten – nämlich zu Anfang.

Unverändert schien sie, von Zügen, obgleich von solch einer – wie nenn ichs nur? – aber es giebt kein Wort für diesen Bund von Lieblichkeit und von Majestät, der ihr immer eigentümlich war. Sie saß in einem Korbsessel, im dünnen Sonnenlicht, weißgekleidet, die Arme bis zum Ellenbogen unter einer Decke von weißem Plüsch. Weiß wie alldies war auch ihr Gesicht, darin die Augen von so hellem Blau wie das der Hyazinthe. Langsam dann, immer merklicher, wie ich vor ihr saß, begann sie sich zu verwandeln. Ich glaube, mit ihrer Hand fing es an, ihrem Arm, der nun auf der Decke lag, und diese Hand, die nur ein Gebilde schien aus Schnee und Schmerz, war gleichwohl von einer herzdurchschaudernden Menschlichkeit; eine Menschenhand, eine weibliche Hand, und Daumen und Zeigefinger sahen aus, als hätten sie erlebt, wie sie gemacht wurden aus lebendigem Fleisch, Schmerz, den sie nie vergessen würden. Das, womit ihre Finger spielten, war erstaunlicherweise das Ende von einer ihrer beiden hellbraunen Flechten, – das hatte ich auch freilich noch nie gesehn. Und jetzt der Mund, ach der Mund! Als ob sie sich ins eigene Herz gebissen hätte mit ihm, – so zuckte es unmerklich an seinen Winkeln, die tief in das weiße Fleisch hinabgezogen und eingebettet waren. Und jede Linie ihrer Züge war mit einer geheimnisvollen andern nachgezogen, wovon sie aber nicht scharf geworden waren, sondern ganz weich. Der ganze Mensch war nichts als blühendes Schicksal.

Nun erscheint sie mir wieder im Raum, und was ich nun um sie atmen fühle, ist Verlassenheit, Hülflosigkeit, Unwissen. Wohin jener Zauber von damals, jener Gürtel von Unnahbarkeit? Die Unnahbarkeit war geblieben, aber sie war nicht mehr Wille und Stolz und Bewußtheit. Ganz magisch war sie geworden, und in ihr rieselte ein Brennen, ein Aufgelöstes, ein Schmelz – furchtbarer Nachglanz einer unendlichen Umarmung, aus der sie gerissen wurde, und ich – ja, ich fürchtete sie mehr, als daß ich hätte begehren können.

Von dem, was wir gesprochen haben mögen, ist nur das Letzte wichtig. Da ich vom Amenophis begann, so hörte sie mir eine Weile zu, lächelte langsam und meinte, es sei schön, daß ich ihn auch kennen und so sehr lieben gelernt hätte; ihr sei er Freund seit Jahren, nur unter seinem ägyptischen Namen Ech-en-Aton; sie habe einen Abguß in ihrem Zimmer stehn, ob ich ihn sehn wolle – ja, Weihnachten sei es drei Jahre her gewesen, daß sie ihn bekam, von Josef, und ob ich nicht auch fände, daß er Saint-Georges ähnlich sehe.

Nun, mein Telemach, was hilft es jetzt, zu sagen: Und wenn wir ihn damals gesehn hätten, ja, wenn es möglich gewesen wäre, ihn zu sehn, was aber nicht möglich war, da ihr Zimmer damals unbetretbar war für unsersgleichen: so würden wir ihn doch nicht erkannt haben, weil uns die Augen abgingen. Dies aber hilft uns nichts, sondern dies bleibt: das Geheimnis. Daß er drei Jahre in unsrer Nähe stand, erreichbar und nie zu erreichen, in diesem, in ihrem, in Renates Haus, Renates Eigentum, Renates Freund – darin verhüllt sich das Geheimnis unsres Lebens. Und der Schluß wird uns überdauern: wir blieben blind für die Wahrheit Renates, weil er uns verborgen blieb; oder Renates Wahrheit blieb uns verborgen, weil wir blind für ihn waren. Das geht so herum oder so herum wie die Daumen – der Schluß bleibt derselbe.

Wir aber wollen es aufgeben, dasitzend nachzusinnen wie der nachdenkliche Medici: wie alles so gekommen ist. Kopf hoch und geradeaus in das Hoffnungslose. Renate nämlich – ist zu vergessen. Denn Sehnsucht, sang Chastelard, Sehnsucht ist Qual. Sehnsucht dieser Art verbittert, Sehnsucht trübt, Sehnsucht macht schwindlig, macht unfroh und kränklich und feige. Schließlich: ich bin mir zu edel für Sehnsucht.

Und mein Leben – wie ein schwarz verkohltes Stück Papier so zerflattert mirs unter den Händen.

Magda an Georg

7. April

Mein Lieber,

gestern abend und heute den ganzen Tag versuchte ich vergebens, Dich am Telephon zu erreichen, Du warst immer wo anders, um Dir Lebewohl zu sagen und vor allem, mich nach Onkel Birnbaum zu erkundigen. In der gestrigen Abendzeitung stand »ein leichter Schlaganfall«, ich fuhr gleich hinaus, konnte aber nur das Mädchen sprechen, seine Frau hatte sich schon hingelegt – und die Morgenzeitung heute weiß auch nur von »bestem Befinden« und »keinen Besorgnissen« zu fabeln, aber die Zeitungen beschönigen immer alles, und ich hätte so gerne von Dir Gewisses erfahren. Nun muß ich ohne das reisen. Auch ohne einen Händedruck von Dir, – aber es werden ja nur wenige Wochen sein. Außerdem hoffe ich, Dich gleich nach unsrer Rückkehr ein paar Tage in Helenenruh ganz für mich zu haben, was Du mir nicht abschlagen darfst. Du weißt ja, daß der Geburtstag Deiner Mutter diesmal auf Charfreitag fällt, und hast vielleicht nicht vergessen, was ich Dir erzählte: daß der Gesangverein in Böhne beschlossen hat, den Tag durch eine Aufführung des Deutschen Requiems zu feiern, daß ich aufgefordert bin, zu singen, und daß Benno das Orchester des Stadttheaters in Altenrepen dirigieren wird. Damals versprachst Du mir – etwas zu leichthin – zu kommen; vielleicht findest Du Dich eher bewogen, wenn ich Dir verrate, daß Renate bereit ist, wenn ihre Gesundheit es erlaubt, den Orgelpart zu übernehmen. Da hättest Du denn alles zusammen, was Du liebst. Nun bitte, lieber Freund, schenk mir die Charwoche! Eine Erholung wird Dir sicher gut tun, ich weiß ja, was die Krankheit Birnbaums für Dich bedeutet, also versprich mir, Georg! die Charwoche! Danach gehn wir für längere Zeit auseinander, ich auf meine erste kleine Konzertreise, Benno nach Aachen, wie Du wissen wirst, und wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.

Schreibe mir nach Torbole am Gardasee postlagernd. Alles Gute, Georg, und tausend liebevolle Gedanken Deiner alten

Anna

Aus Renates Buch

am 9. April

In der Nacht träumte mir, daß ich in mein Zimmer kam, das schon voll von Koffern und Taschen war, und ein Mensch, den ich dann als Josef erkannte, war dabei, einen großen Koffer zu schließen. Auf meine Frage, ob alles fertig sei, richtete er sich auf und sagte: Ja, soll dein Onkel denn hierbleiben? Was ich geantwortet habe, ist mir entfallen, aber da er hinausging, muß ich angenommen haben, daß er Onkel holen wollte, und ich wartete, aber er kam nicht wieder. Endlich wurde mir ängstlich zu Sinne, ich ging hinaus, da war draußen alles finster, ich tastete mich an der Wand hin, furchtsam, ich könnte die Treppe verfehlen und abstürzen. Da kam aus einer Türe Erasmus mit einem Licht und sagte, indem er mich geheimnisvoll ansah: Einer von uns muß hierbleiben …

Davon erwachte ich mit einem Schrecken, machte gleich Licht, die Uhr stand auf ein Viertel nach vier. Plötzlich wußte ich, daß ich nach Onkel zu sehn hatte; ich glaube wohl, daß ich schon alles wußte, und als ich in seinem Zimmer war und Licht machte, lag er in dem Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen wird.

Sanft war es gekommen, das Ende. Kein Ende, nein, nur ein schmerzloser Übergang von Schlaf zu Schlaf. Auf seinem Gesicht, so rein, daß ich nicht weinen konnte, stand zu lesen, daß es nichts als eine wunderbare Vertauschung gewesen ist.

Georg an Magda

am 11. April

Meine liebe Anna!

Dank für Deine Zeilen! Um Birnbaum sei unbesorgt! Ich sage die Wahrheit, indem ich die Aussage des Arztes an Dich weitergebe, daß es »einer der leichtesten Schlaganfälle ist, die ihm je vorkamen«, und daß er voraussichtlich nahezu spurlos bleiben wird. Übrigens fand ich ihn in der letzten Zeit so innerlich freudlos geworden, daß es ihm kaum leid tun würde, diese Welt zu verlassen, die ihm seit Papas Tode nur ein zerbrochenes Ding ist, an dem er müde herumflickt. Wie ich den Ausfall seiner Arbeitskraft ertragen sollte, ist mir unbekannt, aber wenn es erst so weit ist, wird sich, wie alles andre, auch das tragen lassen.

Verzeih die allzu geschwind hingewischten Zeilen! Ich glaubte schon, Dir auf dem Klosett schreiben zu müssen, weil ich nicht wußte, woher die Zeit nehmen. Nichts für ungut, Anna, und ich komme nach Helenenruh, um das alte Trio zu hören, ›nicht die ganze, doch die halbe‹ Charwoche, mehr wird nicht möglich sein, sagen wir Mittwoch, vielleicht erst Donnerstag, vielleicht würg ich den Dienstag heraus, aber versprechen kann ich nichts. Sei versichert, daß ich überaus gern komme, Deinetwegen und natürlich auch meiner selbst wegen. Der verruchte Zustand, in dem ich herumschnaube, muß ein Ende nehmen, ich will mich noch einmal vor den Göttern von Helenenruh niederwerfen und – aber wozu, wozu das? Lebe wohl! Hab gute Tage am blauen See, grüße Renate, auf Wiedersehn, lebe wohl!

Georg

Aus Renates Buch

Torbole, am 12. April

Es ist alles geblieben, wie es war: meine beiden Zimmer von damals, die strahlenden Morgende, Papas Olivengarten, die uralte Straße nach Nago zwischen vergessenen Gärten, in denen jahrhundertealte Ölbäume wachsen, – alles geblieben, nur daß ich jetzt die Augen schließen muß, um einen geliebten Schatten durch meine Landschaft gehen zu sehn, und daß ich ganz eine Andre bin. Etwas wohler ist mir doch! In der vollen Sonne zu liegen, vor halbgeschlossenen Lidern die gläsern blauen Gluten des Sees, grünes, raschelndes Feuer aus Wipfeln in Lüften – da läßt es sich nicht widerstehn, und solange der Tag währt, ist es ganz gut. Nur an die Nächte darf ich nicht denken.

Irene fand ich schon vor. Oh wie mich schauderte bei ihrem Anblick! Im Ölbaumgarten saß sie halb ausgestreckt in einem Liegestuhl und bewegte kaum den Kopf nach mir, kaum das weiße Gesicht in dem grünen Schatten mit den, wie Jason schrieb, bronzenen Augen. Ihr Lächeln war herzzerreißend. Ich konnte lange nicht sprechen und war froh, daß Magda nichts sah und zu plaudern begann. Wie ich sie so daliegen sah in ihrem leichten goldenen Haar, allzudünn in einer an Leib und Armen eng anliegenden grünen Tunika, an deren Ärmelenden sie beständig und rastlos zupfte, und schwarzem Seidenrock mit rostigen Falten, wußte ich lange nicht, an was sie mich erinnerte; aber dann fiel mir ein, daß ihr Körper wie der weiche und haltlose Stengel der Wasserrose war, der das weiße Haupt nicht hält, sondern es ruht auf dem Wasser; und so schien auch ihr kleiner Kopf nicht mehr vom Leibe getragen, sondern von einem dunklen, geheimnisvollen Element, in dem sie schwebte. Noch immer, sagt Jason, badet sie in der Morgenfrühe im See, woher sie die Kraft dazu nimmt, begreift keiner von uns. Übrigens ist sie das Gegenteil von mir, sie glüht am ganzen Leib, ihre Hände sind wie Flammen, aber sie kann mich nicht wärmen, und ich ihr nicht kühlmachen, und es muß alles Elend bleiben, was Elend ist.

Die Tage vergehen in Ruhe und Sonnenklarheit, das kleine Klavier ist gestern gebracht worden, Magda übt fleißig, ich begleite sie auch. Abends sitze ich in der Bucht am Sasso. Wie weit man nach Süden sieht, oh wie weit!

am 13.

Ich hatte heut ein schönes Gespräch mit Magda über Georg – das heißt, das Schöne war, was sie von ihm sagte. In der häßlichen Vergeßlichkeit, an der ich nun mitunter kranke, hatte ich an dem Tag, wo er bei mir gewesen war, vergessen, es ihr zu sagen, dann kam die Reise, heut erst fiel es mir wieder ein. Sehr lange saß ich dann noch in Gedanken, als sie gegangen war.

Ach, was ist es nur mit uns Menschen? Schicksal, sagte Magda, was ist denn das? ein Wort, ein Begriff, eine Macht? Wir sind doch Menschen! Irene, Ulrika … Ach, Ulrika … ein einziges Mal, fällt mir ein, sprach sie von sich selber, wie Magda heut, es war an einem Weihnachten, oder Neujahr, aus irgendeinem Grund brach das Gespräch plötzlich ab, und Bruchstück blieb es, wie sie selber es mir immer war, bis ich ihr Totenantlitz sah von Bogners Hand, und nie werde ich dies verstehn: warum sie, das geistige Wesen, sie, die immer nur Geist zu sein schien, warum sie so leiblich zerrissen wurde und wie das nur möglich war! Muß man nicht denken, daß die Natur sich hat rächen wollen?

Ja, Bogner auch und Georg, Irene und Magda, und ich selber, was geht denn nur vor in uns Allen? Ist denn das, wohin wir geraten, wirklich das, was wir wollten? Zwang es uns? wer denn? Schicksal? Ja, es ist doch, als ob jeder für ein Gewisses bestimmt wäre, er kann jahrelang irregehn, kann dies und jenes tun, aber immer geht er den einen Weg, immer wirkt er am einen, seinem Schicksal, bis eines Tages das Gewisse fertig wurde, und nun sieht er ein. Sie glaubt ja, Magda glaubt ja an Georg, daß er seine Bestimmung erreichen wird, weil er sie in sich hat, rein gesondert von allem Irren …

Und das wäre Schicksal? Ach, wenn es sich wirklich nennen läßt, so kann es nichts andres als dies sein: daß wir so sind, wie wir sind, und daß uns Unheil daraus kommt, und daß wir selber es leiden müssen.

Oh nähme es endlich ein Ende!

am 18.

Warum sitze ich denn wach in der Nacht und will schreiben? Unten am Hafen stehen die dunklen Gestalten der Männer in Gruppen, sie sprechen aufgeregt, es wird geflucht, – nun, es sind Italiener, es ist ihre Art, ich freue mich, daß ich noch jedes Wort verstehe, das zu mir herauf kommt. Der Vater Alberti hat noch Licht im Zimmer, ich höre ihn gehn, er ordnet wohl etwas; als ich vorhin aus dem Fenster sah, konnte ich draußen im hellen Viereck, das aus seinem Fenster am Boden geworden war, hinter den Schatten der Gardinen den seinen sich bewegen sehn. Wie gut und wie sicher scheint dies kleine Leben! Es ist eine kühle, unruhige Nacht, der Wind kommt vom Norden und treibt die Wolken gegen Süden, weit draußen bei Limone blitzt der Scheinwerfer vom Zollschiff, der lange Lichtstreifen sucht Buchten und Berge ab, die kleinen, halbversteckten Schmugglerpfade oben bei Pregasina, wie immer, aber ich erschrak plötzlich, als der riesige Finger herum kam; ich bildete mir ein, nun würde er auf mich deuten, ich würde furchtbar deutlich dastehn in einer riesigen Helle, – Gott leuchtete nach mir aus und würde mich armselig finden.

am 23.

Wieder wie damals koche ich mit Barbara für uns Alle und drei kleine Fischerkinder das Mittagessen, und es macht mir Spaß, daß ichs noch kann. Könnte nicht Li so viel mehr! Wo in aller Welt hat er gelernt, eine Polenta zu machen, wie sie kein Italiener köstlicher machen kann? Jason hilft auch mit, steht in einer weißen Kochschürze und schuppt den Fisch, oder putzt Gemüse, denn Li, sagt er, ist nur für das Feine, ein so kunstreicher Koch! Jason, nun sehe ich ihn zum ersten Mal unter andern Menschen; sie sprechen von ihm wie von einem guten Geist, wüste Kerle kommen auf der Straße auf ihn zugerannt, um ihm die Hand zu schütteln und tausend Dinge zu erzählen mit zehntausend Gesten. Auch Magda lieben sie sehr und lehren die Kinder, zu ihr hingehn und nach ihrer Hand fassen; plötzlich hält sie dann so eine fettige, kleine Dreckpfote und strahlt mit ganzem Gesicht. Durch die Küchentür hörte ich Li zu Barbara sagen: Der Herr al Manach, wenn der über die Straße geht, das ist, wie wenn Bruder Franziskus kommt; mein gnädiges Fräulein, das ist die gute Madonna, aber das Fräulein Renate, das ist die Monstranz, da bekreuzigen sie sich und murmeln: il miracolo …

Sie bekreuzigen sich, und ich glaube fast, sie wissen, was sie tun.

Um ein Uhr essen wir Alle zusammen vor dem Haus unter der Olive, die drei Kinder sitzen furchtbar gewaschen mit ihren Schüsselchen im Gras, und ich teile Polenta aus, – oh die Tage, die Tage!

Unbeschreiblich die Klarheit! Ich gehe ganz früh allein durch die Straßen, an den Hafen, kein Mensch ist zu sehn, es duftet nach Oleander, der Morgen entfaltet sich wie eine Blüte, ich friere leise und nicht einmal unangenehm. Ein paar alte Männer hantieren auf dem Kai, ein Segler fährt aus, lautlos gleitend in den flammenden Azur, es ist alles wie verzaubert. Und die Abende! Der Mond kommt spät und leuchtend, silberne Streifen glänzen im ruhigen Wasser, ich sitze auf einem der Liegestühle auf der einsamen Bootsbrücke, keiner von uns spricht ein Wort, dann tastet eine Hand nach der meinen, Magdas klare Stimme fragt durch das Schweigen: Schwester? – Ich kann nicht sprechen.

am 24.

So ist denn Irene am Ziel. War es eine Ahnung, die mich am frühen Morgen in den Garten führte? Da lag sie auf dem Rasen im beweglichen Schatten der Blätter, in sich gebogen, ganz schlaff, aber wie ich sie aufrichten will, bewegt sie sich schon, ist ganz wach, todmatt, aber ihr Gesicht ist in Glückseligkeit wie gebadet. Erst sagte sie nur, als sie mich erkannte: Ach! – Nach einer langen Weile dann: Nun kann er kommen. –

Sie war wieder in den See hinausgeschwommen, und beim Zurückschwimmen verließ sie die Kraft. Sie fühlte sich zum Stein werden, der sich selber hinab zog, alles ward blau um sie her, und in diesem Augenblick, sagte sie, sah ich unter mir in der Tiefe den Tod stehen wie einen ungeheuren Geist in weißen Falten, und er stieß mit einer gläsernen Lanze gegen mein Herz. – Dann sei in einem einzigen Feuerstrahl ihr ganzes Wesen aufgeflammt und erloschen. Als sie erwachte, habe sie auf dem Strand gelegen. –

Sie ging bis zur Grenze. Was verschlägt es, ob sie sich nun verwandelt glaubt und der Vergangenheit zurückgegeben? Sie vollbrachte das Mögliche, sie stieß bis zur Grenze vor, – und das, sagt Jason, ist der einzig bekannte Weg, zu unsrer Mitte zu gelangen. – So ist sie am Ziel.

Obgleich sie noch so schwach ist wie ein Blatt, will sie gleich fort, und mich drängt es mit ihr. Mir ist seltsam. Als ob alles umher sich verwandelte und abfiele. Herr, mein Gott, was soll denn noch geschehen mit mir? Auf einmal zieht es mich nach Hause, nach dem Hause, wo ich Heimat bekam. Heut nacht kam mein Vater, sah mich traurig an und sagte eine Menge Dinge, von denen ich nicht ein Wort verstehen konnte, ich war verzweifelt und rief mehrmals: Ich verstehe dich ja nicht! – Da nickte er schmerzlich, sank langsam in sich zusammen und glich nun ganz seinem Bruder; plötzlich dachte ich: Er stirbt ja! und erwachte voll Grauen.

am 26., München

Am Abend vor unsrer Abreise saß ich mit Irene, Magda und Jason noch zusammen, und auf einmal war mirs, als sähe ich alles zum letzten Mal, ja, so eigen, als wäre es das Letzte, was ich zu sehen bekäme. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sein würde, ich dachte gepeinigt nur immer ganz sinnlos: Morgen ist das alles ganz anders! Oder: Morgen ist alldas nicht mehr! Ich glaube fast, so muß ein Verurteilter empfinden am Abend vor seiner Hinrichtung. Ich sah auch alles so übergenau: den schönen Raum mit alten Möbeln, das kleine Harmonium, die Skizzen im Rahmen von Vaters Hand – jeden Tag wollte ich sie fortnehmen, nun ließ ich sie doch hängen –, die liebe Ecke mit dem Spiegel, vorne den Erker, das runde Fenster und dahinter, dicht am See, meinen Garten, meine Olive. Später stand ich noch lange im Dunkel vor der Haustür zum Garten, erkannte den winzigen Lattenzaun im Finstern und die alte Steinpforte zum Traubengarten. Herrlich war es immer damals, unter diesen hochgezogenen Lauben zu gehn; dunkle, volle Trauben streiften mir das Haar in den letzten Jahren, dieselben, nach denen ich die Hände vergeblich reckte in den ersten, und es gab auch eine Wiese da mit zwei hohen Pappeln und einer Quelle zwischen Steinblöcken.

In meiner Stube sah alles traurig aus und als wäre ich schon fort. Die immer unstet und flüchtig aussehenden Koffer standen umher, das Glas mit den Blumen lag vom Wind umgeworfen, die Blumen waren welk.

Am Morgen war es wie Traum. Ich saß schon im Wagen, gleich ging es rechts die steile Straße hinauf zwischen Mauern und Oleanderbüschen, und wieder sprach es: Morgen ist dies alles nicht mehr … Mein Herz klopfte mit furchtbarer langsamer Gewalt, ich sah alles und nichts, plötzlich erschrak ich, zu bemerken, daß es noch dunkel war, mir schien wirklich, ich träumte, woher war es eine Mondnacht auf einmal? Wieder kam das Frieren. Da war die Kirche hoch über dem Dorf, von Zypressen umgeben, der kleine Friedhof, immer wieder Ölbäume und Feigen, deren Blätter so würzig duften bei Nacht. Alles schien mir ewig vertraut und bekannt, und alles, dacht ich, wird nie mehr sein. Vielleicht, fiel mir ein, bekomme ich ein neues Leben. Wir fuhren die lange Straße zum Fort hinauf, steil und steiler, und ich sah, mich zurückwendend, den See schon tief unter mir liegen, er leuchtete im Mondlicht, und fern im Himmel standen die wunderbar großen, fremden Sterne des Südens friedvoll über der schlafenden Landschaft. Die Pferde hörte ich leise schnauben, sie trabten langsam im weißen Sand der höher ansteigenden Straße, da war der starke Stall- und Ledergeruch auf einmal so beruhigend wirklich und alltäglich da, und minutenlang war es nur eine Fahrt, auf einer Landstraße, im bekannten Gelände, in Sicherheit. Beim Fort trat der Posten heran, las im Schein der Wagenlaterne den Passierschein des Kutschers, grüßte und trat in den Schatten zurück. Da dacht ich, nun müßte ich aus dem Wagen springen und zurücklaufen, alles noch einmal nah haben am Herzen, aber ich hing doch ganz still mit dem Blick an dem einzig geliebten Bild von See und Ferne im Rahmen des Torbogens, stehend im Wagen, und so entschwand es, – die Pferde zogen an, der Weg senkte sich, plötzlich fuhren wir durch Nago, und der See war verschwunden. Da, da! der kleine Weg, wie oft gegangen in der glücklichen Zeit, zur Ruine hinauf, man mußte über wilde Rosenhecken klettern, – oh mein Vater, mein Vater! Ich sah und ich sah, wie brannten mir die Augen, ich wußte brennend und wild, es würde mir etwas begegnen; die Landstraße, weithin sichtbar bergabwärts führend in vielen Windungen, leuchtete weiß im starken Licht. Wieder ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett, dunkle Häuser, ein einsamer Mann mit Stock und Felleisen kam uns entgegen, und mir raste das Herz, ich wagte nicht, nach seinem Gesicht zu sehn, ich dachte: Das ist er! das ist Vater! Nun steht er, nun spricht er dich an! Ich sah und ich sah. Loppio, die schöne Kirche mit den weißen Säulen, der kleine See dahinter lag tief im Bergschatten, es war so kühl! Nun lag ich erschöpft und überwach im Wagen, hellhörig für jedes kleinste Geräusch und im Fieber. Warum wollte es denn gar nicht Tag werden? Der Mond stand immer noch hoch am Himmel, ich konnte meine Uhr ablesen, ich vergaß die Zeit im Augenblick wieder. Jetzt öffnete sich das Tal, und mit einemmal blitzten Lichter auf, rote, grüne, von fern schrie ein gellender Pfiff in die Stille hinaus, da war auch schon die Eisenbahnbrücke von Mori, da waren Menschen, der Wagen hielt vor dem Bahnhof.

Ich aber schrie fast, bebend und schlotternd beim Aussteigen: Nach Haus! nach Haus!

Und was dort? – Und was dort?

Zu Haus

Ich lief, nein, ich flog meine Treppe hinauf, auf mein Zimmer zu. Nun mußte es ja kommen, nun mußte er da sein, der Brief, oh endlich der Brief, in dem alles stehen würde; daß es ein wahnsinniger Irrtum war, alles nicht wahr, ein grausiger Traum, und ich würde aufwachen, und auch meine Liebe war nicht umgebracht, sondern lebte und lebte, – oder – kein Brief, er selber, er, im Zimmer, wartend …

Wie bracht ich die Tür nur auf? Seltsam: auf dem Schreibtisch, nicht auf seiner Säule, stand der weiße Kopf und sah still durch das Fenster. Franziska muß ihn beim Zurechtmachen des Zimmers zum Abstauben herabgenommen und vergessen haben. Nun stand er da wie ein abgehauener, ich sah ihn schon verschwommen durch Tränen und hob ihn auf und dachte, er steht auf dem Brief. –

Nein, kein Brief. Oh, aber weinen, wieder weinen können! Fast lächeln läßt es sich wieder danach. Magda sagte noch gestern, stirnrunzelnd, mit solch einer kräftigen Düsterkeit, wie sie nun manchmal annimmt: Männer haben die Verachtung, wir haben immer nur Tränen. Jedem seine Waffe.

Ein wenig Erleichterung doch! Ich muß wieder hoffen lernen.

nachts

Nein, ich kann hier nicht bleiben, ich kann nicht! Ich erfriere ja hier! Das Wetter wie im Februar, und das Haus ganz leer. Onkel tot, der Erasmus verschwunden. Verreist, heißt es. Magda sagt ja, in Helenenruh wäre es immer Sommer; wir wollen gleich fahren. Auch Irene läßt den Kopf hängen, ach gewiß, wie ich mir den Brief einbildete, hat sie sich vorgestellt, Klemens an der Bahn zu finden, und nun friert sie, wie ich, bei ihren Eltern; sie kam nach dem Essen, wir saßen zusammen und weinten, ach, du lieber Gott! Ich nehme sie mit nach H.; dort kann ich dann überlegen, ob es gut sein wird, Klemens zu sagen, daß sie auf ihn wartet.

Irene, ach, wer noch warten könnte wie du!

*

Hier enden des achten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.


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