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Achtes Kapitel

Masken

Georg nahm die schwarzseidene kleine Halbmaske vor, stieg aus dem Wagen und stand am Fuß der Freitreppe vor der Universität, über sich die beiden fleischroten, milchigen Sphären der Bogenlampen, von innen eigentümlich Licht ausquellend, umtaumelt von dicken Schwärmen weißer Nachtfalter. Georg drehte sich um und sah im weiten, hellen Schein dieses Lichts den dichtgemauerten Halbkreis der fast stillen Menge, hundert und tausend beleuchtete Gesichter rings um das springende Bronzepferd, dessen Rücken im Lichtschein glühte, quer über die Fahrstraße und unter dem lichtberonnenen, dunklen Wipfelwall der Allee. Jason, Josef, Saint-Georges – zählte Georg vertieft und ging die Stufen hinauf; es war verflucht, er kam nicht darüber hinaus, und es ließ ihn auch nicht los. Josef, Saint-Georges, Jason, was haben sie gewollt? Saint-Georges, Jason, Josef, – Josef war vorher da und hielt eine wunderbare Rede. Jason, Saint-Georges, Josef, – ich kann es drehen wie ich will, ich weiß, daß sie etwas wollten, wenn sie den Namen meiner Mutter sagten, und – Josef, Saint-Georges, Jason, es ist zum Verrücktwerden – ich weiß, daß ihre Rede eine schauerliche Wirkung auf mich hatte, – da steht ja Renate am Türpfeiler? Nun bloß nicht fürchten! Nein, es ist ja nur ihr Kleid, wer ist denn das? – Die weißmaskierte Gestalt in Renates lavendelblauem Kleid bewegte sich gegen ihn vor, – Saint-Georges, Josef – dachte er und hörte sie sagen: »Georg?«

»Ach, Anna, da bist du ja, oh verzeih tausendmal, daß ich so spät komme! Hast du lange gewartet?«

»Wie still sind die Menschen unten,« sagte sie, »es war ganz schön hier oben.«

Georg drehte sich um und sah das schweigsame Gedränge unten in dem fremden Licht.

»Angenehm, daß sie mich nicht erkannt haben,« sagte er leise, »ich nahm einen Wagen ohne Abzeichen. Es ist gräßlich warm, findest du nicht?« Er trocknete sich die nasse Stirn mit dem Taschentuch. Josef, Jason, Saint- … »Komm, Magda, wir sehen alles an,« sagte er heiser, »oder möchtest du tanzen? Im kleinen Schloßhof in Herrenhausen wird getanzt.« Er drängte sie am Arm neben sich her, durch die Halle, die breite Treppe hinauf, bunte Trachten, Masken liefen vorüber, andre stiegen mit ihnen, stießen zusammen, drängten sich, – sie stiegen langsam Stufe um Stufe.

»Ich glaube, Magda,« seufzte Georg, »uns ist Beiden nicht nach Masken und Tanzen zumute, aber du weißt ja,« schloß er bitter, »ich trage eine Maske mein ganzes Leben.«

»Oh, Georg,« sagte sie schmerzlich, stehen bleibend, »glaubst du denn unrecht zu tun?«

»Ach, unrecht,« meinte er wegwerfend, »das sind alles so Ausdrücke.« Die Hand am Treppengeländer, beugte er den Nacken und starrte auf die Stufen hinunter. »Wenn du in einem Buch liest: Ehebruch, dann weißt du gleich, um was es sich handelt, und hast Urteil und alles bei der Hand. In Wirklichkeit hat man vielleicht einen Mann, den man haßt, und ein verkehrtes Leben und liebt einen Andern, und all das verschmilzt sich zu einem schrecklich leidigen und treibenden Gefühl, aber mit Ehebruch hat es gar nichts zu tun.«

»Nun, Georg, wenn das wahr ist, so ist es mit deiner Maske wohl dasselbe.«

»Komm weiter«, bat er leise, in dem Gefühl, daß sie recht habe, ohne es sich selber zugeben zu wollen.

»Ich muß dir verschiedenes erzählen«, sagte er, als sie oben in der Halle waren und gegen die Tore vorgingen, durch die es von Masken wimmelte, die er kaum ansehn mochte, ein so widriges Empfinden erregten sie ihm. Von unten ertönte gedämpfte Musik, sie standen über einem Gewimmel von unzählbaren winzigen Lichtern, roten, weißen, grünen und blauen, darin lag der weite Rasen unten, umringt von alten Bäumen; von oben und bei der Dunkelheit sah es wie ein Wald aus, Georg fand es ganz schön. »Renates Vetter Josef«, hörte er Magda sagen, »ist wieder im Hause, jetzt ist er hier mit seinem Vater.«

»Hier?«

»Ja, ich weiß freilich nicht, wo sie sind, sie wollten in den Französischen Garten.«

»Dann laß uns versuchen, ob wir sie finden,« bat Georg; »ach, Magda, verzeih mir nur, daß ich so kümmerlich zu dir bin, es ist ein bittrer Tag, und ich weiß bald nicht mehr, ob ich wache oder träume.« Sie ergriff seine rechte Hand, drückte sie schweigend. »Diese Hitze könnte mich rasend machen,« stöhnte Georg, »bei der Galatafel wars zum Platzen, und dann in dem grellen Licht der Vorbeizug, und der Geruch nach Puder und Parfüm und Schweiß, – ich muß noch ein paar Tage nach Helenenruh und mich in die Nordsee stürzen …«

Stirn und das klebende Haar an den Schläfen reibend stieg Georg die großen Terrassen hinunter. Unten gerieten sie bald auf einen dunklen Seitenweg im Gebüsch; ein einzelnes, rotes Licht hing an einem Baumstamm, es roch nach welkenden Rosen, Georg erinnerte es an eine Kirche in Athen. Josef, Jason – da fängt es wieder an, dachte er verzweifelt. Magda, vor ihm stehend, ergriff seine Hände und sagte leise und eindringlich:

»So froh kamst du heut morgen herein, Georg, und nun bist du am Ziel und doch nicht glücklich?«

Da fühlte er wieder den Hohlraum, in dem das wesenlose Wesen seines Vaters umtrieb, der Schweiß brach ihm heftiger aus, »was ist denn Glück?« sagte er stumpf. »Jetzt bin ich Großherzog, und warum bin ich nicht Steineklopfer?« – Und ohne etwas zu denken, fuhr er fort: »Glück? Etwas, das man hat und nicht weiß, etwas, das man weiß und nicht mehr hat. Und wenn es ein Glück gäbe, wie du es meinst,« sprach er verzweifelt weiter, Gedanken schwerfällig aus Gedanken ziehend, »glaubst du, daß es so leicht wäre, daß man es im ersten Augenblick begreift?«

»Georg,« hörte er ihre ruhige, weiche Stimme erwidern, »du weißt immer einen Satz und eine Erklärung, aber ich glaube nicht, daß sie mit deinem innern Zustand etwas zu tun haben, oder daß sie dir überhaupt etwas bedeuten.«

Er öffnete den Mund, um zu sagen: Das sei eben das Wesen der Tragik, zerspellt zu sein in Erkenntnis und Empfinden, aber sie kam ihm zuvor, indem sie sagte: »Jetzt willst du wieder einen Satz sagen, vielleicht weiß ich ihn sogar, oder … Ich habe das jedenfalls an mir selber erfahren, daß Klugheit und Wissen etwas für sich sein kann, außer uns, neben uns her, und es ist wohl manchmal sehr schwer, es mit unserm wirklichen Wesen zu vereinen.«

»Nein, das meinte ich glaub ich nicht,« sagte er, den Kopf hin und her bewegend, trübe, »aber du wirst wohl recht haben. Ja, nun meinst du, ich soll diese meine Klugheit an einem tüchtigen Strick wie – wie so einen Fesselballon in mich hineinziehn? Ach, Worte, Worte, Worte, ich werde noch verrückt davon werden, komm bloß weiter!«

Er ließ ihre Hände los, dann zwang es ihn plötzlich, die Stirn auf ihre Achsel zu legen, er stand sekundenlang so, fühlte die sanfte Erlösung dieses Ruhns, aber in ihm lehnte etwas sich auf, er sagte zu sich selber: Du liebst diese ja nicht, sie ist dir fremd, sie meint es gut, aber – »O Gott!« seufzte er leise.

»Es kommen Menschen«, sagte Magda, er richtete sich auf, nahm ihre Hand und zog sie weiter.

Sie wanderten wortlos auf den schmalen Wegen, immer belästigt durch Geschrei, Vorbeigelaufe der Maskierten, die ihnen zuriefen oder nach ihnen schlugen, sie mußten selber tun, als ob sie daran Gefallen hätten, lachen und erwidern, endlich gelangten sie ans Tor. Von ihm zur Lindenallee war schräg über den Fahrdamm eine Gasse von Girlanden und bunten Laternen gezogen, hinter denen die zuschauende Menge sich staute. Sie eilten freier hindurch in das Dunkel der Alleen, gingen wieder langsamer unter den Bäumen hin, querhinüber und zwischen den Stämmen hindurch am Ende der Alleen schräg auf das Tor des französischen Gartens zu. Der vorderste Block der haushohen Mauern dunkler Baumhecken stand über ihnen in der Nacht, aus der Tiefe quellend beleuchtet; hier waren weniger Menschen, in der Ferne rauschte Musik. Zwischen kleineren Hecken hindurch gelangten sie zu der ersten großen und gingen unter ihr hinunter. Am Fuße eines Baumes stand eine der Lichtquellen, sie traten hinzu und sahen auf einer kurzen und dicken Steinsäule ein metallenes Becken – »eigentlich ein Papierkorb« sagte Georg – mit Wasser gefüllt, an dessen Grunde drei in rotes Zeug gewickelte Glühbirnen leuchteten; in der roten Flüssigkeit schwammen zwei tote Fische. Georg tauchte einen Finger hinein, das Wasser war beinahe kochend.

»Ein Genie, wer das erdacht hat,« meinte er, »die Fische sollten das Wasser in Bewegung erhalten; der Erfinder sollte sie alle zu Mittag bekommen.«

»Arme kleine, tote Fische«, sagte Magda, und beim Klange ihrer Stimme befiel Georg ein sonderbar süßlicher Schmerz. Das war Anna Chalybäus' Stimme, dachte er, als sie weitergingen, und eine meilenferne selige Vision von Helenenruh zog, seinen Augen unsichtbar, seiner Vernunft unnennbar, mit schmerzlichem Schauder durch seine Brust. Er mußte plötzlich an seine tote Mutter denken, sie, für die er keinen Namen mehr fand, nur einen Baumstamm auf einer Insel mit der Tafel: Helene –

Georg merkte, daß er stillstand; der Heckengang war zu Ende, rechts neben einem freien Platz mit Bäumen rauschte laute Tanzmusik aus dem großen Pflasterhof des niedrigen weißen Schlößchens; die Umrisse leuchteten, starke, weiße Linien in der Nacht; im dämmrigen Licht buntfarbener Laternen bewegte sich hinter den hohen Gittern das wogende Getümmel der Tanzenden. »Oh sieh wie schön!« hörte er Magda sagen und sah nach links. Dort standen in den vier Ecken des weiten Quadrates haushoher, düstrer Hecken vierfarbig leuchtende Fontänen, eine schneeweiße, eine lichtgelbe, eine tiefrote und eine lichtblaue. Zwischen den Wegen, Rasenplätzen, Beeten und Bosketts wandelten die undeutlich buntgekleideten Gestalten in diesem Halbdunkel und standen auf ihren Postamenten, leise von unten beleuchtet, die Steingötter, -göttinnen und Urnen mit schweren Schatten und in starker und düstrer Bewegtheit ihrer Falten und Glieder, und Georg sah den Schattenriß eines Füllhorns in der Nähe, eine Keule zwischen stämmigen Beinen anderswo, und nun wieder, hoch über dem niederhangenden Füllhorn, ein zartes, leuchtendes Profil, dahinter einen großen, leicht zum Nacken gesunkenen schwarzen Kopf, dessen Umrisse die Umrisse von Früchten und Blumen schienen, und wieder dachte Georg Annas und des Bildes, das Bogner von ihr gemacht hatte; und nun ging er hier mit ihr wie mit einer Schwester.

Indem fühlte er sich am Arm berührt und sah ein häßliches Wesen neben sich: eine rote, lottrige Tunika über schwarzen Trikots, eine schwarze, törichte Bartmaske unter starrendem Haar nach allen Seiten, aus dem ein Schlangenkopf zitterte; eine Hand schwang einen langen Dolch oder ein Schwert. Sie warf den Kopf zurück und bewegte Arme und Oberkörper mit solchen schiefen, zuckenden Gebärden, daß Georg gleich Cora erkannte, auch ihre Stimme hinter den hohen verstellten Tönen, mit denen sie sagte: »Nun, mein Schöner?«

Es ekelte ihn unbeschreiblich; ihre sich hebenden und fallenden Schultern, das Vordehnen des Leibes erinnerten ihn an gräßliche Dinge, er schnob kurz: »Was willst du?« im halben Gefühl, Magda nichts gewahr werden zu lassen.

»Du siehst, was ich bin?« fragte ihre Stimme, schon weniger verstellt. Georg wandte sich zu Magda und sagte: »Sie fragt, was sie vorstellt. Ich glaube, eine Furie. Eine Furie, Erinnye oder so!« sagte er zu Cora, ergriff Magdas Arm und wollte sie weiter drängen, aber Cora war mit einer ihrer weichen Seitwärtsbewegungen um ihn herum, ergriff Magdas Arm und zischte theatralisch: »Nun? Nun, schöne Heliodora, sind Sie nun am Ziel Ihrer Wünsche?«

»Ich bin nicht Heliodora,« sagte Magda ruhig, machte ihren Arm los, und Georg, hinter sie tretend, fuhr Cora wütend an: »Geh zum Teufel, mit deinem Mummenschanz!«

»Der Großherzog hat befohlen,« sagte sie höhnisch, »seinetwegen hat sich das Volk in Masken gehüllt!« und wich zurück, schwenkte sich herum und ging schlenkernd, in den Hüften sich wiegend davon.

Georg, Magda fortziehend, hörte sie fragen: »Wer war denn das?« Sie schien zu lachen, er vermied deshalb eine Antwort und fragte: »Lachst du, Anna?«

»Ja, es war so komisch! Erinnerst du dich, ich sagte dir einmal von einer Legende, die Jason uns erzählte, von Orest und der Eumenide, und ich mußte denken, wenn die Eumeniden so ausgesehn haben, waren sie nicht sehr zum Gruseln.«

»Nein, weiß Gott nicht«, murmelte Georg verdrossen. Ach, wie ist das wieder ganz Cora, seufzte er innerlich, im Kostüm und mit Schlangen und Dolchen als Rachegöttin vor mich hinzutreten. Aber ich muß sehn, daß sie uns nicht wieder über den Weg läuft.

Tempel

Sie traten aus dem Heckengang auf den äußeren Fuhrweg hinaus. Drüben standen die schwarzen Wipfelgruppen der englischen Anlagen unter matten Sternen, Georg roch das brackige Wasser der unsichtbaren Gracht, jenseits des Weges in der Tiefe. Sie gingen zur Rechten am Fuß der hohen Heckenwand hinunter, die in der Ferne hier und da von den unteren Lichtquellen rötlich gefleckt war, auf den kleinen Rundtempel an der Ecke des Gartens zu; eine seiner Säulen stand ganz schwarz vor ihnen, dahinter mußte der Leuchtkörper sein, von dem die Wölbung innen und die Säulen links und rechts weißrötlich glühten. Auf dem breiten Wege ging nur hier und da ein stilles Paar. –

Hand in Hand wanderten sie auf die freundliche Erscheinung des Lichts und des kleinen Tempels zu. »Dort steht eine Bank am Wasser,« sagte Georg, »wir können dort sitzen, und ich sage dir einiges. Bald muß auch das Feuerwerk kommen. Es soll rund um das ganze Gartenviereck brennen, dann können wir's schön sehn, auch im Wasser.«

So gingen wir vor drei Jahren, dachte er währenddem leise bekümmert, hätte gern etwas Liebreiches, Dankbares, Verzeihungbittendes gesagt, fand aber kein Wort, und sie gingen schweigsam dahin. – Was dachte sie nur? –

Vor den drei Stufen ins Innre des Tempels blieb Georg stehn und nahm die Maske ab. Magda tat dasselbe, er sah dämmrig den Schein ihres Gesichts und der Augen im Dunkel, dahinter die graue Säule und sagte, vor sich niederblickend:

»Vielleicht – –, vielleicht ist diese Stunde die beste am Tag. Es ist wieder stiller in mir, ich – ich bin so froh, mit dir zusammen zu sein.« Er suchte, beschämt, sich zerknirschend und traurig nach Worten. »Und –« fuhr er stockend fort, »und –« Er wußte nicht weiter, sah verschwimmenden Auges den breiten Weg hinunter, in dessen Mitte einsam eine dunkle Gestalt stand, an der seine Augen nun festhingen, so daß er alle Gedanken verlor.

Als er sich umwandte, war Magda nicht mehr neben ihm, er ging über die Stufen in den Raum und sah sie neben einem unterwärts dunklen, innen stark leuchtenden, großen Becken stehn, das Antlitz, stark beleuchtet, leise auf das Licht gesenkt, anmutiger als es ihm je geschienen in den letzten Jahren, – wie lang doch ihre Wimpern waren, nun sie gesenkt ruhten! die Augen glitzerten feucht dahinter, die Stirn war freilich – irgendwie arm, so hoch, nicht streng, – vielleicht karg, – ach arm nur für meine Augen, dachte er trübe, weil sie keinen Reiz für meine Sinne hat. Näher tretend gewahrte er, daß vom Rande des metallenen Beckens unaufhörlich dünne Wasserfäden zu seinem Grunde niederrannen und glitzerten; in der Tiefe war eine Glasplatte, durch die das starke Licht fast blendend emporquoll.

Die Armut steht am Lebensquell … dachte Georg, es schien ihm der Anfang eines Gedichts, und – wie töricht! schalt er sich, denn wer ist hier arm und wer nicht?

Magda sagte aufblickend: »Ich fürchtete schon wieder tote Fische, aber hier sind sie geschickter gewesen.«

»Ja, aber der Brunnen war hier immer,« meinte Georg, »nur das Licht ist neu.«

Angenehm gekühlt und gedankenverloren schaute er in das glitzernde, unablässig rinnende Rund, legte eine Hand hinein und schauderte wollüstig von der kalten Flut. Magda hatte die beiden Hände auf den Rand gestützt und stand leicht übergebeugt, er legte, ihr gegenüberstehend, sich neigend wie sie, die Hände auf die ihren, ihre Gesichter waren dicht voreinander, Magdas Augen hafteten – ihre fast brauenlosen Augenbögen zogen sich dabei zusammen – in den seinen mit leise schmerzlichem, bekümmertem, sorgendem Ausdruck, dann bewegte sie langsam das Antlitz vor, und ihre Lippen berührten die seinen, leicht wie eine Blume, die weht.

»Gott segne dich, Georg«, sagte sie leise. – Er senkte den Kopf, ihm quoll das Herz.

Ein Geräusch hörend sah er auf. Magda lehnte drüben an der Säule, in ihren Augen war ängstliche Verwunderung, und Georg sah dort, wohin sie blickte, nicht weit rechts neben sich Cora, geduckt wie ein Indianer, den Griff des Dolches gegen die Brust gestemmt, so daß die Spitze nach vorn stand, und Georg sagte, als er das sah, hohnerfüllt: »Man stößt von unten, Cora, von oben macht man's bloß im Theater.«

Cora zeigte beide Zahnreihen; die Maske, dumm und grotesk aussehend, hielt sie in der linken Hand.

»Ja, was willst du denn nun eigentlich?« fragte Georg ungeduldig und bewegte sich zu Magda hinüber. Indem flog Cora empor und auf Magda zu, den Dolch in der Hand, blindlings von oben stechend; Georg, wütend in Bewegung, stürzte mit halbem Leibe über das Becken, raffte sich mit schmerzender Hüfte auf, sah Magda mit vorgestreckten Armen nach Coras Handgelenken fassen, plötzlich schrie sie auf, taumelte zurück und mit der Stirn so heftig gegen Georgs Schulter, daß es in ihm dröhnte. Sie hing an ihm, preßte den Kopf an seine Brust, die Hand vor den Augen. War sie verletzt? Und wo? – Er verspürte eine schäumende Wut, auf Cora zu stürzen, die er die Stufen hinunter ins Dunkel rennen sah, da verließ ihn alle Kraft, er mußte Magdas Gestalt zu Boden lassen, sie drehte das Gesicht weg, ihre Hand war so dunkel und fleckig im Schatten am Boden, er stand über ihr, da wurde der dunkle Boden, auf dem sie lag, zu dunkler Wiese, ihr Kleid färbte sich langsam rot, Georg roch mit fürchterlichem Grauen Kühe und Gras aus einer Entfernung von drei Jahren, er wich zurück, schlotterte, er stieß mit dem Hinterkopf an Stein, drehte sich um, stürzte Stufen hinunter, trat, niederbrechend, in weiches Gras, raffte sich hoch und stand.

Ganz langsam drehte es ihn herum. Dort am Boden lag unverändert die Gestalt. Es wandte ihn wieder fort, durch Sekunden spürte er merklich, wie sein Inneres sich leerte. Er dachte noch: So … also hier ist nun das Ende. – Leere und eine unendliche Schwäche machten ihn so leicht, daß er umzuwehen meinte, sein Kopf sank vornüber, zu seinen Füßen war Mauer, etwas tiefer ein dunkelwässriges Glitzern, in das es ihn wonnevoll hinabzog. Ah stürzen! dachte er, stürzen! – Dann fühlte er die Erlösung des Fallens.

Aber dann klatschte sein Gesicht, seine Brust auf harte Wasserfläche, er versank, schlug mit den Armen um sich, entsetzliche weiche Bänder umschlangen ihm Hals und Gesicht, er war am Ersticken, gurgelte, schluckte, Wasser drang in gräßlichem Strom in seinen Mund, er bohrte in Todesangst den Kopf nach oben, da war Luft, er gurgelte, atmete, spie und rülpste Wasser aus, versank wieder, stieß mit den Füßen, riß sie aus Umstrickendem los, warf die Arme auseinander und merkte plötzlich, daß er schwamm.

Nasses Haar hing ihm in die Augen und verwirrte sie; indem er es wegstreifte, machte ein riesiger Kanonenschlag sein Herz zusammenzucken, dann – zischend und johlend schoß eine blendend weiße Kurve in die Nacht hinauf, heulte ganz rasend, eine Bestie, die sich vor Wut schüttelte, zerfiel aber plötzlich in eitel staunenswerte Sanftmut vieler blauer Kugeln und silberner, blendend hell strahlender Sterne, ein wundersamer Regen –, jedoch da stürzte sich wieder ein fürchterliches Winseln und Jaulen, ein lang hintanzendes satanisches Hu – ih – ih – ih! in die Lüfte empor, es prasselte plötzlich überall, rote Streifen kreuzten sich emporschießend, es knatterte, rauschte, fegte, drei – unzählbare Feuerbögen jagten gegeneinander, rote Kugeln, goldflimmernde Sterne regneten von oben, es war blendend hell, da setzte eine riesige, von Golde brennende Sonne vor seinen Augen sich in Bewegung, Goldgarben aus ihren Rändern schleudernd, eine Feuergarbe nach oben, nach unten, nach rechts, nach links ausstoßend, Georg schwamm, richtete sich auf im Schwimmen, grunzte und schrie: »Mit Feuerwerk – woll'n wir zugrunde gehn!« und schwamm, während das ganze Ufer hinunter die Raketen sich höllisch bekämpften, Sonnen über Sonnen sprühend, sausend und brausend entfesselt wurden, über finstere Baumkugeln gewaltige rote Wolken von unten nach oben wogten, in denen die Laubkugeln rötlich leuchteten; dazwischen huschten schwarze Gestalten, die Nacht war tageshell, das grüne Wasser lag deutlich vor Georg mit großen Flecken wie Morast in dem starken Licht, aber als das grenzenlose Toben, Zerstieben von Silberbüscheln, Heulen der Flammenbögen und das besessene sich Herumwirbeln der Garbensonnen nicht enden wollte, ermattete er jählings, gewann mit zerfallenden Armen ein Ufer, kroch die Böschung triefend, schaudernd und frierend hinauf, lag eine Weile keuchend, zuckte, schluchzte und wünschte, tot zu sein. Er schleppte sich höher empor, stand; eine Feuersonne vor ihm – ihr weißer Mast, an dem sie schwebte, war hell zu sehn – drehte sich langsamer, spie schnaufend ihre letzten zwei Garben nach unten, stand still und regnete aus. Georg ging besinnungslos auf die dunkle Stelle zu, jemand rannte gegen seine Schulter und fluchte, eine dunkle Gestalt huschte vor ihm ins Dunkel mit einem Stabe, dessen Spitze brannte, gleich darauf riß ein zischendes silberweißes Band sich aus dem Grase und wand sich mit ungeheurer Schnelle in den Himmel hinein. Georg taumelte weiter, kam an eine Hecke, wankte an ihr hinunter, brach durch eine Lücke, hörte das Feuergetöse gedämpfter hinter sich und ging, bei jedem Schritt vornüber fallend, hustend und von Frost geschüttelt weiter und weiter, stand endlich still und sah in der Dunkelheit rechts vor sich schweigend und gewaltig einen schwarzen Fabrikschlot himmelhoch vor sich stehn und auf ihn hinunterblicken. Irgendeine Bekanntschaft dieses Ungetüms veranlaßte Georg, die dämmrig sichtbare Straße zur Linken hinunterzugehn, er ging und ging, fiel vor Müdigkeit gegen Bäume oder Pfosten im Weg, machte nur von Zeit zu Zeit die Augen auf, um zu sehn, wo er war, und flüsterte sich unaufhörlich zu: Fort, nur fort, ach nur fort! nur fort! – Sinnlose Angst trieb ihn weiter und weiter, auf einmal sah er, die Augenlider schwer aufreißend, seltsam die Hinterfront des Schlößchens, die er erkannte, ganz nah zu seiner Linken, er ging draufzu, der Boden wich, er stolperte bergauf und bergunter, fiel, stand wieder auf und fiel wieder und stand wieder auf, und war plötzlich vor einer Mauer. Er ging daran hinunter, sie wurde von einem Gitter fortgesetzt, er begriff, daß er hinüber mußte, und plötzlich lag er drüben an der Erde mit schmerzenden Gliedern. Nun an Gebüschen hinunter streifend, fand er die kleine Brücke, ging hinüber und befand sich gleich darauf in einem Zimmer, das er gut kannte. Die Angst hetzte ihn weiter, ich will nur noch – dachte er, – er wußte nicht was, schlich mühselig ins nächste Zimmer, hindurch und durch noch eines und fiel gegen etwas weiches Dehnbares. Das Bett … flüsterte er, er sank zu Boden, rollte um, sein Kopf füllte sich mit Feuer, er lag und zuckte.

Jählings fuhr er auf, da er Stimmgewirr und Schritte vernahm. Er kniete und richtete sich auf, erkannte im Halbdunkel den Raum, die Fenster, ging auf eines zu, streifte den Vorhang seitwärts, hakte den Riegel auf und stieg über die Brüstung ins Freie. Draußen stand er zitternd und todmüde, schlich ins Gebüsch, entsetzte sich vor einer Helle, die von der linken Seite über ihn fiel, sah all seine Fenster hell werden, sprang ins Dickicht und schlug sich durchs Gezweige weiter, bis er ins Freie und Dunkle kam. Der Stall … flüsterte er, schlich über den Hof, hakte die Tür auf und atmete unsäglich dankbar den Geruch des Pferdes. Dann wurde es Nacht um ihn.


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