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Drittes Kapitel

Magda

Als Renate auf der ratlosen Suche nach Magda das Haus durchwanderte, befand sie sich in einer Weichheit ihres ganzen Wesens, die jeden Augenblick überfließen zu wollen schien. Das Hungergefühl war verschwunden, obwohl sie sich kraftloser in den Knieen fühlte, als sie von früheren Charfreitagen her sich zu erinnern glaubte. Nun wollte sie sich eine Weile an der Freundin halten, mit ihr, wie sie verabredet hatten, das Grab der Herzogin besuchen, und dann würde sie allein sein den Tag über, würde es können, würde vielleicht Hoffnung, Glauben, Zuversicht, ach, vielleicht alles von neuem schöpfen aus den ewigen Augen der einzig heiligen Gestalt.

So öffnete sie denn die Türe des Gobelinzimmers, ohne sich zu erinnern, daß Magda ihr gesagt hatte, sie frühstücke dort; aber schon der erste Blick auf den Tisch mit Speisen, an dem Magda und Benno saßen, bereitete ihr kein Gefühl des Hungers, sondern eher eines des Abscheus, was sie denn etwas mutvoller machte.

»Schade, daß du so spät kommst!« rief Magda Renate zu, sich umwendend nach ihr, die sie hinter sich eintreten hörte. »Georg ist eben gegangen, nachdem er eine kostbare Rede gehalten hatte. Wir sind noch ganz niedergedonnert, Benno und ich.«

Renate trat, etwas geblendet vom Licht in den großen Glasscheiben ihr gegenüber, hinter Magdas Stuhl, über deren Schultern die Hände hinabreichend, die gleich ergriffen wurden, und legte eine Wange auf das Weiche Haar unter ihr, die Augen schließend im Wunsch, so einzuschlafen. Aus der Ferne hörte sie so Magdas Stimme nach ihrem Nachtschlaf fragen und erwiderte leise: »Gar nicht! Ich hatte einen schönen Traum; er war unendlich lang, aber nun kann ich mich nicht mehr darauf besinnen.«

Das wären die besten Träume, meinte die Freundin tröstend, und sie setzte sich nun an den großen runden Tisch und starrte mutlos auf ihren Teller und die unterschiedlichen guten Essensdinge, die ihr Ekel erregten, und die sie verschwommen kaum sah. Magda erklärte Egloffstein, daß Renate nichts zu sich nähme. Die hörte währenddes Benno sagen:

»Ich glaube, er hat etwas gegen mich.« Er neigte sich beteuernd zu Magda. »Glauben Sie mir, ich fühle es, und ich weiß auch, von früher her, daß in meinem Wesen etwas sein muß, das ihn reizen kann. Er ist ja auch viel männlicher als ich und stärker –« schloß er bedrückt.

Sie reden von Georg, dachte Renate, Magdas abwehrende Antwort nicht mehr verstehend, und sah ihn wie am gestrigen Abend, wo er ihr recht lärmend erschienen war. Und wenn er sich einmal auf den Schenkel schlug, ein andermal sich zurücklehnte und lachte, dann wieder in breiter Hoffart gleichsam erstarrte, schien ihr dieser häufige Wechsel sich auf eine Umgebung zu beziehn, die gar nicht da war, die er vielleicht sonst gewohnt sein mochte, und so, als wollte er sagen: Lockerheit! Ungebundenheit, ich kann mir das leisten! Und einzelne Bewegungen hatten sie fast erschreckend an seinen Vater erinnert, – ja, dessen Art, nur nicht ganz fertig.

Allein schon brannte ihr jetzt die Stirne vom Nachdenken. Sie hörte Magda etwas sagen, mußte jedoch fragen und hörte nun erst ihre Stimme von fernher näher kommen:

»Manchmal fehlt es mir doch recht, daß ich ihn nicht sehen kann. Ist er nicht sehr verändert? Ist er nicht breiter geworden? Oder ist das Einbildung? Ich rede von Georg«, schloß sie leise erinnernd, als ob sie gefühlt hätte, daß Renate fern war.

Die dachte wieder nach, was sie sagen sollte, und seine Augen vor sich gewahrend, bemerkte sie in halber Zerstreutheit: »Ja –, er hat ja nun solche Pferdeaugen.«

»Pferdeaugen? wie meinst du denn das?«

Renate gab sich Mühe, auseinanderzusetzen, wie sie es meine. »Früher«, sagte sie, »hielt ich seine Augen für grau. Nun sind sie erstaunlich braun geworden, dazu sehr stark, – nicht quellend, nein, gläsern, und gerade bei heftigem Feuer können sie so etwas Starres haben wie die von Pferden, so daß die Augäpfel manchmal blitzen wie neu geschliffen oder stärker gewölbt. Ich weiß nicht, ob du …«

Magda, die still und in sich gebeugt zugehört hatte, fuhr jetzt empor und rief halblaut: »Wie war das? Bilden sich wirklich die Königsaugen?« Dann lachte sie leise und meinte: »Er bekommt sie schon noch einmal, aber er muß noch warten. Erinnerst du dich an die Augen seines Vaters? Königsaugen, anders lassen sie sich nicht nennen. Manche haben sie immer, Andre zuzeiten. Papa konnte sie machen, Klemens konnte sie haben, auch Bogner, wenn er erregt war. So, weißt du, zugleich kühn und verständig, von oben und sehr durchdringend, – sind sie so?«

Renate gab bereitwillig zu, daß sie ungefähr so wären.

»Jetzt wirst du denken,« fing Magda nach einer Weile wieder an, »daß ich ihn verkläre, aber das tue ich wirklich nicht. Eben zum Beispiel hat er wieder eine halbe Stunde von Dingen geredet, von denen er gar nichts weiß, das ist ja nun seine Vorliebe. Ich verhalte mich dann schweigsam und bin vergnügt. Aber seit uns Li, als du krank warst, aus den Erinnerungen der Markgräfin vorgelesen hat, erinnert er mich oft so an den Kronprinzen Friedrich. Gar nicht im Charakter, oh, bewahre, nein, solch ein Hahnenfuß wie der ist Georg doch nicht gewesen! Nein, ich meine nur den Tod Kattes. Da gab es die plötzliche Wandlung, und nun, – was bei Friedrich der Katte war, das war bei Georg doch sein Vater«, schloß sie behutsam.

»Ich weiß noch,« fing sie wieder an, »damals, als er dich besucht hatte, im März, da sagtest du, er wäre spottsüchtig. Armer Benno, Sie habens auch gefühlt. Und was sagte er noch gestern abend, Benno, von den Bestien, wie wars?«

Benno zitierte beglückt: »Das Richtige ist, alle Menschen für Bestien zu halten und bloß jedem, der einem ans Herz kommt, so viel Leiden zuzutraun, wie man selber zu sich genommen hat.«

»Zu sich genommen hat!« wiederholte sie, »herrlich! Ja, so ist er, so sind sie!« rief sie ganz heiß. »Von Friedrich heißt es auch, daß er ein solcher Menschenverächter gewesen sei, aber meinst du, den Männern wäre zu trauen? Die Menschen können doch niemand zu ihrem Verächter, können einen zu überhaupt nichts machen, wozu man nicht die Anlage hat. Das ist ja alles nur Selbstverachtung, weiter nichts. Es ist nur dumm, daß ich ihn nicht sehn kann. Alle Männer haben diese Art, auch Saint-Georges zum Beispiel, einmal in tiefem Ernst zu reden, – und dann muß man raten, daß sie es ganz scherzhaft meinen; oder das unsinnigste Zeug, – das ihnen dann wieder der tiefste Ernst ist. Und Georg, das verstehe ich wohl, ist solch ein Mensch, der wohl weiß, was er gelitten hat, nun aber viel zu hochmütig ist, um es für etwas Wichtiges zu halten, und so verachtet er in Bausch und Bogen das Leiden und sich und die ganze Menschheit. Ich versteh ihn so gut!« schloß sie triumphierend.

Ihre Stimme rauschte Renate schmerzlich im Gehör. »Und was soll nun daraus werden?« fragte sie matt.

Magda hob die Achseln und seufzte.

»Vorläufig hoffentlich gar nichts!« meinte sie dann. »Je weiter der Weg, desto besser. Du hättest nur hören sollen, wie er vom Christentum sprach! Daß es eine Religion der Liebe ist, scheint er noch nie vernommen zu haben.« Sie seufzte wieder und schüttelte sich.

Renate glaubte, nun auch etwas sagen zu müssen, und brachte vor, was ihr einfiel: »Josef sagte einmal, ein Messer wäre auch nur da geschliffen, wo es seine Schneide hat, und doch sei immer das ganze Messer ein scharfes, geschliffenes Messer. Das übertrug er dann auf den Menschen, – ich weiß nun nicht mehr …« Sie verstummte unter dem plötzlichen Gedanken, ein paar Minuten vorher etwas Böses getan zu haben, während Magda aufleuchtend einfiel: »Natürlich, so ist es ja mit Georg! Er ist immerfort, immerfort geschliffen worden, nur weiß ers nicht, weiß nicht, daß er an der Schneide geschliffen worden ist, und nach Jahren vielleicht, wenn er sie schon lange gebraucht hat, dann merkt ers plötzlich und kommt mir mit einer goldnen Erkenntnis. Ach, es ist ja das einzig Gute an ihm, daß er immer alles sieht und erkennt; nur was am Grunde liegt –, ach, dafür hat ja uns Allen ein guter Geist den Blick entwendet, wie wollten wir sonst leben?«

Eine lange Weile war sie nun still, schien auf ihre Hände im Schoß hinabzublicken, doch liefen und kreuzten sich unablässige Wellen in ihren Zügen und machten den Mund ganz wenig zucken. Und schließlich begann sie mit tieferer Stimme:

»Man kann doch nicht annehmen, daß es Menschen giebt, die das Schicksal sich aussucht wie Lasttiere, nur um ihnen immerfort aufzuladen, über Vernunft? Oft mußt ich das von mir denken; oft, wenn ich am Verzagen war, brannte es sich mir ein, denn – wie ist das mit mir und Georg? Soweit ich mein Leben hinunterblicken kann, war immer nur er. Warum denn? Warum diese Gebundenheit an einen Menschen, für dessen Dasein sie gar keinen Sinn hat? Denke nur, auf Hallig Hooge sagte er, es sei ihm während der vergangenen Jahre oft schwer gewesen an mich zu denken, in einer solchen Einsamkeit sei ich ihm immer erschienen. Das war ja deutlich. Es hieß, daß er sich für mich kein Leben vorstellen konnte – ohne ihn, und deshalb war da eben für ihn nichts zu sehn. Ich lachte ihn ordentlich aus und erzählte ihm dies und das aus meinem Leben, wovon er keine Ahnung hatte, von Berlin, wo ich mich kaum retten konnte vor Menschen, die alle etwas von mir wollten, – nun, das weißt du ja, aber, siehst du, von alledem ahnte er nicht das geringste, er wußte nichts von mir, gar nichts …«

Ihr Gesicht hatte stärker zu glühen begonnen, während sie das letzte sprach. Jetzt stand sie auf, machte einen versuchenden Schritt, senkte den Kopf, besann sich und setzte sich wieder.

»Antworte mir nicht auf das, was ich jetzt sage«, fing sie ruhiger wieder an. »Vor einer halben Stunde bat ihn der Hauptmann um eine persönliche Unterredung, und da hatte er natürlich auch keine Ahnung, daß es sich um mich handeln könnte, und daß wir uns gut kennen und er mich oft besucht hat, um mir von Georg zu berichten. Der Hauptmann ist auch dumm, er geht zu Georg, um ihn zu fragen, ob er mich fragen darf, aber da kann er sich dann mal wundern. Nein, nein, du sollst nichts sagen!« rief sie lachend, da Renate ihre Hand ergriff, »ich weiß nichts, und wenn du nicht still bist, heirate ich ihn sicher nicht!« Verstummend ließ sie Renates Hand los, ihr Gesicht wurde blaß und fast spitz vor gesammeltem Ernst, während sie langsam und schwer sagte:

»Ja, das scheint einem freilich sehr verkehrt. Alle kamen zu mir, aber er kam nicht, – und muß ich nicht annehmen, daß ich ihm viel hätte geben können, da es doch für so Viele gereicht zu haben scheint? Und ich war reich an Leben und Menschen, aber Reichtum und Leben waren nicht sie, sondern die Gedanken an ihn, die mir Leben gaben und mich Leben empfinden lehrten. Und wenn ich trotzdem Leere empfand, so war auch die Leere von ihm. Und obgleich ich ihm nie etwas sein werde in Wahrheit,« schloß sie aufleuchtend mit den blinden Augen, »so will ich doch immer glauben, daß es gut ist, daß es hilft, daß es irgend etwas heilt, und daß es sein muß, alles, für mich, und für ihn, und für die Welt.«

Eine halbe Minute hielt Renate es noch aus, stand dann eilig auf, sah einen Stuhl neben der Glastür, setzte sich darauf, legte das Gesicht in die Hände und weinte aus Leibeskräften.

»Ja, was ist denn, was hast du denn?« hörte sie Magda fragen, »warum weinst du?«

»Weil ich,« stammelte sie schluchzend, »weil ich vorhin gesagt habe, Georg hätte Pferdeaugen!«

»Das ist entsetzlich!« sagte Magda.

Georg

Wozu, fragte Georg sich, als er, aus dem Frühstückszimmer heraufgekommen, das Buch mit den Aufzeichnungen auf seinen alten Schreibtisch legte, – wozu war nun das? Wozu sagte ich das? Wozu reden wir das? Hat das alles nun irgendeinen Sinn, irgendeine noch so dürftige Fruchtbarkeit? Wird irgendwas klarer durch solche Reden, wir selbst uns durchsichtiger, besser, einsichtiger? Ach, so kurz ist dies Leben, und wir vertun es, wir verprassen – ach – oh du mein uralter Vers: Wer wüßte je das Leben recht zu fassen! Wer hat die Hälfte nicht davon verloren! Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren! Ah freilich, und du, mein Platen, was ist denn nun dein geschliffenes Sonett mit nichts als seiner trüben Feststellung unserer Beschaffenheit, was ist es mehr wert als irgendein Frühstücksgerede! Hats dich klarer gemacht? Und wenn klarer, vielleicht besser? Hats dir irgendwas geholfen?

Das lange Dach gegenüber glänzte regenschwarz mit den Schwellungen der Ochsenaugen; auf derer einem ward eine Krähe sichtbar, indem sie lautlos und schwerfällig im Bogen nach unten wegflog, und Georg hörte, als sie schon über ihm unsichtbar geworden war, ihren Schrei. Der leichte Schleierfall des Regens war nur vor den Fenstern drüben sichtbar; sichtbarer kaum als die Stille und leichte Ödheit des Sonntags, die überallher aus halbgeschlossenen Augen blickte.

Warum war ich so aufgebracht und hitzig? Vielleicht war es wirklich zuviel verlangt von dem armen Benno, ahnungslos vom Schlaf aufzustehn und über alle Gottheiten Roms zu verhandeln.

Wie schön aber sie aussah und lauschte! Ich habe ja nicht einmal Renate mehr vermißt. Du guter Geist, könnt ich dich halten! – Und Renate? So war es immer: ich wollte Renate – und wollte auch Esther. Wollte Renate und wollte Cordelia. Nun denk ich an Anna wieder, und wieder erscheint diese Ewige, an der ich festhänge, seit ich sie sah, und werde ich jemals aufhören zu schwanken, jemals die Stimme der Wahrheit hören können? Wer hat die Hälfte nicht davon verloren?

Ja, fuhr er nachgrabend fort, noch etwas ist anders geworden. Ich sehe anders. Grade an Anna, wie ich sie dasitzen sah, ihre ganze Erscheinung, merkte ich – wie war es nur? Umfassend – ja, und – wahrhaftig, es ist, als hätte ich früher Vergrößerungsgläser vor den Augen gehabt, so daß ich sie an alles ganz nah heran halten mußte, und ich sah Einzelnes nur und Kleines, jedoch übergroß. Sind die Gläser fort? Bin ich zurückgetreten, freistehend und nun das Ganze umfassend?

Was ihm aber jetzt beim Aufschlagen des Buches entgegenfiel, das war der letzte Brief der Cornelia, in dem sie ihm mitteilte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren könne, nur noch einmal kommen müsse, ihren Koffer zu holen. Hier also hatte er den lange vermißten hineingelegt. – Georg versank über dem Anblick der Lateinschrift auf dem Umschlag, von den eigentümlich geworfen, ja geschleudert und achtlos aussehenden Schriftzügen wie stets mit dem ganzen Gegensatz ihres bestimmten und geordneten Wesens betroffen, – Georg versank für Minuten in Gefühle wehmütiger Sehnsucht.

Sie war schlank und grade; der Gang schlank und kräftig; das Haar glatt; die Augen rund, kindlich die Stirn, und sie war die Einfachheit selber. Einmal sagte sie, sie könne nicht denken. Vielleicht hatte sie nie, was ein Mann denken nennt, gedacht. Aber sie wußte Bescheid in allem; was sie äußerte, war klar; ihr Urteil war, in Wort und Wendung und Sinne nichts als vernünftig, sachlich, ja nüchtern, selbst wenn es die höchsten Dinge betraf. Nüchtern, – ja, das war sie; von jener Nüchternheit, welche Hölderlin heilig nannte.

Also, dachte Georg trübe, muß es wohl doch das Richtige sein, was sie jetzt tut? – Dann wünschte ich nur – o der Satan hole diese Verstricktheit der Welt! –, dies Tun wäre ihr vorgelegt, als sie den Montfort verlor, anstatt daß sie sich erst an mich hängte … Wie lieb, wie sehr lieb wurde sie mir! –

Montfort … Es blieb sonderbar und kaum verständlich, was diesen schwarzen Kentauren zu der stillen Gesellin gezogen hatte. Sie aber war unter dem sengenden Gestirn zu dieser erstaunlichen Frucht glücklicher Klugheit und fester Süße gereift, die – die er gekostet und verloren hatte; wie jene Andern … Georg zog sich mit einem Seufzer aus seiner Schwermut und legte den Brief fort.

Indem fiel sein Blick auf das vor ihm liegende Buch, und er öffnete es in der Erinnerung, grade über seine Art zu sehen darin etwas bemerkt zu haben. Sein Blick traf alsbald auf die Worte:

›Ich will mein Leben noch einmal von vorn durchdenken. Ich will aus dem Brunnen, Eimer um Eimer, die Vergangenheit heraufschöpfen, und aus jedem das Süße, das Herbe, das Giftige ziehen und einen Becher damit füllen, und dann will ich ihn trinken. Wohlan, wenn ich das Gift überlebe, so werde ich keines Todes mehr bedürfen.‹

Merkwürdig! habe ich das geschrieben? Warum so pompös? Warum so viel Geste? – Er blätterte weiter, kopfschüttelnd, indem er sich auf den Rand des Schreibtisches setzte. Zuerst wurde sein Auge von dieser Stelle festgehalten:

›Im Niels Lyhne geblättert, diesem traurigsten aller Bücher. Aber was sehe ich da? Ich bin ein Bastard wie dieser Niels. Wir haben unedles Blut alle Beide und haben deshalb kein Anrecht auf jeden der beiden Throne, weder auf den des Lebens noch auf den der Phantasie. Usurpatoren des Lebens, fühlen wir in jeder Anstrengung, die wir machen, die Hoffnungslosigkeit aus Ursachen der Unrechtmäßigkeit. Wir – aber ich habe es noch etwas schlimmer als du, denn ich weiß, was ich bin. Du, Niels, hast es nicht gewußt, ich aber habe dich gelesen …‹

Auffahrend aus dem Hinträumen über die letzten Zeilen, fiel Georg zu gleicher Zeit ein, daß er etwas Bestimmtes in den Aufzeichnungen hatte suchen wollen, und daß Anna auf ihn wartete. Unschlüssig noch ein paar Blätter umwendend, sah er den Regen wieder dichter strömen, und wieder auf das Geschriebene gerichtet, fing sein Blick die Überschrift ›Erinnerung‹ auf. Darin mußte das stehn, was er suchte. Er konnte nicht loskommen, dachte: Anna kann warten – und: bei dem Regen!, tastete nach seiner Zigarettendose und Streichhölzern, begann, schon lesend, zu rauchen, und las nun, fliegender Augen, in immer kälterer Erregtheit.

Erinnerung

Ich hatte eine halbe Stunde im Lehnstuhl geschlafen und hörte erwachend noch schlaftrunken Mathilde, die einsame Winterfliege, in der Dämmerung umhersummen, friedfertig mit sich selber beschäftigt. (Tante Henriette pflegte die Winterfliege die unsterbliche Mathilde zu nennen, oder einfach Mathilde.)

Da erinnerte dies Summen nebst der winterlichen Dämmerung und dem Wärmestrom aus dem Ofen mich an etwas ähnlich Behagliches, und als ich suchte, fand ich mich nach einer Weile auf dem alten Sofa in meinem Zimmer der Pragerschen Wohnung. Die Fliege summte, es war warm und geheizt, ich hatte einen Roman im Schoß vom verehrten Scott, es war Sonntagnachmittag nach dem Essen, die Familie war in den Sonntagskleidern erschienen, das Tafeltuch frisch gewesen, Weingläser auf dem Tisch und alles freundlicher, heller als Wochentags und selten. Nun war alles still geworden; nur über den Flur aus der Küche tönten die Geräusche des abwaschenden Mädchens, und in Pausen immer wieder, schon lange hörbar und doch kaum gehört unterm Lesen, fernher die unendlichen schmetternden Roller eines Kanarienvogels.

Ach, diese Behaglichkeit, – wie alles Behagen nicht ohne einen geringen Zusatz von Öde! (Ungefähr so, als ob man gleichzeitig ein Durstgefühl hätte, nicht stark genug, um deswegen seine behagliche Lage aufzugeben, und auch zu unbestimmt nach was?) Und wie abgeschieden waren solche Stunden, was war ferner als der nächste Morgen, Schulgang und die fünf end- und trostlosen Stunden!

Aber auch diese Wintermorgende hatten ihr mehr grausiges Behagen! Das frostklappernde Aufstehn im Dunkel verlor seine Peinlichkeit alsbald im freundlichen, sehr hellen Licht der Gashängelampe, in dem alles warm wurde, eng das verschattete Zimmer, und noch höre ich in jenen Minuten, wo ich selber still war nach den heftigen Geräuschen des Zähneputzen und Waschens, die tiefe Lautlosigkeit, während des Anknöpfens der Hosenträger, wobei die Zeit stillzustehn schien, und auch von Benno nebenan war – vielleicht aus dem gleichen Grunde – nichts zu hören, so daß es plötzlich war, als sei in der ganzen Wohnung kein Mensch.

Es müßte einmal einer das Behagen der kleinen Dinge beschreiben, der allerkleinsten, jener, die jedem bekannt sind, so daß man nur daran zu erinnern braucht, und die doch niemand sich sagte. Jenes Empfinden etwa – reizvollsten Behagens ach warum nur? –, mit dem man beim Anziehn der Beinkleider zwischen den Schenkeln durch nach hinten faßt und das Hemd straff nach unten zieht, so daß man es am ganzen Rücken und auf den Schultern fühlt. Oder jene höchste Wonne des Erdendaseins, das reine Taghemd mit allen Plättfalten und seiner Frische, fertig mit allen Knöpfen ausgebreitet liegen zu sehn und nun über den nackten Leib zu streifen! Oder die nicht minder hohe, nachts mit einem brennenden Durst zu erwachen, ohne Licht zu machen noch die Augen auf, zum Waschtisch zu tappen und dann dazustehn und lechzend aus der vollen Karaffe … Ah, wahrlich, nicht unfroh bin ich, das bürgerliche Dasein kennen gelernt zu haben! Werde ich auch jemals den Geruch von Tabaksrauch aus den Kleidern und der getragenen Wäsche meines Berliner Schrankes vergessen, jenen abscheulichen Geruch, der mir in der Erinnerung heute die ganze Welt versüßt?

Viele behagliche Dinge fallen mir ein. Einmal begleitete ich Benno und seine Eltern in den Sommerferien in einen Badeort an der Ostsee, Zempin glaube ich, hieß es, und unvergeßlich blieben mir die stillen, sonneglühenden Nachmittage dort, wenn von allen Veranden und Balkonen das Klirren der beim Decken des Kaffeetisches in die Untertassen gelegten Löffel hörbar war, ein so wechselnd getöntes Klirren. Dazu unaufhörliches und eintöniges Hühnergegacker. An Hotelzimmer muß ich denken, wie sie auf einmal bewohnt aussehn, wenn eine geöffnete Handtasche darin steht und auf dem Tisch eine metallene Seifendose und die Kristallflaschen mit silbernen Deckeln liegen, und es riecht nach Juchten … Ein Abend im Schlößchen fällt mir ein: Virgo saß vor einer meiner Vitrinen in der Hocke, nahm jeden Gegenstand heraus und hielt ihn, selber im Schatten hockend, gegen das Licht hoch, Irisgläser, die persischen Federkästen, Porzellangruppen und was es nun war, fragte tausenderlei und erzählte kleine Schnurren. Eine behielt ich: wie sie als Kind zuweilen Kuchen stahl aus dem Korb im Büfett, hinterher aber für jedes Stück einen oder zwei Pfennige hinlegte. Sie nahm sie aus einem Portemonnaie von Perlmutter, so groß wie ein Auge …

Ja, vielleicht ist es gerade die Erinnerung und sie allein, die dergleichen Dinge wertvoll macht, die an sich nichtig sind. Sie sind es, an die man sich erinnern kann. Ich versuche, mir Stunden des Glücks oder des Schmerzes vorzustellen, Stunden der Leidenschaft, der Erhebung zurückzurufen, aber wie kann ich sie leibhaft machen, da mir in diesem Augenblick doch jenes Feuer, jener Odem fehlt, der sie damals beseelte? Aber die unspürbar leisen Rhythmen innerster Bewegung, der Stille, des abgeschiednen Beruhens, sie läßt das gelinde Aufpochen des Fingers wieder schwingen, und wir nehmen sie gerne auf.

Aber dies Bild, warum blieb es in mir haften? Ein sehr stiller Raum, sonnig bei geschlossenen Vorhängen, von dem ich übrigens nichts sehe, als daß er eben da ist. Ich sitze an einem Tisch, an der anstoßenden Seite kniet auf einem Stuhl Anna als kleines Mädchen, halb über der Platte liegend, und da steht ein Wasserglas und liegen weiße Bogen und jene wunderbaren kleinen Hefte voll mattfarbiger, undeutlicher Bildchen, die aneinanderhängen, – Abziehbilder, jawohl, so hießen sie, und Anna und ich mühten uns ab, die ins Wasser getauchten auf reinem Papier festzudrücken und – zu warten. Dies Warten war unmöglich! Immer wieder, mit unsäglicher Behutsamkeit mußte ein Zipfel angelüpft werden, und immer war es noch weiß darunter, es mußte mit dem Finger wieder Wasser daraufgetropft werden, der halbe Tisch schwamm, und dann – ja, wie kann ich nur meine eigne Haltung, meinen eignen Ausdruck gesehen haben, mit dem ich den eben abgelüpften Zipfel wieder andrücke und vor Anna so tue, als wäre alles in Ordnung, obgleich ich doch genau sah, daß ich die zarte, bunte, naßglänzende Haut darunter angerissen habe … Anna natürlich war die Geduld selber, und wenn sie einmal lüpfte, so kroch sie von oben fast unter das Papier; dabei stöhnte sie entsetzlich.

Und schon überfällt mich wieder ein andres: In der Geschwindigkeit eines Vorbeifahrens, über drei Stufen an einer Hausecke durch die offene Hälfte einer Tür aus geriffeltem Glase ein Blick in einen Bierschank: ein Stück von einem ungestrichenen Tisch, die blanken Messingkrahnen der Theke und dahinter das rote Gesicht des Wirts unter einem Öldruck der Kaiserin; er streift von einigen Biergläsern den Schaum mit einem kleinen Brett …

Wann in aller Welt sah ich das jemals? Und warum in aller Welt grub es sich in mein Gehirn?

 

Oh seltsame Wege der Nerven! Einen halben Tag lang bis zum Einschlafen verbrachte ich gestern mit Grübeln über jener Erinnerung, umsonst. Heut morgen fällt mir beim Anziehn ein – in der Stunde, wo man nichts denkt, und das Denken sich selbst überlassen wirkt –, daß ich in der Nacht von der armen Helene träumte, und sofort sehe ich mich auf der Fahrt nach Helenenruh an ihrem Todestag und habe jenen Blick in die Tür des Bierausschanks. Wie aber kam ich gestern darauf? Nun, ganz gewiß hat auch etwas in mir, während ich das von den Abziehbildern schrieb, an Helenenruh gedacht, an Helene und an ihren Tod.

Ich habe nun weiter über das eigenartige Walten des Erinnerungsvermögens nachgesonnen, und mir ist folgendes klar geworden:

In dem leider einzigen Gespräch, das ich mit Josef Montfort hatte, stellte er unter mehreren anderen die Behauptung auf, daß der Mensch nichts je Erlebtes vergäße und an alles, wenn er nur wollte, sich erinnern könnte. Indem ich hieran dachte, sah ich ihn mir gegenübersitzen, wie damals im Kaffeehaus; fiel mir sogleich die Erregung auf, in der ich mich damals beim Hören befand, und schon hielt ich wie in einer Phiole das Element, in das getaucht ein erlebtes Bild Erinnerungskraft behält, ohne eignes Willenszutun von uns: leidenschaftliche Erregung. Gleich machte ich einige Proben: Damals die angstvolle Erwartung auf der Fahrt nach Helenenruh bewahrte mir jenes Bild und noch manches andre vom Weg, der vorüberflog. Ich denke niemals an meinen Vater, ohne ihn in dem Augenblick am Vortage meines achtzehnten Geburtstages zu sehn, wo er meine Hand preßte und etwas in mich hineinsprach, das ich nie behielt, da ich ein Augenmensch bin. Die Straßen meines Schulweges, mein letztes Klassenpult, Fenster, Wände und Bilder des Klassenraums, alle tausendmal gesehn in der täglichen Angsterwartung, stehen vor mir, daß ich die kleinste Beschmutzung, die geringste Entstellung daran beschreiben könnte. Fast glaube ich, daß Angstgefühle und Zustände des unsicheren, angstvollen Wartens die stärkste Macht zum Einprägen von Gesichtsbildern besitzen; angstvolles Warten, wo wir im brennenden Verlangen nach der einen Gestalt tausend Dinge mit glühendem Stempel des Auges in uns pressen, nur weil wir sehen müssen um jeden Preis, die Augen festklammern müssen, fiebernd uns mit Dingen beschäftigen. So erscheinen mir doch immer, wenn ich Renates gedenke, nicht einmal ihre Züge, sondern die Akazienwipfel der Güntherstraße, im Laternenlicht halbverschattet die graue Stirnseite ihres Hauses und erleuchtete Fenster, von damals her, als ich dorthin lief, nur gepeinigt vom Verlangen ihrer Nähe. Ja, Angst und Erwartung sind es, die ohne unser bewußtes Zutun jenes Könnenwollen der Erinnerung Josef Montforts bewirken, nicht nachträglich, sondern vorwegwirkend, denn in solchen Zuständen wollen wir sehen, obschon nicht das, was wir sehen.

*

Noch immer im Lauf der Tage ab und zu mit Erinnerungsdingen beschäftigt, mir selber unvermerkt auf der Suche nach Zuständen der Erregtheit und Bildern daraus, und indem ich immer die Probe machte auf das erste, augenblicklich hervorschnellende Bild, dachte ich an meine Corpszeit, und siehe da, was stellt sich mir dar? Das Speibecken in der Toilette, freilich immer benutzt zu Zeiten übelster Peinigung. Verfluchtes Ding! Daß so das Sinnlose zur Einrichtung führen konnte! Saufen in der Gewißheit, in der Hoffnung sogar, das Gesoffene wieder von sich zu geben. Der deutsche Student, vorstellbar im Bilde von Münchhausens halbiertem Pferd.

Ich rettete mich in einen Ausblick auf Bogner, und gleich sah ich ihn in Renates Kapelle stehn, einen Arm gegen die Wand gestützt. Damals malte er seine Engel, ich war wieder einmal Renates Nähe zugerannt, wir hatten dann ein Gespräch in der Nacht, und – gewiß, wir sprachen auch vom Tode, den Tod brachte ich in irgendeine Verbindung mit der Liebe, und da sagte er: nein, das sei vorläufig nichts für ihn …

*

Heut sah ich Esthers Gespenst.

Ich ging auf breitem Ebbestrand. Das Meer war dunkel, bewegt, nicht stürmisch; der Himmel bewölkt und grau. Plötzlich läuft eine Fußspur vor mir auf, weibliche Füße, klein, etwas breit, und wie ich mich noch wundere über die seltene Erscheinung, muß ich erkennen, daß nach jedem dritten oder vierten Schritt der rechte Fuß leicht nach innen schlägt. Mir stand das Herz. Esther! dachte ich nur, folgte der Spur in einer unseligen Versunkenheit und – sehe sie in plötzlicher Biegung dem Wasser zu hineingehn und in den Wellen verschwinden.

Aus der Meerflut gekommen, mir erschienen, und wieder hineingegangen. Esther in dem rotvioletten Kleid, unschlüssig, traurig …

Es ist natürlich die Magd gewesen. Und sie ist nicht in die See gegangen, sondern nur dichter an den Wellen her, zur Zeit als die Ebbe noch tiefer war, und als ich kam, hatte die steigende Flut die Spur fortgenommen.

Doch was geht das mich an? Ich saß im Zimmer und sah wieder den feurigen Roteichenbaum jenseits des Grabens, selber neben Esther auf der Bank, in angstvoller Erwartung dessen, was ich tun sollte und nicht können würde, und Erscheinung löste sich aus Erscheinung …

Aber Esther selber entschwand bald. Die Zeit war zu lustig und hell für die nun so umflorte Gestalt. Noch einmal sah ich sie deutlich: ich selber stand auf dem kleinen Balkon vor dem Saal im Schlößchen, unten stand sie mit Herrn Vögeleins kleinem Neffen, warf seinen Ball zu mir herauf und ich ihn wieder hinunter, – noch glänzt mir ihr lächelnd erhobenes Gesicht. Dann sprang ich hinunter. Sie sagte: Nun ists genug, kommen Sie herunter! – und ich hatte die meines Wissens einzige Anwandlung von Tollkühnheit in meinem Leben und sprang ohne weiteres in die Tiefe, wobei ein Fuß leider zerbrach. Oh schöne Zeit, die mirs lohnte! Die Ferien standen nahe bevor, ich hätte nach Helenenruh fahren müssen, nun wars ein Vorwand zum Bleiben, ich konnte die langen Tage liegen und Besuche empfangen und Esther bei mir sitzen haben, und einmal sogar kam Renate. Leichteste Zeit! Um ins Haus Montfort gelangen zu können und nicht unprinzlich hüpfen zu müssen, ließ ich eine Hängematte außen mit violettem Samt, innen mit weißer Seide beziehn und durch die Ösen an beiden Enden eine vergoldete Stange schieben; dazu mietete ich zwei eben stellenlos gewordene Inder, Türsteher eines verkrachten Panoptikums, die mich zum Wagen und im Montfortschen Haus und Garten überall hintragen mußten. Das war einen Tag schön, dann standen sie überall im Wege, und ich gab das Ganze auf.

Eine Ansichtskarte fällt mir ein, die Renate oder Anna von Bogner und Ulrika bekam, als die Beiden einmal eine Reise machten. Darauf hatte er sie und sich abgebildet, wie sie auf einem Stuhl sitzt und ein Loch in seinem Strumpfhacken stopft, den er ihr, mit dem Rücken nach ihr vor ihr stehend, hinhält, mit der Umschrift: Sie wird mich in die Ferse stechen!

Halbe Nächte im Gespräch mit Sigurd und Benno über die ewigen Dinge. Leicht genug mögen sie gewesen sein, und wenn sie mir schon schwer waren, so war doch das Reden darüber zu leicht. Immer im Hintergrund aber, ob unsichtbar, war Esther, deren leises Eintreten ich immer erwartete, und kam es nicht oft?

Als wir einmal Alle beisammen waren, fragte jemand Jason, wie es eigentlich komme, daß er zu allen Frauen seiner Bekanntschaft Du sage. – Wie kommt es dann, fragte er hinwieder, daß sie es auch sagen, sobald ich es einmal getan habe? – Ach, ihr Männer, sagte er, da niemand eine Antwort hatte, zu meinem Zimmerofen sage ich auch Du, sind aber die Frauen nicht um vieles wärmender? Sie sagen gern wieder Du, wenn ich es sage.

Es ist immer viel mehr der Duft der Worte, den man wahrnimmt, wenn Jason spricht, als die Worte selbst, und ich glaube, Alle empfanden wie ich in jenem Augenblick, daß es kühl um uns war, daß wir uns Alle kühl waren, und vielleicht hätten wir eine Wahrheit entdeckt, wenn nicht einer von andern Dingen angefangen hätte, wie das immer zu sein pflegt, wenn Wahrheiten vor der Tür stehen.

Nun sehe ich Dora Vehm, – was ward aus ihr? – Ich sehe sie beim Krokett auf der Wiese, es war kein Spiel für Kinder, sondern lange, schwere Hämmer und wuchtige Kugeln. Sie aber schlug mit einer Kraft, Anmut und Sicherheit die großen Bälle weithin durch die Tore, gegen andre Kugeln, unaufhaltsam weiter ihres Wegs, daß es eine Wonne war, sie dabei zu sehn. Ihre Augen brannten, sie strahlte, ich sah Ägidi, der ruhig wie ich dabeistand, sie hatten jeder ihre Augen in der Gewalt.

Seltsam genug: für einen unernsten Menschen kann ich mich nicht halten, ich liebe die Schwermut vielleicht mehr, als daß ich sie habe, aber wie geht es zu, daß fast alle Erinnerungen heiter sind, die sich beschwören lassen? Noch heute fiel mir ein Fetzen Papier in die Hände, leserlich gekritzelt darauf:

Halbgöttinnen gehn am Gestade, – das stahlblaue Meer
Wirft Ketten von silbernen Fischen um ihre Füße.
Salzluft bereift der roten Lippen Süße,
Gewänder flattern farbig um sie her.

Das stammt aus den ersten Tagen meines Hierseins. Renate und Magda waren zu Bogner gekommen, es war ein warmer, sonniger Tag, ich stand oben auf meinem Turm mit dem eben gefundenen Handfernrohr und sah sie am Strande alle Vier, Renate, Magda, Ulrika und Cornelia. Sie hatten Schuh und Strümpfe ausgezogen, Renate und Ulrika Magda untergefaßt, Cornelia ging voran in einem lichtgelben Kleid, die drei Andern hatten allesamt weiße Kleidröcke und bunte, gestrickte Jacken, Renate eine burgunderrote, Magda eine grüne, Ulrika eine violette, und ich konnte durch das Fernrohr feststellen, daß nur die Renates und Ulrikas aus Seide waren, Magdas, stets bescheiden, war Kunstseide. Noch sehe ich die Drei im Rund meines Tubus unten stehn und zu mir heraufwinken, flatternd, farbig, lachend auf dem weißen Strand vor der dunklen Wogenwand von Blau, aus der die Welle, um ihre rosenen Füße leckend, kleine, silberblitzende Fische spülte …

Meine letzte farbige Erinnerung. – Allein warum behielt sich mir das Heitre so oft?

Ich schrieb es wohl neulich schon auf: An Schmerzliches kann allein die Vernunft sich erinnern; das Gefühl kann nicht nachschaffen aus Nichts, was damals erglühte, so geht der Vorgang selber unter, und es bleibt nur das optische Bild, um so leichter, je farbiger, je brennender es war.

Ja, nur die Bilder erscheinen, mondlich angestrahlt, seltsame Monde selber, abgeschieden vom Damals, wirkungslos …

Wenn die versunkene Stadt – in der Nacht der Erlösung – sich aus den fallenden Wassern erhebt, – tönen die Glocken wie vormals … Wandeln wie vormals die Straßen, – und die kindlichen Spiele – tun es wie je den Erwachsenen gleich.

Doch es blieb ein Vermächtnis – aus der versunkenen Jahre Gram – auf den seltsam alten – Gesichtern zurück. – Und es beleuchtet ein fremder Mond – Turm und Mauer und seltsam verschnörkeltes Dach;

Während rings aus dem riesigen Meere die alten – Gestirne steigen und wieder schaun, – was niemals altert. – – Wo keines Segels ernster Schatten, – kein Vogelflug nach der düsteren Ferne strebt.

Anders lächeln von Fenster und Tür – Mädchen auf Knaben, – und anders der Alten Schritt – über die steinernen Treppen und Höfe schallt.

Mädchen, die Sträuße tragen, – atmen befremdet den Duft, der von gestern erzählt …

Im Schweigen der Glocken – hören sie Alle – ängstlich und deutlich – das schwellende Dröhnen – der kommenden Flut.

*

Als ich heute an der offenen Türe des Kuhstalls vorüberging, fuhr ein unsichtbarer Arm mitten aus dem Mistgeruch auf mich zu, packte, schwang und stellte mich mit gewaltigem Schwung über mehr als drei Jahre hinweg auf den Helenenruher Wirtschaftshof, in einen Sommertag, in den Tag, wo ich meine Kindheit verlor.

Das weiß ich heut, daß ich sie damals verlor. Der Tag wars, wo Bogner gekommen war, wo das mit Jason geschah, wo ich nachts in Annas Zimmer war. – Noch sehe ich die gelben Orpingtonhühner auseinander stieben, sie erschraken vor Unkas, und da geht Unkas tappend auf die Tür seines Stalles zu, und ich selber stehe da und – ich vergaß, was ich dachte, aber – es scheint mir ein Vorspuk gewesen zu sein, ein Aufdämmern vor dem gänzlichen Erwachen. Das kam in der selben Nacht, da lag ich auf der Wiese am Parkrand, nicht weit von der Stelle, wo ich am Morgen gelegen hatte und zu mir gekommen war aus dem Sonnensieden wie aus brodelnder Geburt. Da lag ich am Boden und fühlte das Tragen der Erde, sonderlich heimatlos und kühl war mir zu Sinne, ich wußte – ja, was wußte ich wohl? Daß ich nun alles wußte, das wars.

Heiliges Kindheitsland, wo bist du? – Zurecht fallen die Verse mir jetzt ein, die ich in Helenes Mappe fand. Als ich sie dichtend empfand, da dichtete Erinnerung in mir, Erinnerung an jene Nachtstunde am Parkrand, wo ich mich erkannte, weil ich das Weib ›erkannt‹ hatte; wo meine Kindheit ein Ende nahm. Und doch, als ich diese Worte im Gedicht empfand, – wie dumpf noch, wie unwissend, wie nur abgehorcht einer unverständlichen Geisterstimme, und freilich echter vielleicht darum, echter gedichtet als das meiste sonst. Heute erst weiß ich ganz.

Unkas aber mit seinem tastenden Gang, die Hühner, die tafelnden Arbeiter im Hof: diese waren mein erster wacher Blick, meine erste Beobachtung. Während es dämmrig in mir selber blieb, begann ich Bilder in mich zu füllen unermüdlich, deren schillernde Buntheit mir das Innre magisch zu erhellen schien. Immer genügte die Anschauung, und sooft ich es selber sein mochte, an dem ich Beobachtungen machte, so genügten mir auch sie, und zu Erkenntnissen dehnte ich sie nicht aus. Auch das Bild Emmaus beobachtete ich wohl und verstand es ästhetisch genau, und mir selber in jener Nacht brannte das Herz vom Zuspät. Heut weiß ich seinen Sinn, heut, wo es zu spät geworden ist.

 

Doppelt erregt, von hundert Bildern seines vergangenen Lebens aus der Aufzählung der Erinnerungen, und von dem heftigen Gefühl, daß gleichwohl nicht er dies geschrieben habe, sondern ein Fremder, der erstaunlich viel von ihm wußte, schloß Georg aufatmend das Buch.

Nein, sagte er mit Entschlossenheit, ich bin das nicht mehr. Das ist ja schrecklich, diese Augenjagd nach Kleinem und Kleinstem, in der Aufzählung mit drangeknüpften Nutzanwendungen wie hier ja ganz reizvoll, aber war das der Zweck des Erlebens? – Und er sah sich selber herumfahren wie einen schillernden Argos mit zehntausend apokalyptischen Augen. Seine eigenen Augen gingen ihm über dabei, – aber jetzt, da er die Lider schloß, kam etwas aus dem Dunkel; eine dunkelblaue Brust im Anzug, Schlips und Kragen, und nun das Gesicht seines Vaters, Bart und Haar, Wangen und Brauen und endlich – Georg erbebte – auch der Blick der gestorbenen Augen. Alles dies aus der wirbelnden, einzig beglückenden Stunde am Vortage jenes achtzehnten Geburtstages, eingebrannt in die Luft, um ihm jahrelang immer wieder zu erscheinen. – – Im Nu war das wieder verschwunden, aber Georg, schmerzlich ihm nachblickend, während vor seinen wiedergeöffneten Augen Fenster und Dach erschienen, fragte sich schwer und gebunden: Deshalb? Deshalb das tausendfache Schaun, damit dies gesehen wurde und haftete?

Er wartete horchend, aber es kam nichts weiter, und er erhob sich nun hastig, ging ins Nebenzimmer, wo er mit Egons Hülfe, auf Umkleiden verzichtend, festere Stiefel und Gummimantel anzog, ergriff Hut und Schirm und eilte hinunter.


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