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Sechstes Kapitel: Januar

Cornelia an Georg

Zürich, am 11. Jan.

Mein Lieber, Du hast mir verboten, zu schreiben, aber ich muß Dir doch sagen, daß meine Rückkehr sich noch verzögert. Die Operation ist überstanden, aber es sind im Zustand des Kranken Verwickelungen eingetreten, die mich noch bei ihm festhalten. Ich bin furchtbar unglücklich darüber, nicht nur meine Liebe, auch Angst und Sorge ziehn mich ja unaufhörlich zu Dir, aber – was bin ich Dir, und ihm hier bin ich das Einzige! Nimm dies und die innigsten, liebendsten Grüße Deiner

Cornelia

Georg an Magda

Auf meiner Insel, am 20. I.

Dieser Brief wird in meinem Schreibbüro gefunden werden, wenn das Wenige vorüber ist, das hier »alles« genannt wird.

Nun kann ich nicht mehr. Ich bin leer, es drückt meine Wände ein. Ich bin so furchtbar müde, daß es keinen Schlaf mehr für mich giebt als einen, nach dem ich mich sehne wie ein Kind. Mitunter fühle ich meinen Körper schlummern, aber die Seele löst es nur in einen rauchenden Wirbel auf. Dann ist immer der gleiche Traum, daß ich Sindbad bin. Die Beine jenes bösen Geistes, den er auf seiner Insel schleppen mußte, liegen um meinen Hals geschlungen, sie würgen mich, und ich lauere darauf, daß der Alte einschläft und ich mich losmachen kann, und er belauert mich. Wenn ich dann erwache, so weiß ich, daß er nicht schläft, ehe ich selber schlafe.

Laß mich schlafen, Magda, tue das Eine mir nicht an und halte mich nicht für feige! Vielleicht könnte ich leben in einer Einsamkeit, unbeachtet, mit diesem und jenem Menschen, verantwortlich allein mir selber. Es ist aber all die Zeit während der letzten Jahre mein mehr oder minder bewußtes Streben gewesen, den Punkt zu erreichen – wo dann alles unter mir brach –, den Augenblick, wo ich an die Spitze eines Reiches trat. Dies habe ich gewollt und habe es erreicht, auf Kosten all dessen, was ich jetzt schleppe, und auf Kosten all Derer, die mit mir mein Leben ausmachten. Mein Recht auf sie verlor ich durch Schuld, aber es hieße sie selber ausblasen wie ein Licht, wollte ich heute verzichten und mich in mich selber zurückziehn. Entweder der Staat oder nichts. Zum Entweder jedoch gehört eine Verantwortung, die ich nicht auf mich nehmen kann. Tag für Tag wächst allein die alte Einsicht neu: Du kommst nicht hinein. Zu den handelnden Menschen, in ihre Gewohnheiten treten und selber doch frei sein vom Zwang des Gewohnten: dazu finde ich keine Möglichkeit, und ohne sie die Verantwortung einer solchen Stellung auf mich zu nehmen, das bringe ich nicht mehr fertig.

Um die Erde ist Nacht. Ich stand auf der Plattform im Frost und im Schwarzen, im uralten Donner der Freundin, der See, und ich sah im Nächtigen rote Punkte, die Lichter fahrender Schiffe, sah sie aufglühn und wieder erlöschen. Eine Flamme, die mir frei und golden schien, hat sich zum letzten glimmenden Punkt zusammengezogen. Möchte der Flügelschlag, der sie verlöscht, der des Gedankens sein, daß Du die geschwundene nur aus den Augen verlierst und nicht aus dem Herzen!

Noch ist eine Spur von Kraft in mir. Sie mag Tage reichen oder Wochen, ich verspreche Dir, daß kein Ende sein wird, ehe ich nicht den letzten Rest von mir verbraucht habe.

Dann glaube mir, daß ich erleichtert wurde, und traure mir nicht nach!

Lebe wohl!

Georg

Georg an Benno

Auf meiner Insel, am 24. I.

Mein Freund:

Du wirst wissen, daß ich hier aus Staatsraison einen Begleiter habe, einen Infanteriehauptmann namens Rieferling, Johannes. Nachdem ich mehrere Wochen in wenn auch nicht eben nahem Umgang mit ihm gestanden hatte, ohne mich um sein Inneres zu bekümmern, machte ich mir Gewissensbisse und begann, ihn Einiges nach seinem Leben zu fragen, infolge seines ernsten Wesens in der fast sicheren Vermutung, auf etwas zu stoßen, das ihm die Einsamkeit hier aus ähnlichen Gründen wie mir nicht beklagenswert erscheinen läßt. Aber nichts dergleichen. Er hatte kaum etwas zu berichten. Seine Eltern haben ein kleines Gut in den Ostseeprovinzen, haben viele Kinder, in deren Reihe er irgendwo in der Mitte steht, alles ist gesund, er hat stets nur zum Soldatenstand Lust gehabt, mußte freilich ein bescheidenes Leben führen, hat aber außer seinem Beruf nie Bedürfnisse gehabt, verließ die Kriegsakademie mit den höchsten Auszeichnungen, hat nach wie vor keine Wünsche, als einmal nach Italien zu reisen, und bedauert nur, daß der nächste Krieg eher da sein wird als für ihn das Bataillon, aber ich hoffe, für diesen absurden Fall, wenn er eintreten sollte, noch Vorsorge treffen zu können. Hier arbeitet er den ganzen Tag, kümmert sich den Teufel um die See und liest jeden Abend ein Kapitel im Neuen Testament.

Möchte man auch so sein, Benno? Wie geht so ein Leben weiter? Entweder in den vorgeschriebenen Bahnen, und er endet einmal als Generalinspekteur eines Armeekorps, die Brust voller Orden, oder der nächste Krieg kommt wirklich, und ist er noch nicht im Generalstab gelandet, so führt er seine Kompagnie zu einem glänzenden Sturmangriff, erhält das eiserne Kreuz, und ein paar Tage oder ein paar Wochen später legt ihn eine sanfte Kugel von Gottweißwo her schmerzlos und ruhig auf den Rasen. Der Leutnant sagt: Die Kompagnie hört auf mein Kommando! und an der Stelle, die er ausfüllte, steht ein Andrer, der sie gerad so ausfüllt.

Indem ich noch dies bedachte, erinnerte ich mich Deiner und merkte dabei, daß meine Gewissensbisse in Wahrheit mit der Erscheinung des Hauptmanns nur eine Verbindung zweiten Grades gehabt hatten, und eigentlich meinte ich Dich.

Solange wir zusammen unseres Weges gingen, warst Du der Sorgenvollere, aber wie war damals zwischen uns alles einfach! Wir waren Freunde, und was das Herz beschweren mochte, sagte sich leicht. Nicht verfiel der Eine in Schweigen, so daß der Andre erst viel sich bekümmern mußte und endlich fragen. Wie es mit Dir jetzt steht, ahne ich nicht, aber ich glaube, daß nicht nur meine Bürde mit der Zeit zugenommen hat, und nun sind wir jeder allein. Freilich, die meine ist von der Art, die schweigsam und einsam macht. Aber die Deine, Benno, wie ists mit der Deinen?

Lieber Freund, dies ist eine Frage, die leider nicht mehr auf Antwort warten kann, wie Du sehn wirst, wenn Du sie vor Augen hast, so eine besondre Art von rhetorischer Frage, siehst Du. Nun ists zu spät; zu spät auch, festzustellen, was mich eben bewegt, nämlich, ob wir schon damals, vor die Entscheidung gestellt, unsre Neigung für ein ungemeines Leben durch den Entschluß bekräftigt hätten, den Weg, den es uns führen würde, bis zum bittersten Ende zu gehn. Ich kann nur hoffen, daß ich mich entschlossen hätte. Es ist, wie gesagt, zu spät, und für mich ists schon viel, daß ich aus dem Brande, in dem ich nun seit ungezählten Tagen herumjage, auf der Suche nach einem Ausgang außer dem, der mir sichtbar ist, daß ich noch einmal mit der Hand herauswinken kann. In der Ahnung, es müsse auch ein Wimpel noch irgendwo liegen, mit dem zu winken wäre, fand ich ein Gedicht unter meinen alten, das ich einmal im Gedanken an Dich schrieb und Dir damals nicht in alltäglicher Stunde geben wollte. Die heutige dürfte ungemein genug dazu sein.

Abschied nehmen bei einem Fortgang wie dem mir nahe bevorstehenden, scheint mir wenig passend; ein Wort aber dürfte schicklich sein, und ich bin in Höflichkeit geboren und erzogen, so daß es mir kaum weniger passend erschiene, wortlos zu gehn.

Darum wünsche ich Dir eins: Wenn Du einmal in Not sein solltest, in einer äußersten Not, ein gefangenes Tier, das in Herzensqual nichts mehr weiß als zu laufen, zu rennen, auf und ab, oder im Kreis, winselnden Herzens mit rasenden Füßen um den verglimmenden Rest Deiner Welt, Tage und Nächte: dann wünsche ich Dir die eine Stunde Schlaf, nach der ich durste, und die, wie es scheint, nicht für mich bestimmt ist. Dann trinke Dich satt an ihr und gedenke Deines Freundes

Georg

Das Schweigen

Gingst du je beladen, ein Mensch, und suchtest
Eines Bruders, einer Schwester Schoß,
Auszuruhen, das stet und steil
Aufwärtsragte, das überbürdete Haupt?

Und vom Schweigen, im Lärm deine einzige Wehr,
Ach, vom Schweigen, der Lippen brennendem Siegel,
Einmal zu erlösen sehnsüchtiger Lippen Dürre
An kühlen Quellen, an geliebtem Mund?

Suchtest du lang, und sank nicht der Tag, ach sanken
Viele nicht? Doch als eines Abends dein Blut
Müde verging in die ruhige Röte und Nacht,
Fandest auch du; und immer gefaltete Hände
Lösten sich still, geliebter Geschwister gewiß.

Zuckte die Lippe auch schon? und ging euer Atem
Schwer von Verlangen inbrünstigen Worten vorauf?
Aber ihr schwiegt. Durch Stummheit, die sternhelle, gingen
Aller Fülle beglänzte Ströme
Lautlos, selig, zwischen euch hin und her.

Hallig Hooge

Es war ganz dunkel.

Georg saß, die Hände auf den Knäufen der Stuhllehnen, ein wenig vorgebeugt, als ob er lausche. Der Armsessel stand an der Wand. Nichts bewegte sich. Es war still.

Als Georg merkte, daß er horchte, wußte er, daß unendliche Zeit vergangen war, während er so gesessen hatte. Während dieser Zeit mußte der Rest abgelaufen sein. Nun war nichts mehr.

Vor seinen Augen war das Zimmer dämmrig, obgleich die tiefe Nachtschwärze in den Rechtecken der Fenster stand. Das Schreibbüro war deutlich erkennbar, die weiße Kuppel der Lampe, die Umrisse des runden Tisches in der Mitte des Raums, die Lehnen der Stühle, schattenhaft alles.

Und was war dies mit der See? Still, kein Laut. Georg erinnerte sich, daß es mitten im Winter war. Vielleicht war die See zugefroren.

Er fuhr sich unbewußt mit der Hand über die Stirn.

Ja, sagte er halblaut. Ja, dann ist es wohl so weit …

Er lehnte die linke Schläfe gegen die rauhe Wange des Stuhls, plötzlich zitternd vor Müdigkeit, und so saß er eine lange Weile, ohne Widerstand gegen das immer wieder losrieselnde Zittern. Langsam verging es. Auf einmal flatterte seine linke Hand heftig. Dann war alles still.

So wirds gut sein, dachte er dankbar. So – immer tiefer … immer tiefer … dann ein kleiner Ruck, – alles steht.

Aber ich schlafe ja vorher ein! schrak er auf und lächelte.

Also … ist noch etwas? dachte er mühsam. Abschied? Von wem?

Ein Schatten kam um den Tisch, die Seele Cornelias blickte traurig zu ihm hin. Sie dauerte ihn. Hoffentlich, dachte er, findet sie sich mit dem Andern besser zurecht. Bei mir hatte sie, glaub ich, zu wenig zu tun.

Ach, ich werde schlafen! fiel ihm da ein, und das Dunkel verklärte sich. Ach, oh, ich werde schlafen!

Er rückte mit dem Oberleib vor im Stuhl und stand auf, ging zum Sekretär, zog die bestimmte Lade hintastend auf, nahm den Kasten heraus, öffnete die Verschlüsse, und weil ihm die Finger bebten, mußte er an einen Morphinisten denken, der seine Spritze auspackt. In dem heller grauen Rechteck von Samt lag das dunkle Instrument, erkennbar und wohlbekannt, anders als alle Gebrauchsdinge, eigentlich aber ohne Zusammenhang mit seinem Sinn. Wenn man es in gewisser Weise handhabte, war die Folge der Tod, und doch stellt man sich Töten gemeinhin anders vor.

Er bemühte sich nun eine ganze Weile krampfhaft, etwas zu denken, aber nichts kam zum Vorschein. Keine Menschen, keine Erinnerung, auch keine Schuld, so fest er sich an das Wort klammerte. Nur ein Gähnen überfiel ihn bald, das kein Ende nehmen wollte. Als es schließlich vorüber war, bemerkte er, daß er die Uhr gezogen hatte. Ja, ich will doch sehn, wie spät es ist, fiel ihm ein; er klappte den Deckel auf und starrte auf die kleine, bleiche Kreisfläche, bis die Zeiger hervor kamen. Sie standen auf ein Viertel nach Sieben. Er hielt die Uhr ans Ohr, allein sie tickte vernehmlich, und nun zerbrach er sich lange den Kopf, um herauszubekommen, ob Morgen oder Abend sei, aber umsonst. Er trat ans nächste Fenster und blickte hinaus. Draußen war ein grauer Schein. Von den Sternen, deren abendliche Stellungen ihm bekannt waren, fand er nicht einen.

Übrigens – dachte er – eine sonderbare Stunde, aus dem Leben zu gehn: ein Viertel nach Sieben. Ich glaube, gemeinhin tun es die Leute zwischen drei und fünf Uhr morgens.

Aber immer war da noch ein Hindernis, unerkennbar, aber es war. Da er seinen Kopf heiß und dumpf empfand, beschloß er, vor die Tür zu treten und noch einmal nach dem Meer auszusehn.

Draußen stehend mit einer übergangslosen Schnelligkeit – er dachte, das ist wie im Traum! – staunte er, wie milde die Luft war. Feuchter Dunst berührte seine Stirn. Ach, dachte er, heute ist wohl dieser Tag im Januar, wo der Frühling sich im Schlaf umdrehn soll und seufzen. – Dann ging er in schräger Linie über den Deich bis an den Rand.

Das Wasser in hoher Flut stand bis an den Fuß der Mauersteile unten, stand, dunkel, ohne jede Bewegung. Unsichtbar regte sich dann ein Laut, etwas klatschte leise an. Jetzt ein andrer Ton, näher … Etwas glänzte zu Georgs Füßen, so sehr einem Aufblick ähnlich, daß es ihn rührte. Nun war alles wieder still.

Wie geräuschlos sie kommen kann! dachte er, die Riesige, leiser als ein Mensch! Erstes Staunen der Kindheit, – da liegt sie nun, unsichtbar. Er starrte in die Finsternis vor ihm, die er meilenweit ohne Grenzen wußte, und die schweigsamen Gewässer hauchten ihn mit dem Odem ihres übergroßen Wesens an. Ein wenig höher, wo der Nachthimmel war, bewegte sich etwas quellendes Licht, gelblich, weißlich, und seltsam erschien der Umriß eines Berges.

Plötzlich rührte das Geheimnis der Erde an seine Brust; er mußte den Kopf senken vor dieser Stille und Feierlichkeit, Scham erfüllte ihn, auf einmal bog sich sein Knie, er legte die Hände zusammen, kniete und sagte, die Worte im Munde zerdrückend, zur Erde:

»Vergieb mir! Ich bin sehr arm. Meine Augen wollen nicht mehr. Ich will fort …«

Gras um ihn her wehte im Dunkel. Es überlief ihn glühend.

»Und ich danke auch«, sagte er. »Dank für alles! Du bist gut und schön. Deine Abende und dein Frühling, die Amsel und alldas.«

»Viel gelitten,« sagte er plötzlich, »viel gelitten …«

Er stand hastig auf und wollte fortgehn. Da spaltete es ihn wie ein Schwert, ein grenzenloser Jammer, und er schrie in seiner Verlassenheit ganz laut: »Mein Vater ist tot! oh Gott, mein Vater ist tot!«

Schwer und gelassen bejahend klatschte eine Welle am Deichfuße hin; Georg ging mit leisen Schritten zum Turm zurück, schloß die Tür, ging zum Schreibbüro und mit der Waffe in der Hand zum Stuhl, wo er sich in die linke Ecke lehnte.

Die Augen schließend, gewahrte er plötzlich einen Lichtschein hinter den Lidern, hob sie wiederum und sah erstaunt, daß die Lampe brannte. – Was ist denn das? dachte er, wer hat denn die Lampe angesteckt? Einen Augenblick durchrann ihn sonderbar das Gefühl, die Lampe habe sich selbst entzündet, um ihn zu verhindern. – Mag sie brennen! dachte er dann, aber nun quälte es ihn, daß dies Licht im Zimmer sein sollte, wenn er nicht mehr darin war, und auch, daß er nicht wußte, wann er sie angezündet hatte. So erhob er sich wieder, ging hin zu ihr und bemerkte, daß auf der Schreibunterlage ein Papier lag, auf dem das Wort: Mutlos stand, quer durchstrichen, worauf ihm denn einfiel, daß er das vorhin geschrieben hatte und dazu wohl die Lampe entzündet haben mußte. Es sollte ein Gedicht werden, ja, das letzte, er erinnerte sich einmal gelesen zu haben, daß man sein ganzes Leben nur ein einziges Gedicht machen sollte, vorm Tode, das würde dann außerordentlich werden. Es war aber nichts geworden, und ich, fiel ihm ein, ich habe ja auch schon früher eine Menge Gedichte gemacht. – Er knüllte das Blatt zusammen, aber, da er bedenken mußte, daß es später gefunden werden könne, zog er es wieder auseinander, hielt eine Ecke über den Zylinder der Lampe und wartete, bis es Feuer fing. Eine blaue Flamme leckte daran hoch, plötzlich lohte es zu einem mächtigen, roten Scheinen auf, in dem er geblendet das ganze Achteck des Raums taghell bis zu den Gesichtern der Planetengötter unter der Decke erkannte. Dann warf ers an die Erde, mit der sinkenden Flamme sackten schwere Schatten rundum, der einer Stuhllehne reckte sich noch einmal hochauf an der Wand, langsam verflackerte die Lohe, ward es dunkler; endlich Nacht und am Boden ein paar rote Funken.

Nun noch die Lampe. Er löschte sie hastig, lief fast auf seinen Stuhl zu, setzte sich wie zuvor, drückte die linke Schläfe an, und die Müdigkeit überströmte ihn, daß es ihn schauderte vor Wollust des nahen Schlafs. Prickeln bedeckte seinen ganzen Leib, er sank schlaff zusammen, bewegte die rechte Hand, um die Waffe zu fühlen, und lächelte. Von fern zog Musik in ihn ein, es brauste melodisch. Er hob langsam die Hand, er gähnte ein wenig, drückte sich fester an, – nun kam die letzte, große Woge, das Dunkel …

Seine Hand glitt neben den Schenkel zurück. Cornelia erschien plötzlich im Zimmer, dann andre Gestalten; sie beschäftigten sich im Halbdunkel, er wollte zu ihnen, vermochte es nicht, und unter einem rieselnden Klingen wurden sie ferner und ferner …

Georg schlief.

*

Georg schlug die Augen auf. Eine tiefe, aber erleuchtete Dämmerung füllte den Raum mit Wärme und Sanftmut. Auf der Platte des Schreibbüros brannte die Lampe, so daß in ihrem Licht die kleinen Schubladen mit ihren Messingknöpfen, die geschnitzten Säulen und die Treppe aus farbigen Hölzern in der Mittelnische hell und freundlich sich zeigten; aber unter die weiße, mild leuchtende Kuppel war ein Stück Papier in den Ring geklemmt, das, ein rechteckiger Schatten vor dem Licht, herunterhing und den Raum mit Dunkelheit füllte. Dies war so erstaunlich schön anzusehn und von solchem Frieden, daß Georg lange Zeit die Augen nicht davon abwenden konnte.

Er erschrak dann leise, als er entdeckte, daß er nicht allein war: im Schatten, rechts neben der Platte des Büros war ein sitzender Mensch; er schien die Beine übereinander gelegt zu haben und hielt den Kopf in die Hand gestützt.

Und sieh! – das Grauen, ohne doch schrecklich zu sein, vertiefte sich in Georg – der ganze Raum war ja voller Menschen! Ganz still waren sie da, ohne Laut noch Bewegung. Wer waren die?

Grade ihm gegenüber hinter dem dunklen, runden Tisch saß eine weibliche Gestalt; ihre bloßen Unterarme lagen flach auf der Tischdecke mit gefalteten Händen; den Kopf hielt sie so tief gesenkt, als ob sie schlafe oder bete, und Georg gewahrte deutlich die stille und lichte Furche ihres Scheitels in den leise glänzenden Wellen des Haars. Sie schien ihm nicht unbekannt.

Hinter ihr, weiter zurück an der Wand, ganz im Schatten stand ein Mann, den Kopf geneigt, die Stirn in der linken Hand, als ob er sehr tief nachdenke.

Als aber Georg die Augen weiter nach rechts hin bewegte, leuchtete es ihm von der Türe her strahlend blau entgegen, und äußerst betroffen von Verwunderung erkannte er in diesem Blauen die seidene Jacke eines Chinesen, der dort stand wie in einer tiefen Verneigung; ja, es war Georg, als habe er diese Bewegung schnell noch ausgeführt, bevor seine Augen dorthin gelangt waren. Ein großer, grün und golden feuriger Drache glänzte aus dem Himmelblau der Brust.

Dies alles begriff Georg so wenig wie seinen eigenen Zustand, der ihm zauberhaft deuchte. Sein Körper war ihm so leicht, daß er ihn kaum fühlte, die Seele so frisch und kühl, daß er kaum Atem zu holen wagte, aus Furcht, diese Frische und Kühle könne abfallen wie lockerer Schnee. Hoch über ihm sang die zarte Stimme des Schweigens, lieblich und wie ein ferner Choral. Über alles Begreifen feierlich schien dies. Augenscheinlich ein Traum.

Warum saßen und standen diese hier? Hatten sie auf sein Erwachen gewartet? Oder – plötzlich graut' es ihn dennoch – war er vielleicht doch tot, und hier war nur seine Seele, die ohne es zu wissen gewandert und in dies Zimmer zu Fremden gelangt war, die gar nicht ahnten, daß er zugegen war? Die vielleicht um einen andern Toten trauerten? Oder um ihn? – Allein – dies war sein Zimmer; im Turm, – Hallig Hooge fiel ihm ein und alles andre.

Und jetzt auf einmal bemerkte er mitten auf der dunklen Decke des Tisches einen schwärzlichen Gegenstand, in dem er sogleich seine Pistole erkannte. Und gleich auch, mit einer traumhaften Klarheit, wußte er, um was es hier ging.

Er hier, er hatte über sich selbst ein Urteil gefällt, eigener Kläger und Richter. Da es sich aber um eine Versündigung gegen Menschen handelte, gegen Andre, so konnten auch nur Menschen, nur Andre über ihn urteilen und richten. Und zu diesem Zweck waren diese stillen Fremden nun da.

In diesem Augenblick hob die weibliche Gestalt hinter dem Tisch das Gesicht, und er erkannte mit heller Freude Magda, die ihn anzusehn schien. Ach ja, daß sie blind war, hatte er nur geträumt.

Indem richtete auch der neben dem Schreibbüro sich auf, und es zeigten sich Jasons Züge und schwarze Augen.

Der hinter Magda stand, ließ die Hand sinken; es war der Hauptmann.

Bewegung, so leise sie war, rieselte umher, und gleich darauf wurde Magdas Stimme hörbar, klar, aber gedämpft: »Ist er erwacht?«

»Erwacht«, sagte Jason. »Er wird gleich sprechen. Wir wollen guten Abend sagen, – oder gute Nacht.«

Georg sagte leise: »Schön, daß ihr da seid! Wie kamt ihr hierher?«

»Wie alle Reisenden,« versetzte Jason, »über das Meer. Über seine beruhigten Flächen sind wir geritten auf schönen Delphinen mit Augen gleich Sternen, die blickten und schienen, dieweil sie glitten. Ihre Schwanzflossen, gebildet wie Leiern, klangen lieblich zu unserer Fahrt. Aber dies ist zu zart, um es ganz zu entschleiern.«

»Ich glaubte, daß ihr Träume wart«, sagte Georg.

»Glaube, wir sind es! – Wir kamen kraft eines geistigen Windes, jeder ein Traum, und aus Traum ist der Raum, wo wir weilen.«

»Und warum kamt ihr?«

»Um zu heilen.«

»Und wie könnt ihr?«

»Du mußt dich mitteilen. Aber erst höre, wie dies sich begab. Wir stiegen an deinem Ufer ab, hier ich, die Freundin, die du lange kennst, und dieser Diener aus dem Reich der Mitte. Hier der Notwendige, wie du ihn nanntest, führt' uns zu dir, wir pochten, aber du gabst keine Antwort. Schliefst du schon? es war erst Abend, aber deine Fenster dunkel. Wir traten ein, und einer machte Licht. Da sahn wir gleich dein schlummerndes Gesicht in einem Schlaf, wie wir noch nicht gesehen. Wir konnten sprechen, sitzen oder gehen, du aber schliefst und wußtest von uns nicht. Am Abend hatten wir uns eingefunden. Nun ist es tiefe Nacht, du schläfst seit Stunden, du schliefst dich glühend an und wieder kühl; es wurde sanft in dir, und dein Gefühl, das schmerzliche, stieg auf wie Wasserblasen zu deinem Antlitz, wo sie sprangen zart in lauter Lächeln. Was einst Qual und Rasen gewesen, schreckenvoll mit Nacht geschart, verwandelte sich in der Schlafmagie. Nun deine letzten Träume, siehe sie um dich versammelt, da du nun genesen! Die Freundin still und ernst, stumm den Vasall, und mich, in Händen klar den Sprachkristall, und bunt und immer lächelnd den Chinesen …«

»Aber Jason, mir scheint, dies war schon einmal, nur nicht so wunderbar und –«

»Das sind die Femrichter gewesen. Jenes war Mummenschanz, dieses ist wahr.«

»Soll ich nun sprechen?«

»Wenn du es willst. Wenn es zerbrechbar ist, sollst du es brechen, wenn es dir stillbar ist, daß du es stillst. Zwar ist der Teufel gemeinhin im Zweiten …«

»Wie soll ichs verstehn?«

»Beizeiten! Laß sehn: Was du allein weißt – nicht wahr? – das ist gut. – Gut ist es und echt. Weiß es ein Zweiter mit dir, ist es schlecht, – dieweilen es heißt: sein Haben mitteilen. Teilst du aber dein Wissen mit Reden, so wird es zerrissen, was bleibt für jeden? Die Hälfte, nicht wahr? Und teilst du's mit Dreien, teilst es mit Vieren, mit Hunderten gar, so wirst du's verlieren, und keiner hat was. Darum sagt der Chinese vom Tao: Tao zu lehren, ist verwehrt. Tao gelehrt, hieße Tao geteilt, aber Tao ist das Eine. Darum ist Lao-Tse, der Reine, in die Verborgenheit gegangen. Nur im Verborgenen konnt er empfangen – den Zweiten, der mit ihm die Einheit sei.«

»Was heißt das? verzeih!«

»Gott ist immer der Zweite in Wahrheit. Was du allein besitzest in Klarheit, das hast du mit ihm. Jedes Ding ist ein Seraphim zwischen Gotte und dir. Seine Schwingen nach dort und hier aufgespannt, bilden die Brücke von dir zu dem Zweiten. Da doch alles nach allen Seiten unendlich ist, was könntest du halten, hielte das andere Ende nicht Er? Aber gestützt auf diese Gewalten, auf Gott und auf dich, wird es keiner zerschlagen und hat es die Kraft, die Erde zu tragen. Ein solches Ding, so zauberhaft, ist das Gebet, ein solches ist die Tat, die gut geschah, und jedes gute Wissen auch. Wenn du es aber teilst mit einem Dritten, so wird auch Gott – vergänglich ist sein Hauch, im Maß wie du vergänglich bist – zerschnitten. Er wird gevierteilt und getausendteilt. Christus war gut, war Gott ganz zugeheilt. Er war mit Gott, doch Paulus war schon schlecht, da er mit Christus war und Christi Knecht. Wissen, Habe, Kraft und Lehre, sei es rein und ganz vollkommen, giebs an Menschen, so wards Schwere und die Reinheit schon genommen. – Bleibe mit Gotte allein!«

»Und gäb es kein Mittel, ihn zu halten?«

»Dreieinigkeit giebt es. Es giebt das Falten der beiden Hände zum Gebet, auf deren Brückenjoch die Gottheit steht. So falte dich mit einem Andern fest. Daß nur keiner sich wanken läßt und niemals erschlafft! Euch zu halten, die Kraft ohne Gott: Gottheit erschafft. Sie wird Liebe genannt. Sie ist so bewandt, daß sie Gott teilen kann ohne Grenzen und ihn aus sich selbst ergänzen. Liebe kann ihn vielmals teilen und wieder erhalten. Nur hütet euch vor dem Erkalten, und daß kein Teil verloren geht, und daß nicht Einer den Andern von euch einen Augenblick nur und nur um ein Gran – weniger liebe, – so bleibt Gott vollkommen, und die Liebe vollkommen, und ihr selber vollkommen.«

»Ach, was ist vollkommen?«

»In Nachtgewalten – In Taggewittern – Sich süß erhalten – sich nicht verbittern!« – –

Eine Weile herrschte das tiefe Schweigen. Leiser dann fuhr Jasons Stimme fort:

»Vollkommen war Renate, denn sie liebte. Nun ist sie die Verstörte und Betrübte; sie geht umher und kennt sich selbst nicht mehr. Sie ist geteilt in Leib und Seele, beide sind da und dort, dazwischen blitzt die Schneide; es ward die Gnade Sprache ihr genommen, sie ist verwaist und arm und unvollkommen, und ihre Augen sind wie Fenster leer. Sie fürchtet sich, sie weicht den Menschen aus. Sie sitzt im Zimmer, das Gesicht in Händen, sie schleicht sich manchmal in das Treppenhaus und tastet sich durch Zimmer an den Wänden. Gesichter kann sie nicht ertragen, sie stößt Geschrei aus wie ein Tier und läuft von hinnen. Sie war vollkommen; nun ist sie von Sinnen, und keiner weiß, wie man sie wohl erlöst.«

*

Georg hatte plötzlich die Empfindung, als sei das Licht dunkler geworden oder matter. Wollte die Lampe erlöschen? Waren seine Augen trüber geworden? Ach nein, in ihm war etwas Schmerzendes, und das gab einen Druck auf seine Sehkraft. Renate? Was war mit Renate?

»Ich verstehe nicht!« stieß er hervor. »Was ist mit Renate?«

Jason schwieg. Georg sah, daß Magda das Gesicht in die Hände gelegt hatte. Danach sah er den Hauptmann, sah Jason und den Chinesen, der übrigens, wie er jetzt erkannte, zwar anhielt, chinesenhaft zu lächeln, aber zwei völlig europäische, ja erstaunlich runde und braune Augen hatte, glänzend wie Kastanien. Obgleich aber so alles umher natürlich geworden schien, eines Glanzes entkleidet, so fühlte er es doch nicht minder ernst, nicht minder tief. Es war nur verdunkelt; es ward traurig.

Die Hände fallen lassend, das Gesicht schmerzlich aufhebend, sagte Magda:

»Es ist, wie Jason erklärte. Sie ist – irr. Ja, sie liebte. Saint-Georges. Ich fand auf ihrem Schreibtisch einen Brief von ihm, in dem stand, daß er sie seit Jahren geliebt hat, und daß es über seine Kraft ging. Nun, da sie ihre Liebe erkannte, war es aus mit der seinen. Ich kam einen Tag später als sie nach Altenrepen zurück, da war sie schon, wie sie jetzt ist. Ihre Zofe hatte sie im Schlafzimmer an der Erde gefunden. Sie scheint sich vor uns Allen zu fürchten. Sie kleidet sich, ißt und schläft, aber sie spricht nicht, und wie es scheint, kann sie es wirklich nicht, denn sie stößt Laute hervor, die –«

Magda schwieg.

»Ich kenne sie ja,« begann sie von neuem, »sie hat eine andre Natur als wir, und alles trifft sie ganz anders als uns. Immer schien sie kühl und beherrscht, und so leicht sie erglühte, war immer die Grenze da. Sie sparte alles auf. Oft hatte sie seltsame Gesichte. Dies Gesicht nun scheint anzuhalten, und – ach, ich habe ja immer gehofft, deshalb schrieb ich auch nie davon. Jetzt, wo so lange Zeit vergangen ist – es kam schon im Oktober –, mag dir das vielleicht sonderbar scheinen, aber die Tage jagten dahin, und an jedem hoffte ich, ich würde morgen erwachen, und alles sei ein Traum. Und ich wollte dich nicht erschrecken, denn –« Magda errötete so tief, daß Georg es erkennen konnte durch die Dämmerung – »du liebst sie doch.«

»Aber nun wollen wir das lassen«, fuhr sie fort. »Ich bin ja gekommen … Lange war ich ganz ruhig um dich, obwohl unsicher, aber was soll ich tun? Ich muß ja nun immer angestoßen werden. Als aber dein Brief kam nach Ulrikas Tod, und der an Benno, den er mir zeigte, – ja seitdem ist meine Angst um dich gestiegen, bis sie mich heute gepackt hat, und hier bin ich nun. Verzeih, daß ich nicht allein blieb mit dir, aber – wir sahn ja, was dir aus der Hand geglitten war, die Andern sahn es, und ich fürchtete mich vor deinem Erwachen …«

Georg hörte die Worte nur von fern, wie zu einem Andern geredet. Er dachte mit einem bittern Schmerzgefühl an Renate, und dann, wie er sich sagte, daß sie stumm sei, nicht reden könne, stieg auf einmal wie ein Springquell in ihm die Sehnsucht nach Worten. Jetzt erst spürte er die ganze Pein des viele Wochen langen Schweigens, und Angst ergriff ihn, daß er hätte sterben können, ohne alles gesagt zu haben. Keiner hätte ihn verstanden, er sah sich selbst, sein Andenken, seine Seele, wie einen ausgegrabenen Torso zwischen ihnen liegen, ein Rätsel, an dem sie deuteten und alles falsch.

Diese Erregung aber senkte sich wieder, und hernach war ihm wunderbar ruhig ums Herz. Er begriff nun diese Magie. Daß diese Menschen in dieser Stunde um ihn waren, das war ihr Zauber, das hatte sie selber so still gemacht, das stieg wie ein friedfertiger Rauch aus ihnen und legte sich um seine Sinne.

Er beugte sich vornüber und verbarg das Gesicht in den Händen. Da erschien ihm schon alles zu Sagende in reinlicher Klarheit und als ob er es besser verstünde als jemals, dazu weder bitter noch schwer, sondern alles mitsamt der Schuld hatte nur sein einfaches Dasein, als ob es nur sich selbst angehörte. Worte zeigten sich schon, so leuchtend in Natürlichkeit, daß er zitterte vor Sehnsucht, sie sprechen zu können.

»Ja, ich will sprechen,« sagte er, »ich will alles sagen, ihr Alle sollt es hören! Ihr werdet Alle sehn, daß ich recht hatte!«

Während dieser Worte gewahrte er, daß es doch wirklich dunkler im Raum geworden war. Jetzt blickte auch Jason in die Lampe und sagte:

»Die Lampe stirbt. Darf ich sie ausmachen?« Und er neigte sich über die Platte zu ihr und drehte sie aus. Es war Nacht.

Georg sprach schon. Er hatte aber kaum die ersten Worte gesagt, als er sie nur noch mit Ohren hörte und wahrnahm, und indem er länger und länger redete, schien es ihm mitunter, als wäre in den Worten gar kein Sinn, als wären sie völlig verwirrt oder eine fremde Sprache, die er im Wahnsinn redete, ohne sie zu verstehn. Wo er begonnen hatte, wußte er nicht mehr, denn alsbald waren ihm ganz ferne Dinge, Bilder, Vorgänge aus seiner Kindheit in solcher Leibhaftigkeit erschienen und in solch einem Leuchten, und wie mit einem Zunicken bekundend, daß sie unendlich wichtig waren und keinesfalls verschwiegen werden durften, – daß er nicht rasch genug seine Schlinge darum werfen konnte, sie zu halten und zu beschreiben. So lange hielten sie geduldig still, dann aber waren sie augenblicks verschwunden ein jedes, und schon stand ein andres da, bereit, sich fangen zu lassen. So sprach er und sprach, es kam vor, daß er sich auf einer riesigen, abschüssigen Bahn zu befinden glaubte, die er mit Sturmeseile hinunterfuhr, spürend, wie die Luft ihn um sauste, oder war es die Zeit? Dann wieder stand alles still, und er glaubte, zu empfinden, daß alles dies in einem Ewigen vor sich ging, und dann sah er die Nacht um sein Haupt und da und dort den Schein eines Gesichts, und er saß hoch über der Welt in einer Versammlung verdunkelter Monde, und sein Leben rauschte in der Tiefe wie ein Strom. Jede Welle aber dieses Stroms hatte ihren Sinn und Bezug und ließ ihn zurück wie einen Bodensatz, – und das war alles Schuld. Nur von einer so ungeheuren Unabänderlichkeit war es jetzt, daß es die Beziehung auf ihn verloren hatte. Einen Augenblick fühlte er dies; da wars leicht. Plötzlich schlug ihn Bangnis an, wenn er zu Ende sein würde, dann wäre alles wie zuvor. In diesem Augenblick merkte er, daß er nichts mehr zu sagen hatte. Er suchte, lange wie ihm schien, aber nichts war da. Er hatte alles ausgeschöpft, und erschöpft saß er selber in dem Dunkel, das die Gewöhnung seiner Augen in graue Dämmerung verwandelt hatte, und sah wieder den bleichen Schein der Lampenkuppel, und den von Jasons Gesicht, von Magda und vom Hauptmann.

Sterbensangst ergriff ihn da. Was war eben gewesen? Was hatte er getan? Was sollte das alles? Ach, es sollte wohl noch das Urteil kommen? Das war ja alles nur Zeitversäumnis. Und nun stand alles noch einmal bevor …

Das reißende Krachen eines Streichholzes ward hörbar, die Flamme zuckte auf und leuchtete, schwer stürzten Schatten in Masse von oben, und neben Magdas von der Seite hell beschienener Gestalt und hinter der des unwandelbar aufrecht stehenden Hauptmanns an der Wand reckten die Schatten sich den obern entgegen. Da war der ganze, düstre Raum, und Jason saß dort und näherte die Zündholzflamme der Siegelkerze im Leuchter, die langsam erglomm. Er blies das Streichholz aus und legte es in die Leuchterschale.

Magda sagte, tief Atem schöpfend:

»Das war dein Leben, Georg … Ich danke dir, daß du so gesprochen hast! Dazu darf ich nichts sagen. Aber – was du in alledem immer wieder erkannt haben willst, das – das ist Wahnsinn, Georg, in dem Maß ist es Wahnsinn!« Sie wandte sich hülflos um. »Sagt es ihm doch, daß es Wahnsinn ist!«

»Warum?« sagte Jason. »Er hat doch recht. Wenn etwas Wahnsinn ist, ist es weniger wirklich darum? Ist der Irrsinn für den Irren das Leben oder nicht? Wahnsinn löscht doch sich selber nicht aus, nur wir sagen immer, wenn wir an Wahnsinn denken: das ist nichts. Auf diese Weise wird ihn wohl keiner überzeugen.«

»Ja, aber Jason …« Magda gab ihn auf, wandte sich wieder zu Georg hinüber und fragte bekümmert: »Was glaubtest du denn, Georg? Wenn all dies wirklich wahr sein sollte, glaubst du denn, daß du es mit dem Tode wieder gutmachen könntest? mit dem Tode?«

»Wenn ich so wahnsinnig wäre, wie du meinst … Im Gegenteil, Magda, im Gegenteil!« rief er gequält, »ich hätte Leben dazu gebraucht, zehn Leben, hundert! Muß ich dir denn erst sagen, daß ich eine Pflicht hier habe? Hast du denn meinen Brief nicht gelesen?«

»Welchen Brief?« fragte sie erschreckt, und nun fiel ihm ein, daß der Brief, den er meinte, noch in seiner Lade lag.

»Keinen Brief!« sagte er ärgerlich, »ich hab mich versprochen. Ja, nun ist alles wieder da, Mißverständnisse und Versprechungen und alles! Wie war denn das damals, Jason, als wir dich aus dem Teich holten? Da warst du höchst ungehalten, dich wiederfinden zu müssen. Kannst du beschwören, Jason, daß dir nicht wohler gewesen wäre, wenn –«

Jason lächelte vor sich hin. – Georg fuhr fort:

»Das ist ja alles gar nicht wahr! Um alldas handelt es sich gar nicht! Alldas war es nicht, sondern es war nur das – das rasende Verlangen, einmal heraus zu sein! Draußen! draußen! versteht denn das auf einmal keiner? Versteht denn keiner, wie bis zum Irrsinn das brennen kann, nicht los von etwas zu kommen, und daß alles zugepicht ist, alles verklebt und vernietet ist mit diesem Leben? Und Tag und Nacht und Woche um Woche kein Aufhören, nicht die kleinste Lücke mehr, und nur noch diese prasselnde Sehnsucht, einmal herauszustürzen aus diesem Leibe, aus diesem Ganzen, und lustig zu sein, darüber und – ein Geist – – und zur Stunde zu sagen: da bist du, und ich bin nicht darin! Es ist ja alles wie Musik so unaufhaltsam und atemlos und – zum Tollwerden, und Bogner hat wieder mal recht! Einmal alles anders sehn können als von innen. Umkrempen sich und in den Winden sein ganz nackt und das Eis am Leibe zu spüren von allen sieben Seiten! Eine Pause, Herrgott, eine Pause! Warum läuft denn der Tertianer, der ein schlechtes Zeugnis hat, in die Speisekammer und hängt sich auf? Weil er eine Pause will zwischen jetzt und dem Geständnis, und weil er nicht weiß, was der Tod ist.« Er sprang auf. »Gnädiger Gott, Magda, ich weiß, was er ist!«

»Oh ich verstehe die Welt!« fing er gleich darauf brennend wieder an. »Ihr einziges Verlangen ist meins. Der Schuster, wenn er einen Schuh gemacht hat, der Dichter, wenn er einen Vers, der Gott selber, der eine Welt fertig hat: sie Alle machen, so schäbig es werden mag, etwas, in dem sie sind, und in dem sie doch nicht mehr sind. In dem sie sich von außerhalb ansehn können und sich herrlich finden. Man denkt, man will sich befreien, jawohl, aber das will man ja nicht, man will nur ein Stück von sich in der Hand haben, um hineinzubeißen oder es wegzuschmeißen wie einen Stein. Man will sich gefangen haben außerhalb, und sich erlöst fühlen von sich. Und das ist die Erlösung der Welt! Das ist die Form. Die Welt ist Chaos, wir können sie nicht begreifen und nicht durchdringen. Aber drinnen sind wir, der Mensch, und wir sollen es lichten, und ordnen, und sinnvoll machen. Bewußt oder unbewußt, und ob Tat oder Werk: da stehn sie als Form, und da ist das Chaos klar. Es ist drin in der Form als der Stoff, und doch ist die Form es nicht mehr, sondern sie schließt es aus, und verneint es, und vernichtet es. Und also, Magda,« schloß er heiser, »damit du mich verstehst: dies ist die Aufgabe, für jeden und für mich: die Verwandlung. Verwandlung des Chaos unaufhörlich und unermüdlich in die Form.« Er fing, da er sie den Mund öffnen sah, gleich wieder an: »Und ich kann es nicht, ich kann es nicht mehr, ich sage dir, daß ich es nicht kann, denn ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen! Und es ist also keine Form mehr da!« schrie er wütend, »und wenn keine Form mehr reicht, ja was dann? Und wenn kein andrer Stoff zu haben ist, alles ausgeformt ist, alles in dir, in deine Seele geformt, was dann? In Stücke muß dann die Form wenigstens, in Stücke um jeden und jeden Preis, damit wenigstens Ruhe in der Welt ist, Ruhe!«

»Und der Selbstmord –« Er war ganz heiser, aber im Augenblick, wo er Magda die Lippen bewegen sah, mußte er etwas sagen, und es fiel ihm immer etwas Neues ein, »der Selbstmord, Jason, der sogenannte, was ist das überhaupt? Du und ich, wir werdens ja wissen. Das ist keine Buße und kein Loskauf, und das sind alles bloß Ausdrücke! Und es hat mit dem Leben überhaupt nichts zu tun! Es hat der Tod einzutreten, und das weiß man, und das ist die Sachlage. Es ist nichts andres mehr da! das ist es, und es sind keine Gründe und all dergleichen, sondern man geht auf Pflaster, und da fängt der Asphalt an, weil er da anfängt, weil die Obrigkeit das so eingerichtet hat, und man ist des Pflasters nicht lebensüberdrüssig, sondern man geht auf den Asphalt, weil er da ist! Und man legt sich doch schlafen, wenn der Tag aus ist, und man ist müde!«

Georg hustete sich aus und verstummte. Dann setzte er sich wieder.

Nun begann Jason mit aller Freundlichkeit:

»Du sagtest eben Schlafen. Das hatte ich eigentlich schon früher erwartet. Du wolltest schlafen. Nun – hast du nicht? War es nicht eine Pause?«

Georg fühlte sich irgendwie umstrickt, wollte jedoch nicht nachgeben und beharrte: es sei nun aber alles wie vorher.

Das, meinte Jason, dürfte kein zwingender Einwand sein. Im Gegenteil, es sei das Wesen der Pause, daß danach alles wie zuvor sei; sonst könnte sie kaum Pause genannt werden, sondern Ende.

Georg beharrte weiter: »Sie genügt mir nicht!«

»Freilich,« versetzte Jason, »das ganze Leben genügt kaum. Wenn die ewige Fermate kommt, war es immer zu wenig, und man versucht die Ritardandos. Aber wir wollen nicht mit Worten streiten.«

»Die Ritardandos wären auch wohl das Letzte, was du mir nachweisen könntest, nicht wahr? Aber du hattest ja ganz recht: es kommt vom Mitteilen. Nun hab ich mich unter euch aufgeteilt, nun habt ihr jeder ein elend kleines Stück, einer hat den Arm, einer ein Bein, und ich fühle mich längst nicht mehr ganz.«

»Und das liegt daran, wie ich sagte,« erwiderte ruhig Jason, »daß du zu wenig Liebe hast.«

Georg fühlte sich in die Brust getroffen. Jason hatte recht: die Andern hier waren gut, Jason selber, Magda, der Hauptmann in seiner Stummheit, und dieser rundäugige Kleine hier. Er selber aber, er war unheilbar …

Da warf er das Gesicht in die Hände, fühlte sich jämmerlicher zerschnitten als jemals und wünschte sich den Tod.

Dieweil hörte er Magdas Stimme, entfernt, die von ihm sprach. Er wollte nichts hören, verstand nur hier und da ein Wort, und es schien ihm, sie sagte, er habe vielleicht bislang zu sehr sich selber und für sich allein gelebt, zuviel an sich selbst gedacht statt an Andre, – und von seiner Jugend sprach sie, und daß er viel zu lernen gehabt habe. »Viel mehr Möglichkeiten«, hörte er sie sagen, »als Andre, und deshalb mehr Schwierigkeiten …« Und zuletzt: »Sollte nun nicht alldas den Sinn haben, daß du nun an die Grenze gelangt bist und – ausgelernt hast, und nun, was du für dich gewonnen hast, für Andre verwenden kannst?«

Georg fuhr verzweifelt wieder empor. »Aber Magda! Das ist es ja doch! Warum verstehst du es denn nicht? Ich möchte mich ja verwenden, ich will es ja so brennend, aber ich habe doch nur diesen Weg, das Land, das Volk, das Reich! Wie soll ich denn die Verantwortung für eine Million übernehmen, wenn ich für mich selber ratlos bin? Und wer sagt dir denn, daß ich ausgelernt habe, daß ich gelernt habe überhaupt? Ich hab doch nur Schulden machen gelernt! Ich kann ja nicht mal praktisch etwas! Regieren …« Er stockte. Etwas, das er während der letzten Jahre hundertmal empfunden und als eitle Eingebildetheit unterdrückt hatte; was noch in den letzten Wochen mitunter aufgezuckt und von ihm zerpreßt war; jene dunkle Vorstellung im Gedanken an sein Regieren, die sich schattenhaft hinter den Worten: Ich kann es … erhoben und im Schwinden vor seinem Druck ein dünnes Lächeln der Selbstverachtung um seinen Mund gelegt hatte: sie stand auf einmal in einer Weise ruhig und unverhohlen da, daß er sekundenlange nichts tun konnte, als sie ansehn.

Du kannst es, wenn du willst, sagte sie ruhig. Du fühlst dich dazu begabt und bestimmt, und wenn du das im Tiefsten deines Wesens, wo du echt bist, nicht immer gewußt hättest, nur als Geheimnis vor dir selber es wahrend, so wärst du ja eine Kanaille gewesen.

Die Erscheinung schwand langsam und ließ Georg in Verwirrung Magda gegenüber, die sehr deutlich dasaß, zur Hälfte im Kerzenlicht, zur andern im Schatten, und ihn ansah, so daß es schien, als ob eben sie die Worte der Erscheinung gesprochen hätte. Da bemerkte er seine Verwirrung und dachte: Sie macht mich ja nur wieder wirr, und morgen bin ich allein …

»Rieferling!« rief er plötzlich. »Nun sagen Sie etwas. Sie sind ein schlichter Mensch. Ich verspreche Ihnen –« sich vorsetzend im Stuhl, die Hände an den Knäufen der Lehnen, erleuchtet von der List, mit der er sie jetzt Alle fangen würde »ich verspreche Ihnen,« wiederholte er fast schmeichelnd, »wenn Sie das rechte Wort – nein, wenn Sie nur ein Wort treffen, in dem ich die geringste Möglichkeit für mich finden kann, so will ich ihr folgen.«

Vorgebeugt bleibend in seiner lauernden Haltung, schon im Vortriumph, daß nun das gewünschte Ende für ihn nahe war, glühte er mit beiden Augen den Menschen an, der, die Hände fest um die Lehne des vor ihm stehenden Stuhls pressend, die blickenden Augen in dem geprägten, geordneten und stämmigen Gesicht auf ihn geheftet hielt. Nach einer Weile sprach er einfach: »Hoheit sollten es versuchen …«

Ho – – heit … tönte es echohaft in Georg nach. Er setzte sich im Stuhl zurück. Ho – – heit … Ein sonderbares Wort. Ho – – heit … sollten es versuchen … Das war wieder so ein Ausweg, so eine schwächliche Halbheit! schlicht gedacht, üblich; praktisch nannte man so etwas, praktisches Leben – das war der Ausdruck. Möglichst wenig heroisch.

»Es hat ja doch keinen Sinn mehr …« würgte er endlich widerwillig hervor. »Ich kann ja auch nicht mehr! Ich habe gelitten, gut, darüber ist weiter nichts zu sagen. Aber alldas – es muß doch ein Ergebnis tragen, eine Erkenntnis, ein – kurz ein Ergebnis!«

»Das Ergebnis des Leidens«, sagte der Hauptmann, seltsamerweise errötend, »ist wohl, durchlitten zu sein.«

Worauf er sich entschuldigte: das sei so ein Gedanke, er wisse selbst nicht, wie … er könnte nicht sagen, daß er aus eigner Erfahrung …

Georg stand auf. »Du mußt todmüde sein, Magda, komm, geh schlafen.« Er sah in diesem Augenblick, wie grau und zerfallen ihr Gesicht war. »Rieferling wird Li alles zeigen. Wir können ja morgen weiterreden.« Er sah auf die Uhr und erschrak. Sie stand auf ein Viertel nach sieben. »Was ist das?« fragte er, »ist es jetzt wirklich Viertel acht?« Die Uhr ans Ohr haltend, merkte er, daß sie ging, und der große Zeiger stand auch genau genommen erst zwölf Minuten über Voll. Einen Augenblick glaubte er, alles geträumt zu haben und vor derselben Minute zu stehn wie am Abend zuvor. Dann hörte er Jason sagen, es sei an vier Uhr in der Nacht gewesen, als Georg aufgewacht sei. Magda erhob sich und bewegte sich auf ihn zu mit vorgestreckten Händen. Er ließ sie die seinen fassen und litt es, daß sie sie liebkoste und an die Wange drückte, indem es ihm beschämend und verkleinernd vorkam, sich streicheln zu lassen, weil er sich nicht totgeschossen hatte, und er konnte es nicht lassen, dieweil er sie in die Arme schloß, zu sagen: »Nun gehts glücklich aus wie eine Sitzung im Bürgerverein. Ihr Frauen seid nur froh, wenn ihr alles eingereiht habt!«

»Ist es denn, Georg?« fragte sie, ängstlich zu lächeln bemüht, »ist es denn wirklich?«

Er dachte hart: Wenn sie mich nicht sehen kann durch meine Schuld, so habe ich ja wohl ein Recht, jetzt zu lügen! und sagte mit müdem Ton: »Es scheint ja so. Du –« fuhr er zärtlicher fort, »warst ja immer bereit zur Verantwortung.«

»Ja,« sagte Jason, »sie hat mich vor Teichen und Windmühlen bewahrt, und deshalb saßen wir hier Alle zusammen. Gute Nacht, Georg!«

Er reichte ihm flüchtig die Hand und ging an ihm vorüber zur Tür. Li hatte inzwischen einen besonders langen, braungelben Mantel mit sehr breiten Ärmeln übergezogen und einen steifen Hut aufgesetzt. Georg nahm ihm Magdas Pelzmantel ab und hängte ihn um ihre Schultern, worauf er sie zur Tür führte. Jason wartete dort und nahm ihren Arm. Alle schienen es eilig zu haben, als könnte er etwas zurücknehmen. Georg drückte dem Hauptmann die Hand und sah sie alle Vier die Senkung hinabsteigen in der Richtung zu Cornelias Haus. Dabei bemerkte er, daß es neblig geworden war; die Nacht über dem grauen Dunst war pechschwarz, die Luft nicht eben winterlich, feucht, aber kalt genug, um Georg schaudern zu lassen, während er die Gestalten in der Tiefe mählig verschwinden sah. Plötzlich dann war alles leer.

Hin und wieder zusammenschaudernd in der Kälte lehnte Georg am Türpfosten. Was nun? – Er kam sich zusammengeschrumpft vor und erbärmlich klein. In seinen Schläfen pochte das Blut, nun stach es in seinen Augen, die Müdheit war wieder da. Halb unbewußt wandte er sich zur offenen Tür zurück, sah eine Weile dem Brennen der fernen Kerze zu, sah die Schatten der Stühle sich leise anheben, und plötzlich wurden sie alle beweglich, ein Luftzug strich an ihm vorüber, ein warmer Hauch von drinnen. Im Aufflackern der Kerzenflamme sah er einen Gegenstand auf dem runden Tisch Schatten werfen, seine Pistole.

Da lag sie! Es zuckte schon in seiner Hand, als ihm einfiel, wie sonderbar das sei, daß weder Jason noch der Hauptmann sie an sich genommen hatte. Das tat man doch! Als ob sie sich verabredet hätten! – Ach, das ist elend, dachte Georg, mit diesem Vertrauensbeweis wollten sie mir nun die Hände binden!

Und wenn sie sie mitgenommen hätten, fiel ihm hinwider ein, was dann?

Ihm schauderte heftiger in der Kälte, ohne doch drinnen eintreten zu können, denn dann, dachte er, nimmt mich das Alte wieder auf, und ich bin im Geleise. – Er war allein; Nacht und Nebel –, das war geblieben. – Aber die See! zuckte es durch ihn hin. Wenn ich sie nehme statt der Pistole, so verstehen sie alles und erkennen den Ernst.

Georg schloß gedankenlos die Zimmertür, drehte sich langsam und ging, stolpernd im höckrigen Grasboden, Schläfen und Augenwinkel zerstochen von Erschöpftheit, nach der Stelle am Deichrand, wo die Treppe nach unten begann.

Der Nebel war hier außen etwas dichter; die Sichtbarkeit des Sandbodens unten zeigte, daß Ebbe war. Richtig, als er am Abend hier gestanden hatte, war die Flut noch im Steigen gewesen.

Stufe um Stufe trat Georg nach unten. – Ein Freund kalten Seewassers bin ich nie gewesen, dachte er verächtlich, aber – das wird sich ja wohl noch überwinden lassen. Wenn es nur nicht so weit wäre bis in die Tiefe …

Er ging in den Nebel hinein. Das Ebbewasser pflegte hier weit zurückzuweichen, da noch die versunkenen Inseln vor Hallig Hooge lagen.

Georg hatte die Lider über die Augen fallen lassen, gehend, weil er im Gehen war, in einer leeren Unschlüssigkeit, die ihn peinigte. Als er die Lider wieder hob, sagte es in ihm: Da! – – Da war es …

Im Nebel, gerade vor ihm, stand eine ferne Gestalt, nicht mehr als ein Schatten. Georg selber stand wie sein Herz. Das jagte im nächsten Augenblick Wellen und Sprünge unzähliger wütender Schläge bis gegen seinen Hals hinauf. Ihn grauste.

Dann ermannte er sich. Schwerfällig und langsam formten sich Vorstellungen in ihm. Jason … Rieferling …

Wenn es aber einer von ihnen wäre, so würde er doch kommen … Er wartete … Plötzlich hatte er mit großer Erleichterung das gewisse Gefühl, daß der dort ihm den Rücken zuwandte und von ihm nichts wußte; es war der Hauptmann. Er wollte ihn rufen, aber das gelang ihm nicht. Nur räuspern konnte er sich und tat es, so laut er vermochte.

Der Schatten bewegte sich nicht, und nun war Georg doch nicht mehr sicher, daß er von ihm abgewandt stand. So versuchte er jetzt, sich auf den Namen zu besinnen, jenen Namen, – allein während das Grauen wieder in ihm stieg, merkte er, daß jenes Wort nicht zu finden war. Es lag auf seiner Zunge, Georg stieß … Al– Albert … Aldebaran … Baldamus … Nein M! ein M wars. Ma– – Magus …

In diesem Augenblick schien der Schatten zu schwinden, und Georg flüsterte Atem schöpfend: Eine Sinnestäuschung! – worauf er sich einen Stoß gab und vorwärts ging. Mut zeiget auch … flüsterte es in ihm, Mut zeiget auch …

Aber mit einem maßlosen Entsetzen mußte er plötzlich merken, daß er nicht gradeaus ging, nicht konnte, daß seine Füße – er drückte mit aller Gewalt –, nein, die Füße wollten nicht dorthin, wo der Schatten gewesen war, sie sträubten sich wie Tiere, es war fast, als ob sie knurrten und sich gegenstemmten, und Georg überließ sich ihnen in hängender Schlaffheit, so daß sie ihn in einer gebogenen Linie nach rechts davonführten, und – – da war der Schatten wieder, bewegte sich, glitt, auf derselben Höhe mit ihm.

Georg wußte, wenn er jetzt nur den Namen hatte, wenn er ihn rief, brüllte, so war alles verschwunden. Aber er konnte nicht, er ging, und plötzlich war der Schatten weg.

Unter dem Nebel, fünf Schritte vor Georg, glänzte es. Etwas Blinkendes lag dort, ein Krokodil, – das Wasser. Dennoch spürte Georg für eine Sekunde eine Erleichterung. Er wußte nun, worauf es ankam, und wo er war. Er mußte wieder nach rechts hinüber. Ich will laufen, dachte er, setzte auch dazu an, aber seine Beine waren schwer wie Säcke voll Sand. Nun redete er sich Mut zu. Das ist ja alles Unsinn! Es ist ja nichts da! Du bist übermüdet, du hast Einbildungen! und er ging derweil mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen, hin und wieder strauchelnd, nur mehr sich nach rechts haltend, längst in der Gewißheit, daß die Gestalt jetzt hinter ihm herkam. Nun würde sie sich weiter und weiter vorschieben, bis sie auf seiner Höhe, zwischen ihm und dem Deich war. Oh dieser verruchte Nebel! Er sah nach oben. Einen Stern! nur einen einzigen Stern!

Georg blieb stehn. Fast war er bereit, sich auszuliefern. Er fühlte, daß unter seinem Stirnhaar sich Tropfen lösten und kalt über sein Gesicht rannen. Er hatte zu nichts mehr Kraft. Wie lange Zeit so verging, wußte er nicht. Endlich drehte er langsam den Kopf, langsam schließlich den Rumpf. Da war die Gestalt, stehend wie er selber.

Georg ging wieder; er ging und summte dazu im Takt seiner Füße. Dann zählte er: Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs … Irgendwo in einer unsichtbaren Ferne war ein erleuchtetes Fenster, und er sah das Haus, die Umrisse in der Nacht, und rechts davon, drei Schritte weit von ihm selber den Abhang des Deiches, wo er ein Ende nahm. Er glaubte, alldas wirklich zu sehn, aber als er es ins Auge faßte, war da nur Nebel.

Auf einmal – er tat, als geschehe es unabsichtlich – blickte er nach rechts und bemerkte den Schatten dort etwas hinter sich, der ihm nachging.

Georg schritt aus, so gut er konnte. Er ging ja nach rechts, gleich mußte der Deich kommen, bald auch die Lücke, und er rechnete: sieben Minuten konnten es im ganzen sein, ein gutes Stück hatte er schon hinter sich und –

Was war das? Es glänzte grade vor ihm. Das Wasser! Wo kam das Wasser her? War er doch daraufzu gegangen? Oder – nein, hier war eine Buchtung, das Wasser schnitt tiefer in den Strand ein, – merkwürdig! fiel ihm ein, wo sind denn die Buhnen geblieben? Ah, versandet! besann er sich und machte sich klar, daß er nun rechtshin am Wasser einhergehn müsse, – worauf er sich drehte, schon spürend, daß seine Füße einsanken, im aufgeweichten Sandboden strauchelte und nun die Gestalt grade vor sich entdeckte, allerdings entfernt.

Der Kopf fiel ihm vornüber. Aber jetzt, wie er in dem weicheren Sand dahinging, sich am Wasser haltend, so dicht er konnte, fing er an, sich zu sammeln. Haha! dachte er, die Gewohnheit, da ist sie ja wieder! Ich habe mich daran gewöhnt! – Und er konnte sich nun wieder besinnen, ihm fiel allerlei ein, eine blaue Jacke erschien sehr schön, der Chinese, die Kerze vor den Schubläden mit glänzenden Messingknöpfen, daneben, mit Schatten gefüllt, die Nische, dann der Park von Helenenruh, sommerlich, grün … und nun bemerkte er, daß die Nässe und das Wasser zu seiner Linken waren. Er ging weiter nach rechts, seine Eile verhaltend in der Vorstellung, wenn er liefe, würde die Gestalt auf ihn stürzen. Da! da war sie ja, fast auf gleicher Höhe mit ihm, sie war näher, sie wollte ihn gegen die See drängen, er mußte sie mit aller Gewalt wegdenken, denn das Grausen rieselte von ihr aus, und er ging, die linke Hand auf der Stelle seines Anzugs, wo er die Uhr fühlen konnte, die sich nicht lesen ließ in dem Dunkel. Wo blieb denn die Lücke im Deich? Sieben Minuten mußten lange vorüber sein …

Da blieb er stehn. Seine Kraft war dahin. Das heißt, dachte er, die Kraft mich verfolgen zu lassen. Nun wollen wir aber sehn!

Er saugte sich künstlich voll Wut. Es dauerte noch eine Weile, bis er die Lähmung in seinen Fingern überwunden und die kraftlosen nach innen gekrümmt hatte. Die Fäuste schienen ihm aber so locker, daß er die Finger immer tiefer nach innen preßte, bis er plötzlich mit einem über Erwarten heftigen Schmerz die Nägel im Fleisch fühlte. Dann riß er die Augen weit auf. Es flimmerte, aber da stand die Gestalt. Er setzte zum Gehen an, senkte den Kopf tief gegen die Brust, setzte abermal an, hörte ein Röcheln und ging auf sie zu.

Alles an ihm raste vor ungeheurer Angst, und doch blieb ein Rest, der Rest, der ihm sagte, daß noch Kraft in ihm war, zu gehn, darauflos zu gehn, der ihn vor dem Zusammenbruch bewahrte. Dies dauerte endlos. Als er den Kopf hob, war die Gestalt so nah, daß er fast aufgeschrieen hätte, aber da sah er hinter ihr eine dunkle Wand, den Deich, und dann: daß die Gestalt sein Vater war.

Er machte noch ein paar Schritte, schluchzte, fühlte, wie er am ganzen Leibe erlosch, und während über ihm die Stimme seines Vaters begütigend sagte: Es ist genug, Georg! legte er sich, in staunender Erleichterung hinsterbend, nieder vor seine Füße.


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