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Fünftes Kapitel

Heimkehr (die andre)

Renate ging zu Ulrika, blieb vor ihr stehn und merkte, daß ihr Gesicht sich wieder in Lächelfalten verzog. »Komm bloß fort,« raunte sie ihr zu, »es ist furchtbar mit mir, ich – ich sage dir gleich alles!«

Im Treppenhaus, nach dem Geländer fassend, blieb sie stehn, aber kaum daß sie, zu Ulrika gewandt, herausbrachte: »Georg –« prustete sie nur, ergriff Ulrika am Arm, zog sie die Treppe hinunter und zwang sich unterwegs, heftig den Kopf aufrecht stellend, zum Ernst. »Wie ist es denn,« fragte sie unten, »kommst du mit mir?«

Während sie Ulrika leise sagen hörte: »Ja, ich möchte gern«, fiel ihr Josef ein – wo war er geblieben? – und alles andre, ihr Herz wollte sich zusammenziehn, aber der helle Sonnenglanz über dem bunten, lebhaften Gedränge im halben Schatten der Gasse und, da ihr Blick von selber aufwärts ging, große, schimmernde Wolkengebäude im starken Blau, die zwischen die scharfen, altertümlichen Dächer und Kanten herabzusinken schienen, machten sie leicht und sicher. Josef wird schon dort sein, dachte sie, jedenfalls kann ich mich auf ihn verlassen; es wird alles gut. »Komm nur mit, Ulrika, ich sage dir alles unterwegs.« Der große Türsteher murmelte etwas … »Ja, meinen Wagen,« antwortete sie, sich umsehend, »da steht er ja!« Sie gingen hin, stiegen ein, rollten ab.

Ernsthaft jetzt und wehmütig dachte sie Georgs. »Ich habe den guten Georg eben sehr gekränkt,« begann sie, »weißt du – ich bekam einen Lachkrampf, ach, gar nicht seinetwegen, er war nur der Anlaß, weißt du, es hatte sich wohl alles mögliche angesammelt, das brach nun auf diese Weise los. Ja, weißt du – Nein,« unterbrach sie sich verstimmt, »dies beständige Weißtu –, ich bin ja ganz kindisch geworden. – Ich sagte dir ja,« fuhr sie gefaßter fort, »daß der Herzog und ich uns zusammengefunden haben, und eben nun – kommt Georg und will mir einen Antrag machen. Siehst du, nun lächelst du sogar!« Sie fiel der lächelnden Ulrika um den Hals, küßte sie und stammelte: »Ach, Kind, ich bin ja so glücklich! Nicht wegen Woldemars, – das heißt, natürlich auch seinetwegen, zumeist seinetwegen, aber – du weißt ja nicht: Josef ist schon lange wieder hier, seit wir aus Helenenruh zurückkamen im vorigen Herbst, erinnerst du dich des Tages? Bogner und du, ihr wart da, ihr lachtet soviel – Kind, was ist denn mit dir?« unterbrach sie sich, da Ulrikas Gesicht sich schmerzlich verdüsterte.

»Nur weiter,« bat sie freundlich, »ich komme nachher schon mit meinen Geschichten.«

Besorgt und zaudernd, Ulrikas kalte Hand in ihrer warmen, fuhr Renate fort: »Er wollte sich aber seinem Vater nicht zeigen, und ich, weißt du, ich war so töricht –, ach, wie war ich doch töricht!« Sie schwieg, sich verlierend, sprach dann hastig weiter:

»Einen Grund, weshalb er nicht zu seinem Vater gehen wollte, sagte er nicht, aber da er mich merken ließ, daß er überhaupt nur um meinetwillen wiedergekommen war, und weil er auch gleich sagte: Wenn ich es von ihm verlangte, so – ja, da war ich so töricht – – ach, aber das war es ja nicht, – was man tut und denkt und sagt, das ist es ja alles nicht …« Sie legte das Gesicht in die Hände, sah sich in Josefs Armen, grübelte, murmelte endlich: »Es läßt sich nicht ausdrücken. Ich habe ihn lieb, Josef, er zieht mich unweigerlich an, und so fürchte ich ihn wohl –, nein, du kannst es nicht verstehn. Ich weiß bestimmt, daß ich ihn niemals lieben könnte, aber wenn er da ist, so bin ich – schwach, – wehrlos, weißt du, irgendwie, – ja – es läßt sich eben nicht sagen. Ich bin nicht schwach, wenn er da ist, im Gegenteil, ich bin durch und durch hochmütig und bin kälter und abweisender als je, aber hinterher könnte ich manchmal zu Boden sinken vor Schlaffheit, und dann merke ich wohl, was die aufrechte Haltung vorher mich gekostet hat. Und so, weißt du –, ja, so stand er eben, so stand ich eben zwischen ihm und dem Onkel, du hörtest vielleicht, er sagte es selber heut, und – er war fort, die Zeit ging hin, ich kämpfte, ich – –

»Es war – unmöglich«, schloß sie. Danach schüttelte sie alles ab, setzte sich zurück, nestelte den Schleier unter dem Kinn los, nahm den Kronenring ab und behielt ihn im Schoß. Ihr war sehr warm; auch die Luft, die voll durch die offenen Wagenfenster hereinströmte, war allzu lau, um zu erfrischen. Sie sah, daß sie schon die Steigung der Döhrener Heerstraße hinanrollten, rechts lagen die roten, festungsähnlichen Werke der Zuckerfabrik, in der Tiefe die Bahngleise.

»Und du?« fragte sie leise und liebevoll, sich wieder zu Ulrika wendend und ihre Hand fassend.

»Du,« antwortete Ulrika nach einer Weile, »sage, was du willst, du bist doch immer frei und rein und triffst das Rechte. Ich bin am Klavier aufgewachsen, damit ist wohl alles gesagt. Wie so ein Klettergewächs habe ich mich von allen Seiten immer nur um meinen schwarzen Freund gerankt, der Flügel war alles, und dann –«

Da sie verstummte, hörte Renate Worte Jasons undeutlich vorübereilen: Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage Benvenuto Bogners niemals nachgedacht – hieß es nicht so? Wie seltsam er gleich alles in einen Anfang zusammengefaßt hatte …

»Und dann«, hörte sie die Freundin weitersprechen, »merkte ich eines Tages, daß einer mich dicht über der Wurzel abgeschnitten hatte. Ich verdorrte nicht, oh nein!« sie lächelte glücklich und verloren, »im Gegenteil, es war ja herrlich, ich blühte mir noch einmal so schön und reich, nur – – ich hatte keine Wurzel mehr.« Sie brach ab.

Renate sah, aus dem Fenster blickend, Tore, Kapellen, rote Mauerzüge und die Gruftgiebel und Lebensbäume des Friedhofs hinter den staubigen, sonnigen Äckern und Gärtnereien neben der Straße. Da irrten ihre Gedanken schon ab und vorauf in das nahe Haus, sie mußte Atem schöpfen und fühlte die Beklemmung. War er wirklich schon da? – Oh, Josef war ritterlich, vielleicht hatte er sie das Geschehnis schon fertig vorfinden lassen wollen, oder auch – es konnte ja fehlschlagen – ihr den Anblick der Enttäuschung ersparen. –

»Ja, wie ist es denn nun?« hörte sie Ulrika fragen, »Josef kommt also heute?«

»Ich hoffe, er ist schon da.«

»Ja, störe ich dann aber nicht …«

Da merkte Renate, daß sie bei aller Zuversicht doch heimlich einen Halt in Ulrika mit sich genommen hatte, umschlang sie zärtlich und beschämt und dachte – ihr versichernd, daß sie gewiß nicht stören könne –, wie grausam besinnungslos der Mensch doch immer um sich fasse, sobald er nur eben ins Schwanken geriet, unbekümmert, ob der, nach dem er griff, nicht heftiger selber im Schwanken war.

»Ach, vielleicht«, sagte sie verstört und furchtsam, »ist die Krankheit meines Onkels ja doch unheilbar, und dann – dann wird es gut sein, wenn ich dich in der Nähe … ach, vergieb nur, Liebste, nun belade ich dich auch noch mit mir!«

Ulrika zeigte eine zuversichtliche Miene und versicherte, der Arzt habe es doch wiederholt gesagt, daß es sich gewiß nicht um eine Gehirnkrankheit handle, sondern um ein Gemütsleiden, und – »ja, ja,« fiel Renate erleichtert ein, »er war immer ein so weichmütiger Mensch –, und sicherlich giebt es das, daß ein Mensch sich etwas so zu Herzen nimmt, daß er – daß er eben aus dem Gleis kommt, sich selbst vergißt und nur den einen Gedanken verfolgt …«

»Wir kennen es«, sagte Ulrika langsam, »ja Alle selber so gut, die Anfänge davon, dies –« sie schauderte – »oh dies besinnungslose Dastehn, mitten in irgendeinem Tun, nicht weiter Wissen, minutenlang, und – wir sind da!« schloß sie hastig. Der Wagen hielt.

Veranda

Das Herz schlug Renate in den Hals hinauf, als sie durch den Vorgarten zum Hause ging, aber dem entgegenkommenden Hausmädchen war nichts anzusehn, Renate wagte nicht, zu fragen, warf im Flur den Mantel ab und trat in die Halle. Durch das offne Fenster sah sie den Tisch in der Veranda gedeckt, dann, durch die Tür, draußen Erasmus, noch gepanzert, mit Magda, die einen seiner Arme hochhob und ihn betrachtete, und Renate hörte ihr Lachen. Dann wurde Erasmus ihrer gewahr, Beide kamen auf sie zu, Erasmus in bester Haltung, aber – was war mit seinen Augen? Sie glühten und glichen Georgs Augen, als der … Ihr Herz zog sich ängstlicher zusammen. Wäre nur Josef erst da! dachte sie, alles von ihm erhoffend.

Erasmus nahm ihre Hand, küßte sie sogar und sagte mit seiner dunklen Stimme: »Na, endlich, wir haben einen bärenmäßigen Hunger.«

Renate umarmte Magda. – »Du siehst wirklich vortrefflich aus,« sagte sie mühsam zu ihm, sich von Magda losmachend, »du solltest immer so gehn, weißt du!«

Er lachte verlegen: es sei etwas warm, – und sie hatte ihn im Verdacht, daß dies gute Aussehn der Grund war, weshalb er sich noch nicht umgezogen hatte. Doch zog es sie nun zum Onkel, sie bat die Andern, auch Ulrika, die hereinkam, um Entschuldigung und ging hinaus, die Treppe hinauf und stand vor der Tür, hinter der sie Schritte hörte. Er ging wieder auf und ab! Nun machte er halt; nun ging er wieder zurück … Sie öffnete leise und trat ein. Er stand mitten im Zimmer und sah ihr entgegen.

Seine Augen hatten Blick, er sah. Sekunden stand sie fassungslos, ihre Hände falteten sich, sie flüsterte: »Onkel …«

»Ja,« sagte er, »ja, was …«

Er sprach ja! Er sprach ja wieder!

Aber was nun? Josef, oh wärst du da! Sinnverwirrt, angstvoll, die einzige Minute, diese, verstreiche ungenutzt, senkte sie die Stirn, wußte nichts. Als sie wieder aufsah, hatte er sich abgewendet, blickte nach dem Fenster, nach der Straße. – Stand Josef unten? – Sie machte zwei Schritte vor, unten die Straße war leer. – Aber – war er nicht größer geworden? Der seltsame, ganz kahlglatte, hohe und gerundete Schädel, die steile, von den Brauen fast vornübersteigende Stirn und dicht unter den Augen das weiß und glatt nach unten fließende lose Barthaar machten ihn trotz der schwarzen Joppe zu einer Figur der Zeit, aus der sie kam; er glich einem heiligen Antonius oder Hieronymus.

Sie ging nun zu ihm und berührte seinen Arm. Er wandte das Gesicht, ein wenig tiefer als das ihre, mit einem Zucken, sah sie fremd an. Nein, nicht völlig fremd, nicht wie sonst, und – Unruhe ist es, frohlockte Renate, und allen Willen und Einfluß aufbietend, bat sie: »Komm, Onkel, es ist Essenszeit!« Schob die Hand in seinen Arm, zog und drängte sanft. Er folgte.

Zitternd, sich gewaltsam haltend, weinend, lachend, angstvoll, triumphierend im Innern, führte sie ihn die Treppe hinunter in die Halle. Erasmus stand draußen an der Verandatreppe, an den Eisenpfeiler und die Weinranken gelehnt, herunterblickend auf Ulrika und Magda mit einer fast leutseligen Haltung. Jetzt sah er seinen Vater, die Frauen wandten sich, Renate legte den Finger vor den Mund und sah, wie Erasmus seine erschreckten Züge beherrschte. In der Verandatür, an Magda vorübergehend, flüsterte Renate: »Noch ein Gedeck!« und führte den Onkel um den Tisch, wo er sich ohne Widerstand auf den Stuhl am weitesten rechts, vor der Seitenwand der Veranda niedersetzte. Sie setzte sich in seiner Nähe mit dem Rücken zum Garten, winkte Erasmus seinem Vater gegenüber und sagte, so leicht sie konnte: »Nun erzähle, Erasmus, wie war es! Hoffentlich hast du nirgend Schaden angerichtet mit deinen Blumen!«

Ulrika setzte sich ihr gegenüber, auch Magda kam herein, dann der Diener, der vor dem alten Mann deckte. Erasmus bewährte sich außerordentlich und sagte, es sei ungemein lustig gewesen. Dann redete er kräftig darauflos, er sei überhaupt der einzige, der richtig begreifen könnte, wie schön so ein Tag sein könne, er plagte sich jahrein, jahraus, daß genug Essen auf den Tisch komme, – oh, er gab sich glänzend preis! – und ob Renate wohl ein einzig Mal bedacht hätte, daß es sein saurer Schweiß wäre, in den sie sich kleidete, niemals dächte sie daran. »Kinder, Kinder,« sagte er, »was Mädchen, was Mädchen! Eine Zeitlang dachte ich, es wären immer dieselben, wie im Theater, wo immer dieselbe Korporalschaft über die Bühne marschiert im Triumphzug des Germanikus, oder war es in Aïda?« Und er fing an zu erzählen, wie sie als Schüler Statisten gemacht hatten, – Renate lachte das Herz im Leibe, wie sie ihn heiter und gelassen die Augen von Einem zum Andern bewegen sah, nur seinen Vater vermeidend, der indessen in sich versunken war, die Hände neben seinem Teller auf dem Tischtuch, ohne etwas zu essen.

Erasmus schenkte Wein ein. Plötzlich sah Renate das Gesicht Magdas, die eben ihr Glas aus Ulrikas Hand nahm, stillstehn, indem sie nach draußen blickte. In die Augen kam Schrecken, Renate drehte sich langsam, von ihrem Onkel abgekehrt, um und sah im Garten Josefs Gesicht, frei, die heile und die schreckliche, rote Hälfte; er trug noch die schwarze Kutte, deren Kapuze hinter seinem Kopf abstand, seine Hände unten waren etwas gespreizt, er sah nicht seinen Vater, sondern seinen Bruder an, vorbei an Renate, die sich langsam wandte. Erasmus setzte eben den Pfropfen auf die Flasche und stellte sie vor sich auf den Untersatz, ergriff sein Glas und wollte sich wohl zu Renate wenden, aber sie drehte sich weiter, – und da saß Josefs Vater und hielt das Gesicht in den Händen. Renate preßte ihr Herz gewaltig zusammen, stand ruhig auf, trat zu ihrem Onkel, faßte nach seinen Händen und sagte: »Josef ist im Garten, Onkel, soll er nicht hereinkommen?« Und sich zurückwendend, winkte sie Josef mit den Augen.

Jetzt hatte ihr Onkel die Hände fallen lassen, sie sah seine Augen, die erst angstvoll und suchend nach den ihren griffen, aber gleich glitt der Blick weiter, und dort stand Josef, den Kopf etwas gesenkt und sah seinen Vater an. Neben ihm Erasmus war an die Wand zurückgetreten, seine Augen standen auf seinen Bruder gerichtet, als sollten sie ihn durchbohren, Renate sah etwas in seinen geschlossenen Händen, das – nein, das nicht ein Obstmesser zu sein schien! Und da war auch schon wieder das Gesicht seines Vaters, der sich langsam vom Stuhl erhob, während Josef mit seltsam heller und klingender Stimme sagte: »Da bin ich wieder, Vater, aber ich habe mich abscheulich verändert. Laßt euch nicht stören«, sagte er zu Ulrika und Magda, die aufgestanden waren.

Sein Vater fuhr mit der rechten Hand über die Stirn, lächelte und sagte: »Wahrhaftig, Josef! Ich dachte fast, du hättest uns vergessen! Da kommst du ja grade recht zum Essen.«

Josef trat zu ihm, sie drückten sich die Hände, Josef legte seinem Vater einen Augenblick die Linke auf die Schulter, Renate sah, wie der alte Mann sich duckte, seine Lider zitterten, aber er bezwang sich, mit einer ungeheuren Kraft, wie es schien, blickte leicht in Josefs entstelltes Gesicht empor, schüttelte langsam den Kopf und meinte: »Ein Adonis bist du gewesen, mein Junge.«

Josef lachte herzlich. »Du weißt ja, Papa, es ist Adonislos, daß ihn die Erinnyen zerfleischen!«

Sein Vater fiel munter ein und sagte: »Setz dich, setz dich doch, iß und trink und erzähle!«

Da nahm er Renates Stuhl. Sie drehte sich um. Erasmus war nicht mehr da, und sie setzte sich schnell an seinen Platz. Der Diener, der schon gewartet hatte, kam leise und sammelte die Teller ein. Renate faltete unter dem Tisch die Hände, mußte aber unter ihren Gebetsworten bemerken, daß es doch das Obstmesser gewesen war, denn es fehlte. Sie zuckte einen Augenblick, Erasmus nachzugehn, hörte jedoch ihren Namen, blickte rundum, lachte und sagte, atmend aus voller Brust:

»Also wären wir Alle wieder beisammen. Wie lange warst du fort, Josef? Keine drei Jahre, weißt du, schreiben hättest du wohl einmal können, wo du überall gesteckt hast.«

Josef wandte sich halb zu seinem Vater und bemerkte halblaut: »Iphigenie! sie hat sich nicht verändert, oje-oje!« und Renate merkte, daß sie den rechten Unterarm auf der Tischplatte vor sich liegen hatte, den linken aufgestützt und das Kinn in der Hand.

Ein wenig später war Renate unter fernem Stimmengeschwirr und Lachen sich nicht mehr klar, was sie tat, sprach oder empfand, fühlte sich selber undeutlich in lebhaftester Erregung und Bewegung und hörte nur einmal Josefs Stimme, wie er zu seinem Vater sagte: »Sieht sie nicht aus, als ob sie einen ganzen Nachtigallenschwarm in der Brust hätte, Papa?« und er sagte noch weiter etwas von Rosen und Lilien ihres Gesichts, die von diesem, unten hineingesetzten Nachtigallenschwarm ins Wanken und völlig durcheinandergekommen seien. Sie hörte ihr eigenes Lachen fern, dann schien es ihr, als sei von ihrer oder Ulrikas Kleidung die Rede, – nein, er beschrieb das mittelalterliche Bild, das er vom Garten aus gesehen habe: Ulrika und Renate in ihren farbigen Kleidern und Kopfzierden, Erasmus im Panzer, der Eremitenkopf seines Vaters, – ein bißchen Veronese, aber sonst ganz …

Plötzlich stand alles für einen Augenblick still, sie sagte: »Ja, nun müßt ihr aber etwas hören! – Ich habe mich verlobt.«

Es war still geworden.

»Verlobt?« fragte ihr Onkel leise; seine dunklen Augen standen fest, dann senkten sich langsam die Lider darüber. »So. – Ja, mit wem denn?« hörte Renate ihn noch leiser fragen.

Erschreckt blickte sie auf Josef, sah den roten Fleck seines rechten Gesichts und die linke Braue leicht angehoben.

»Mit dem Herzog, – Herzog Trassenberg, Onkel,« sagte sie unsicher, für Sekunden ratlos, was dies bedeute, und fügte mit wankender Stimme hinzu, er habe zwar ihr Wort noch nicht, aber … Da wußte sie, daß ihr Onkel an seinen Sohn dachte. Sie sah ihn ängstlich zur Seite nach Josef spähn; Josef beugte sich ein wenig zu ihm und sagte ironisch: »Ja, willst du eigentlich nicht gratulieren, Papa?«

Nun stand er langsam auf, aber diesmal, merkte Renate, gelang ihm die Beherrschung nicht, er legte die Hände zusammen und fragte furchtsam: »Josef – verzeih, aber – ich habe immer gedacht …«

Jetzt rückte Josef, vor Staunen fassungslosen Gesichts, seinen Stuhl nach hinten, sah zu seinem Vater auf, erst wie völlig verwirrt, dann fragend, endlich strafend, und sagte: »Ja, nun brennen alle Kandelaber, Papa! Renate, ists nun hell genug? Ich und du, stell' dir vor! Eiweih geschrien!«

Renate lachte, so hell sie konnte, es fiel ihr schwer, da Josef das heile Auge zusammenkniff, wodurch sein Gesicht zu einer scheußlichen Grimasse wurde, aber sein Vater konnte es nicht sehn, und sie atmete erleichtert auf.

»Ja, dann,« sagte er zögernd, »dann wird der Herzog wohl zu mir kommen wollen?«

Renate nickte und hörte Josef sardonisch fragen, ob er Angst vor Herzögen habe. Nun lachte er gütig, ergriff sein Glas und richtete sich mit Würde auf. »Dein Wohl, mein Kind,« sagte er, »von Herzen dein Wohl und das seine! Ich werde den Herzog mit viel Freude empfangen, denn von ihm hat man ja nur Schönes und Gutes und –« Er stockte, und Renate vermeinte, er erinnere sich, daß der Herzog verheiratet war, dann fuhr er mit plötzlich bebender Stimme fort: »– und Edles gehört.« Das Glas entfiel seiner Hand, Tränen brachen stromweise aus seinen Augen, er drehte sich zu Josef um und stammelte: »Josef! Josef! Mein Sohn ist wiedergekommen! mein Sohn hat mich nicht verlassen, er war tot und ist wieder lebendig – geworden –«

Er brach ab, schluchzend an Josefs Brust, der, selber ganz grade stehend, ihn mit den Armen umschloß, einmal schnell und fest die Lippen auf seinen Kopf drückte und wieder grade stand.

Renate wandte sich glücklich ab und sah den Garten in der Sonne, den hellgrauen Sockel der Uhr und seltsam deutlich den Schatten des Zeigers auf der braunen Metallscheibe; die Stunde freilich war nicht zu erkennen; dann verschleierten sich ihre Augen. Bald darauf hörte sie das Weinen ihres Onkels leiser werden und Josefs liebevolle Frage, er sei gewiß müde, ob er sich nicht niederlegen wolle? – Ja, er sei müde, sehr müde … kam die Antwort. Sie sah, sich wendend, wie er gebückt, glücklich lächelnd durch nasse Augen, sich von Josef fortführen ließ, und spürte, als habe das Wort ›müde‹ sie verzaubert, nun eine rieselnde und süße Mattigkeit in allen Gliedern, die zugleich alles umher in Goldstaub und grünes Geflimmer auflöste. Sie überwand sich aber, plötzlich von einer Woge der Dankbarkeit und Liebe zu Josef überspült, rührte seinen Arm an, und da er sich umwandte, so legte sie die Arme auf seine Schultern, hob ihren Mund zu seinem, hatte aber nun so nah und deutlich die stramm gezogne, glatte und rote Haut seiner rechten Wange und darin das Augenloch mit den von allen Seiten zusammen- und hineingezerrten Falten dünner Haut vor sich, daß sie zurückgeschaudert wäre, wenn sie nicht wieder sein heiles Auge gesehn hätte und den Blick von sonderbar weichem Staunen, so daß ihr Mund nun stehn blieb, nicht weit von dem seinen, sekundenlange, während sie lächelte und ihn mit großer Zärtlichkeit anblickte. Zurückweichend, fühlte sie noch, daß er ihre rechte Hand ergriff und, das Gesicht sehr tief beugend, an den Mund drückte, und hörte ihn sehr leise sagen: »Es genügt. Ich habe nun nichts mehr zu wünschen und kann –«

Danach entschwand er ihr; sie verging sich selber in Schlafverlangen, empfand noch, daß sie im Gehen, daß da Ulrikas und Magdas Gesichter waren, daß sie sprach und ferne Stimmen hörte, dann, daß sie durch den Garten schwebte, und endlich, daß sie sehr tief lag. Sie öffnete mit Anstrengung die Augen, hoch über ihr war wunderbares Grün, von Bläue durchbrochen, ganz nahe über ihr Ulrikas Gesicht und das Ende einer Hängematte. Sie wollte die Hand zu Ulrika hinaufheben, brachte es aber nicht fertig, und dann war nichts mehr.


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