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Viertes Kapitel

Getümmel

Georg, in einer sonderbaren Dunkelheit, bestieg Unkas, der ungewöhnlich hoch und breit war, nämlich ein Elefant, ein brauner Elefant ohne sichtbaren Kopf für Georg von oben, und er wunderte sich flüchtig, daß er diesen gewaltigen Rücken mit den Schenkeln umspannen konnte, jedoch ging es bequem. Dann war es ein angenehmer Kitzel für ihn, zu spüren, wie folgsam und sicher das Ungetüm unter seinem leichten Schenkeldruck ging und Wendungen machte – denn er hatte keine Zügel – immer schön in ruhigem Trabe auf dem braunen Hufschlag an der Wand der dunklen Reitbahn herum, in der übrigens noch Andre, Undeutliche sich bewegten, Tiere und Menschen, und in der Mitte stand sein Vater im Frack mit vielen Orden auf der Brust und um den Hals, und es lächerte Georg, daß sein Vater auch die rote, weiß gewässerte Schärpe des Beuglenburgschen Hausordens umgelegt hatte, bloß weil sein Sohn ihn bekam. Nachgerade aber fing Georg an sich zu ärgern, daß sein Vater in einem fort mit Magda schäkerte, die ein langes, hellblaues Schleppkleid und Blumen im Haar trug, auch entzückend anzusehn war, – anstatt seine Reitkünste zu beachten, zumal der Elefant jetzt im Traben sich immer schräger nach der Mitte der Bahn neigte und wieder aufrichtete, ganz wie ein Segelboot, und nun merkte Georg auch, daß der Koloß nicht lief, sondern schwamm, seine Beine waren nicht mehr zu sehn in einem braunen Wasser, das an den Wänden der Bahn plätscherte und angenehmerweise Georgs hineinhängende Füße nicht naß machte, und nun schwammen sie durch die Tür in ein Zimmer, wo die Möbel vergnüglich umhertaumelten, Sessel, ein Sofa und ein Klavier, auf dem Benno saß, die Beine an sich gezogen, und nachdenklich sagte: Du hast es gut, Georg, aber was machst du, wenn die Überschwemmung bis an die Decke steigt? Benno sah eigentlich genau aus wie Ulrika Tregiorni, war es auch wohl in Wirklichkeit, Georg rief ihr zu, sie solle schnell hinter ihm aufsitzen, aber da war er schon wieder zu einer Tür hinaus und schwamm sachte ins Tal hinunter, auf ein schönes, rotes Dorf zu, wo in einer sonderbaren farbigen und düstern Luft dreifarbige Fahnen hingen, für deren sonderliche Tönung er lange keine Namen fand, bis sie ihm violett, grau und braun zu sein schienen. Da war er schon mitten im Dorf und stand auf einem der Dächer, aber nun war die Überschwemmung auch schon bis an die Dachkanten gestiegen, und wie er höher klettern wollte, so neigte sich das ganze Dach wie ein Tuch nach innen, er glitt weich und sehr angenehm zu Boden, dann gab es einen Ruck …

Georg riß heftig die Augen auf, starrte in blendende Luft, kniff die Lider wieder zusammen, öffnete sie langsam und hatte ein wehendes Haferfeld mit riesengroßen Halmen dicht vor sich, doch entfernte es sich langsam, die Halme nahmen natürliche Größe an, eine tiefe, grabenartige, braune Furche war davor, in der seine Füße standen, und er saß mit vornüberhängendem Leibe in etwas Grünem, Moos und Grashalmen; über ihm waren Zweige, die Sonne schien grell und glühend, dunstig golden in allen Tiefen lagerte die Ebene.

Müde, schläfrig, mit langsamen Gedanken kehrte Georg zu sich zurück. Wie? Er hatte sich ein wenig ausruhen wollen, weil Renate sich doch erst umkleiden mußte … Aber was? Vorher kam doch erst der Lauf des Schimmels … Nach der Uhr tastend, bemerkte er mit ängstlichem Mißtrauen die Stille umher und dann, die Uhr in der Hand, daß Arena und Tribünen in der Tiefe völlig leer waren. Die Uhrzeiger standen vor drei Viertel und eins. Noch gelähmt entdeckte er ein paar Schritte weit rechts, vorn im Haferfeld, den vermummten Unkas, das Maul still in der Luft, aus dem lange Halme mit ihren Wurzeln nach allen Seiten hingen. Georg fuhr zusammen, in jäher Angst ward ihm klar, daß um ein Uhr der Festzug begann, er hatte geschlafen, geschla– – Er sprang in rasender Wut und Angst auf, zu Unkas hin, suchte mit flatternden Händen die Verschlüsse der Decke, brachte mit unsäglicher Mühe eine nach der andern der neuen, harten Schnallen auf, riß die Decken zu Boden, war im Sattel. Unkas drehte sich unter Zügelriß und Absatz, Georg zerrte ihm wutschnaubend den Hafer aus den Zähnen, dann brach er durch Gestrüpp und Unterholz in den Wald ein, ins Freie der steilen Böschung und Buchenstämme. Den stürzenden Gaul konnte er noch eben hochreißen, dann zwang er ihn in schräger Linie den Abhang hinunter, der linke Vorderfuß trat zweimal, dreimal ins Leere, ehe er Boden fand, dann brach Unkas vorne nieder und stürzte um. Georg gelang es, den Fuß aus dem Bügel zu nehmen, ehe er gegen einen Baumstamm flog, mit der Stirn so kräftig anknallend, daß er schrie, Funken und Sterne spritzen sah und einen Augenblick, halb gelähmt, schmerzzerrissen, an dem Baum hing, auf den er in tobendem Grimm mit Fäusten hätte einhämmern mögen. Betäubt nach Unkas blickend, sah er ihn geduldig auf dem Rücken liegen, kletterte etwas tiefer, redete ihm gut zu, haschte nach dem Zügel, Unkas wälzte sich, schlug mit allen vieren um sich, kam auf die Vorderfüße, sprang auf und schüttelte sich. Georg reinigte ihn und sich obenhin von Moos, Zweigen und welken Blättern und zog ihn hinter sich den Abhang hinunter, durch Haselgesträuch ins Freie und saß auf.

Danach hielt er lange Sekunden in völliger Lähmung. War dies wirklich? fragte er sich entsetzt. Was war mit ihm vorgegangen? Wie hatte er schlafen können? Und wie war ihm jetzt elend zumut! Gott im Himmel, war die strahlende Ausgelassenheit am Morgen nicht ein Wahnsinn gewesen, Unnatur, Wahnsinn?

Gleich rechts lief der Feldweg gegen die offene Schranke und die Landstraße; Georg, jetzt fast besinnungslos vor würgender Angst, zu spät zu kommen, klemmte die Schenkel an, da streckte sich Unkas, und weinend vor Rührung empfand Georg im Davonjagen: Zwölf Jahre, alter Unkas, zwölf Jahre hast du mich getragen, du fühlst, was ich fühle … da waren sie in spritzendem Bogen unter der Schranke weg um den Baum auf dem Reitweg der Landstraße. Georg lachte vor Angst, als er unter sich die wirbelnden Vorderbeine und Hufe des Pferdes sah, die Bäume flogen vorüber, ach, es ging längst noch nicht schnell genug, er legte sich, so lang er war, über den Pferderücken, am weitausgestreckten Arm die Hand unter der grunzenden Kehle, die er liebkoste unter weinendem Stammeln: Gott segne Napoleon, Gott segne den verfluchten Kaiser der Franzosen, der die Straße so breit gemacht hat, daß es Reitwege giebt! lauf Unkas, bitte, schneller, lieber Unkas, schneller, viel schneller! Lauf! lauf! du sollst bis ans Lebensende goldenen Hafer aus marmorner … großer Gott, das steht ja in alten Kindergeschichten! Und nun sah er den Festzug, den Elefantenwagen und Renate, Alle warteten, der Festzug bewegte sich schon, da kam er angestürzt, – um Himmels willen, die ganze Straße war versperrt von bunten Menschen, Planwagen, Kindern, und heraus ragten die dunklen Oberkörper einer ganzen Beuglenburgischen Schwadron. Er schäumte vor Wut, riß das Pferd zurück, jagte es zwischen den Bäumen durch in den trocknen Graben und stob weiter, unter den Zweigen her, die an ihm rissen, Unkas lag unter fortwährendem Stolpern fast mehr auf der Erde, als er lief, endlich war die Straße wieder frei, der Wallach erlangte sie von selber mit einem Satz und arbeitete sich wieder auf dem Reitweg dahin, während Georgs rechte Kniescheibe wie Feuer brannte vom Anprall an den Apfelbaum. Ein gelber Kerl, der vor ihm hintrottete, warf auf Georgs Wutschrei die Arme hoch und taumelte zur Seite, aber gleich darauf war er verfitzt in ein Getümmel von Reitern, die entsetzlich langsam dahintrabten, auf seinen Anruf sich unwillig und langsam umdrehten, dann aber, als sie sein Gesicht sahen, schleunig auseinanderwichen, ebenso die nächsten, denn sie schrien hinter Georg her: Achtung! der Großherzog! – Großherzog, es war zum Totlachen und die ganze Straße querüber vermauert mit grellbunten Fußgängern. Georg wollte und mußte hindurch, schrie, so laut er konnte: »Platz! Platz für den Großherzog!« Zweie vor ihm sprangen zur Seite auseinander, die Andern drehten sich um, sahn ihn, sprangen seitwärts, schrien, es gab eine Gasse, und links war Bennos erschrecktes Gesicht. Georg nickte ihm im Vorübertraben zu und fragte angstvoll: »Wie spät ist es?« Eine Stimme schrie hinter ihm: »Gleich zwei!« dann noch mehrere durcheinander: »Dreiviertel! Zwei! Gleich zwei!« Georg hielt, riß die Uhr heraus, sie zeigte unwandelbar drei Viertel eins.

Ich habe sie nicht aufgezogen in der verwünschten Nacht, murmelte Georg fassungslos im Weitertraben. Die Leute standen überall und sahn ihn an, er bemerkte, daß er dicht vor der Stadt war, ritt langsam weiter, begriff, daß der Zug um zwei Uhr am Rathaus sein sollte, – also dorthin! aber wie kam er durch die Stadt? – Nun waren da Häuser, er kam nur noch im Schritt vorwärts, Gott sei gelobt, da glänzte der weiße Zylinder eines Taxameterkutschers, der auf Georgs Anruf sofort nach Zügeln und Peitsche griff. Georg stieg ab, ein Mann hielt dienstfertig das Pferd, Georg griff in die Tasche, gab ihm, was er faßte, und fragte ihn, ob er das Pferd zum Schlosse bringen wollte, worauf sich von allen Seiten Hände streckten. Er lachte, nickte ihnen verloren zu und sprang in den Wagen, keuchend: »Zum Rathaus, so schnell wie möglich, durch leere Straßen!« Völlig verschlagenen Atems, legte er sich in eine Ecke und schloß die Augen. Sein linker Augenbuckel schmerzte, hinfassend fühlte er die Geschwulst, das war ja reizend! Zuckend an allen lahmen Gliedern, hätte er auf der Erde liegen mögen, so lang er war, aber er fuhr wieder hoch, erkannte, daß er durch leere, verlassene, düsterrote Straßen fuhr, saß nun vornübergebeugt, die Uhr in der Hand, zog sie auf und stellte die Zeiger auf fünf Minuten vor zwei. Ich komme ja doch zu spät, murmelte er matt. Und nun ging es endlos durch Straßen und Straßen, breite und schmale, über einen kleinen stillen Schmuckplatz, über eine Brücke, und wieder Straßen und Straßen. Er las alle Schilder über den Läden, die Reklamen, Straßenweiser … Rackows Handelsakademie stand da. Kramläden zögerten vorüber, zeigten alles, Bilder von roten Kindern und Katzen mit Kakes, Packete, aufrecht stehend, mit Kakao, Schüsseln voll Erbsen und Linsen, Lindener Warenhaus stand über einem kleinen Weißzeugladen voll Frauenwäsche, Packen länglich aufgerollter Langettenkanten und Anordnungen von Weißknöpfen auf blauen Papptäfelchen, aufgehäuft. Er sah in den Spiegelscheiben, in den dunklen Parterrefenstern zwischen Blumen und schwärzlichen Gardinen dunkel sein Gesicht im Vorbeiziehn, das Weiß und Grün seines Anzugs, versuchte, auch die Beule zu sehn, und bemerkte, daß er sich in der schwarzen Hälfte des Fahrtmessers spiegeln konnte. Gottlob, es war nur ein roter Fleck zu sehn, die Beule fühlte sich wohl nur so stark an, weil der Augenbuckel unter der Schwellung war. Auf einer breiten Straße mit Baumreihen in der Mitte hinrasselnd, durch Menschen, elektrische Bahnen, setzte er sich wieder in die Ecke und stützte den Kopf in die Hand, um nicht gesehen zu werden, in seinem Schädel war eine Feuersbrunst, aus der es zuckte. Niemals endete diese Fahrt, nun warf ihn der Wagen schüttelnd, aus einem Bahngleis gerissen, hin und her, dann gings um die Ecke, in eine schmale, einsame Straße, ein Überdach war rechts, das Deutsche Theater, Gottlob, nun kam die Altstadt, es ging wieder um eine Ecke, ein blauer Zettel klebte daran, halb zerrissen, mit großen schwarzen Lettern: Wählt Plate! – Wieder um eine Ecke, vorbei an rundgebogenen Eckläden voll von Anzügen, alten Büchern, Harmonikas und nebeneinander aufgereihten Revolvern an einer Schnur; der Wagen rollte schneller auf Asphalt, aber die Zeiger der wahllos gestellten Uhr waren schon über zwei und zwölf, ich komme nie hinein! stöhnte Georg, und sofort darauf sagte eine Stimme: Sie kommen nicht hinein …

Georg starrte. Da saß Josef Montfort an einem Kaffeehaustisch und sagte: Sie kommen … Josef von Montfort, dieser Scharlatan, heute nacht war er bei mir, er legte mir damals meinen Traum aus, vor drei Jahren, ach, es ist zum Tollwerden, zum Tollwerden … Georg sah sich und die Droschke, Pferd und Kutscher wellig in den großen Spiegelscheiben des Warenhauses dahinziehn, dämmrig, vermischt mit Herrenhemden und Spazierstöcken, nun mit Kleiderstoffen, die in Stürzen von Stöcken fielen, nun mit Pyramiden und Säulen von Konservendosen, dann wurde er rechts um die Ecke geschüttelt und sah vor sich die Straße vollgepfropft mit Menschen. Ein Stück noch ging es weiter, er stand schon im Wagen, drückte dem Kutscher etwas in die Hand, sprang hinaus und versuchte, sich durchzudrängen. Dies war eine Lage zum Rasendwerden. Da war er mitten unterm Volk, im Theaterkostüm, so mußte es kommen: – Na, na! junger Mann! sagte jemand, aber da war ein Schutzmann, er erkannte ihn, nun gab es entsetzliches Aufsehn, aber er kam durch, plötzlich war da der leere Platz, Georg zitterte und jauchzte, lief die Straße hinunter, am Fuß des Domes vorüber, da war das Lutherdenkmal, da die Seitentreppen zur kleinen Empore, sie war leer, Männer in Fräcken wollten auf ihn eindringen und prallten in der Luft zurück, er sprang die Stufen hinauf, und Renate wandte sich nach ihm um aus einer Gruppe …

Verspätung

Jetzt, dachte Georg, auf Renate zuschreitend, die lächelte, jetzt ist der Augenblick da, wo es nur mich giebt, mich allein und sie, keinen Großherzog, kein Drum und Draußen, nur meinen Willen und mein Handeln. – Renate raffte ihr Gesicht aus der Müdigkeit mit einem erfreuten Lächeln auf, streckte ihm die Hand entgegen und fragte: »Nun?« Er faßte sie, da standen überall Menschen, aber dort war das Innere eines kleinen Zimmers durch die offene Tür sichtbar, und er sagte heiser, sich räuspernd: »Bitte, kommen Sie dort hinein«, und zog sie mit sich.

Renate fragte sich, ob etwas geschehen sei, das er ihr allein mitteilen wollte; Georg sah gradeaus, während ihm Anfänge über Anfänge durch den Kopf schossen: Ich bin zwar erst zur Hälfte Großher– – wie dumm! – Renate, heute morgen habe ich vor Ihnen gekniet, aber … Er fühlte sich kalt vor Angst, da waren sie in dem Zimmer, er stand vor ihr, wollte sagen: Renate, seit drei Jahren … brachte auch dies nicht heraus, keuchte … Renate wurde ängstlich vor seinen Augen; das eine war kleiner als das andre, ein roter Fleck darüber; da wußte sie schon alles, brachte es nicht fertig, es wirklich zu wissen, aber als Georg nun sagte: »Renate …« flog sie furchtbar erschrocken auf ihn zu und drückte die linke Hand auf seinen Mund.

Er ergriff taumlig ihr Handgelenk, die Augen fielen ihm zu, da merkte sie, daß er ihre Handfläche küßte, daß er ihre Gebärde falsch verstanden hatte, aber als sie jetzt an seinen Vater dachte, konnte sie sich nicht bergen vor einem unwiderstehlichen Lachgefühl, das sie lächeln machte, und sie senkte den Kopf und stotterte ganz ratlos und beschämt: »Lieber Junge, du kommst ja zu spät …«

Durch Georg zischte ein blendender Schwerthieb. Er riß die Augen auf, starrte sie verständnislos an und hörte sie sagen, während ihre Mundwinkel zuckten, immer heftiger zuckten und die Augen glänzten und funkelten: »Dein Vater war heut morgen schon …«

Renate konnte nicht mehr an sich halten, drehte sich um und stopfte sich die ganze Mundhöhle mit den Mantelfalten aus, um nicht zu lachen, aber auch das half nichts, mein Gott, was sollte das nur? ihre Nerven, die Aufregung … sie erstickte beinah, riß die Seide wieder aus den Zähnen und brach in ein so erschütterndes, endloses Lachen aus, daß sie sich auf einen Sessel werfen mußte, die Stirn auf der Lehne, gestoßen und geschüttelt vom Lachkrampf.

Leer stand Georg da. Fenster, so, Fenster … Eins, zwei, drei … Andersherum: Eins – zwei – drei –. Gotische Bögen. Renate lachte und lachte. Wie? Dein Vater war … Im Munde hatte er noch das Beseligende und den ganz leisen Salzgeschmack ihres Handballens, und noch zuckte und zitterte sein Herz von der schwellenden Trunkenheit ihrer Berührung. Vater! dachte er endlich. Ja, ja, – ja, freilich, so etwas denkt man wohl nie von seinen Vätern. Wie gut, daß er doch nicht mein Vater ist … Warum gut? – Nun Haltung! sagte er sich fast bewußtlos, merkend, daß er schwankte. Renate lachte noch immer. Einen Augenblick lang empfand er Hohn und sagte vor sich hin: Nur die Ruhe kann es machen! dann durchflammte ihn der Ingrimm auf diese alberne Redensart.

Renate hatte sich endlich erholt, fand ihr Taschentuch, trocknete sich die Augen, schneuzte sich, lachte noch einmal schluchzend auf, nahm sich zusammen und stand auf. Da sie Georg mit gesenktem Kopf vor sich hinstarren sah, ging sie leise auf ihn zu, legte eine Hand auf seine Schulter und wollte sagen: Lieber Georg … Aber er zuckte vor ihrer Berührung zurück, trat seitwärts, biß die Zähne zusammen, sagte sich: Jetzt nur Haltung! senkte den Kopf und brachte leise hervor: »Verzeihen Sie, Renate, ich konnte nicht wissen …«

Nun streckte sie die Hand aus, er legte die seine zögernd hinein, Renate durchzuckte es, daß dies doch böse war, für später, was sollte daraus werden? Georg zog still ihre Hand nach vorn, indem er sich etwas drehte, so daß ihr rechter Arm in seinen linken zu liegen kam, und führte sie hinaus.

Dann standen sie auf der Freitreppe, die Musik spielte Tusch, es regnete Blumen, die Menge war außer sich. Georg lächelte und winkte, Renate hielt sich zurück, neigte ein, zweimal den Kopf und ging schnell wieder in den Saal, indem sie bedachte, daß mindestens die Hälfte dieser Menschen sich jetzt etwas Verkehrtes einbildete. Dann ging auch Georg in den Saal zurück. Er fragte irgend jemand, ob ein Wagen da sei, ging mit außerordentlich leichten und freien Gliedern die Treppen hinunter, fand ein Automobil in einem Kreise von Menschen, welche die Hüte schwangen und Hurra schrieen, stieg ein, setzte sich zurück, winkte, lächelte und fuhr davon.

Unterwegs sah er nach der Uhr. Es war noch nicht halb drei. Um halb war er zuhause, um halb vier mußte er auf dem Bahnhof sein und Prinz Adelbert empfangen, um vier Eidesleistung der Stände, Umkleiden, Uniform und Vereidigung des Füsilierregiments Großherzog in Stellvertretung der Armee, dann Paroleausgabe, es konnte halb sechs werden. Um sieben Galatafel im Schloß, große Cour, Défilée, um neun Anfang des Balles in der Universität, Terrasse, Gärten, Masken … Illumination und offizielle Huldigung … Wozu das alles? Renates Gesicht erschien, er schluchzte trocken … Niemals – niemals – niemals … Und sie würde die Frau seines Vaters … Herrgott, was soll das werden? Das war niemals zu ertragen. Er legte das Gesicht in die Hände, ihm war, als ob er weinte, aber er weinte nicht. Gelacht hatte sie, krampfartig gelacht. Ja, es war wohl sehr komisch. Um halb neun war ich bei ihr, dachte er nüchtern, und Vater – oh Vater war der Mann der Tat und stand früh auf. Warum hatte er übrigens bis heute gewartet, und warum nicht bis morgen? – Niemals – niemals –. Ihm brannte die Brust, er fühlte sich matt und elend. Dieser wahnsinnige Ritt. Ich komme nicht hinein, dachte er, Montfort hat recht in jeder Beziehung.

Heimkehr

Vor der Tür des Schlößchens erwarteten ihn zwei unbekannte Lakaien, die er wegschickte. Seine Zimmer sahen ihn fremd an und fürchterlich unnütz. Er ging durch das Schlafzimmer ins Badezimmer, holte das Schlüsselbund hervor und öffnete das heimliche Gemach. Schön dämmrig lag es in der Nachmittagssonne, die breite goldene Dämme durch die Fenstervorhänge hineinstellte. Still, sehr schön, edel – trotz Cora – stand das wolkige Himmelbett. Er dachte: Ja, Cora war darin, so konnte es wohl nichts werden … und fiel vor dem Kopfkissen auf die Knie, legte die Stirn auf den Bettrand und verlor sich. Er sprang wieder auf und ließ sich rücklings auf das Weiche hinfallen, lag ausgestreckt, dankbar für die Wohltat des Ruhens. Da schrillte fern im Zimmer das Telephon, aber erst, da es gar nicht wieder aufhören zu wollen schien, entschloß er sich aufzustehn, ging hin und nahm den Hörer ans Ohr. Er wollte sagen: Prinz Trassenberg, – aber – nein, Großherzog war er ja noch immer nicht ganz, so sagte er nur wie Birnbaum: »Ja?«

Eine Männerstimme fragte: »Hoheit?«

»Ja.«

»Zwillinge!« schrie die Stimme Schleys so fürchterlich laut, daß ihm das Ohr schmerzte, »Zwillinge! Zwei Sozialisten!«

Georg begriff Augenblicke lang gar nichts, dann entfuhr es ihm: »Was? Virgo? deine Frau? Donnerwetter!«

Schley drüben schien zu lachen, rief dann: »Ich glaube, Hoheit, du bist der elfte, der Donnerwetter sagt, das scheint bei Zwillingen das einzig Mögliche.«

Georg wußte nicht, was er denken sollte. Der Begriff Zwillinge verdeckte für den Augenblick alles, er konnte nur fragen: »Und Virgo?« wobei er nun denken mußte: Dieser Name – und Zwillinge …

»Danke, vortrefflich,« hörte er Schley sagen, »ein wenig sehr matt, aber sie ist immerhin im besten Alter, – freilich, als der zweite heraus war, bin ich dem Tode fast so nah gewesen wie sie, ohne mich brüsten zu wollen, – stell dir vor! Ich war am Ohnmächtigwerden vor Wut. So ein kleiner Mensch wie sie und in Stücke gerissen …«

Georg schauderte plötzlich; er sah zwei unflätige Riesen, und Virgo im Bett, schreiend, sich wälzend, und die Riesen zerrten an ihren Beinen … Er schüttelte sich.

»Ich habe geflucht und gebetet,« sagte Schley, »und der Arzt, es war zum Tollwerden, er tat wie ein Athlet, der seine Tochter Kunststücke machen läßt und lacht, wie gut sie's kann. Aber nun stehn die Namen wenigstens fest.«

Georg erinnerte sich der unzähligen Verhandlungen über die Namensfrage, und wie Virgos Mann sich erbost hatte, daß ein Junge Georg, ein Mädchen Georgine heißen sollte.

»Nun?« fragte er. »Ja, weißt du,« hörte er Schley kleinlaut sagen, »beim ersten schrie sie immerfort: Georg! …« Georg zuckte das Herz. Da hatte sie gelegen und seinen Namen geschrien … Und er, wo war er? – »Beim zweiten«, fuhr ihr Mann muntrer fort, »sagte sie gar nichts, da knirschte sie nur, aber als ich dann ins Zimmer durfte, sagte sie nur: Wolf … – mit ihrer tiefen Stimme, und wie sie dalag –« Georg sah sie daliegen, sah die übermenschlich groß gewordenen braunen Augen unter dem knabenhaften Haarbusch im kleinen, weißen Gesicht – »und mich ansah,« sagte Schley, »ja, – da bin ich umgefallen …« Seine Stimme zitterte heiser. »In meinem Leben habe ich nicht so geweint«, sagte er.

Sie schwiegen Beide. In Georgs Gehör brach Gesang auf, die Glucksche Melodie: Ach ich ha–be sie – verlo–o–ren …

»Also heißen sie Georg und Wolfgang«, sagte Schley.

»Hoffentlich«, meinte Georg matt, »kann man sie unterscheiden.«

»Na, vorläufig ist nicht dran zu denken, einer wie der andre ist eine rote Zuckerrübe mit einem schwarzen Busch auf dem Kopf, ich weiß längst nicht mehr, wer Georg und wer Wolfgang ist, die Hebamme ist der einzige Zeuge, und Virgo will ja nun durchaus, daß dem Georg ihr einer Ohrring, der kleine goldene, eingeklemmt wird, und ob du einverstanden wärst?«

Ja, Georg war einverstanden. »Und bitte: tausend Grüße, und wenn ich nur einen Augenblick heute frei hätte, so käme ich.«

»Ja, höre, Georg, noch etwas –« sagte Schley, »hast du meinen Schwager getroffen?« Georg verneinte. »Er wollte dich treffen und ging schon früh fort; er hatte kein Kostüm und wollte sehn, daß er noch eins bekäme, er müßte dich heute noch sprechen. Zurückgekommen ist er nicht, auch nicht zum Essen, aber er hat angeläutet – ich war grade in die Apotheke hinüber – und hat sagen lassen, falls ich erführe, wann du Zeit für ihn hättest – er würde wieder anrufen …«

Georg dachte nach. Halb vier, fünf, – »Ja, zwischen sechs und sieben wäre es möglich«, sagte er.

»Schön, zwischen sechs und sieben! ich habe leider keine Ahnung, um was es sich handeln mag. Adieu, Hoheit! Wie fühlst du dich denn? Der Festzug soll ja großartig …«

»Ja, es war schade, daß ihr gar nichts zu sehn bekamt. Also leb wohl, leb wohl!«

»Adieu, Georg!«

Georg legte langsam den Hörer nieder und glitt in den Armstuhl zurück. Die Sonne, die den ganzen Schreibtisch vor ihm bedeckte, blendete seine Augen, er setzte sich zurück, beschattete die Augen, den Ellbogen aufstützend, und sah, undeutlich hinterm blitzenden Glase, Virgos Photographie, während es durch ihn hinsang: All mein Glück – ist nun – dahi – in … Esthers Bild nahm ich fort, dachte er, ich gab Esther für Renate, ich gab Virgo für Renate. Esther starb, und Virgo bekam Zwillinge. Sonderbar, man sagt doch immer: bekam, obgleich eigentlich … Freilich, ich gab sie nie ganz, und infolgedessen legte Renate sich über den Stuhl und bekam einen Lachkrampf. Kann man das so aufreihn: Bekam Lachkrampf, bekam Zwillinge, bekam Tod … Schwer und verdumpft fühlte er seine Brust, er sah Renate, auf dem silbernen Pferde ganz klein am Fuß des Dammes, wie sie in die Arena ritt, dann ihr Profil unterm Thronhimmel … Immer wieder kehrst du, Melancholie … hörte er sagen. Von wem war das noch? Von Trakl, zuerst hörte ich es von Josef, oh ich weiß noch, in der Droschke, als wir zu Lenusch fuhren, und Cornelia Ring, – Cordelia … An seinen Lippen brannte plötzlich Renates Hand, er schmeckte ihre Haut, Tränen schossen ihm in die Augen, – oh nicht weinen! sagte er sanftmütig. Ich war ja glücklich heut, oh wie war ich glücklich! Es war ein Rausch, ich glaube, es war im Grunde ganz unnatürlich. Ja, sehr – denn wie konnte ich so tief und lange schlafen am Waldrand? Was ist hier nicht in Ordnung? fragte er scharf, sich vorsetzend.

Ach, ich ha–be sie … Die kleine Uhr vor ihm schlug dreimal hell, er sah die Zeiger auf drei Uhr stehn. Schwerfällig stand er auf. Nun also Haltung! mahnte er sich und kam nicht weiter. Alles schien grau. Nur die Sonne brannte und brannte. Die Farbe Renate erlosch, und – richtig, sagte Georg, alles kam, wie es kommen mußte, sagt Georg Hermann; wer Renate will, hat allein sie zu wollen. Wer Renate will, hat allein sie zu wollen. Wer Renate will … Wer Renate will … Jählings faltete er die Hände, seine Lippen zitterten, das Weinen stieg ihm in die Kehle, er wand sich, die Knie sanken ihm ein, er flüsterte: Renate, Gott im Himmel, Renate, ich kann ja nicht, oh mein Gott, ich kann ja nicht! Dann schüttelte er sich barsch, ging zur Wand und drückte auf den Klingelknopf. Er schwankte, sein Kopf fiel vornüber, er stand, den Arm gegen die Klingel gestemmt, als der Lakai eintrat. Drei Sekunden hatte er verständnislos ein uralt scheinendes, faltiges, gütig aussehendes Gesicht über einer grünen Livree vor sich, dann dachte er langsam: Ach so! es geht ja weiter, immer weiter …

»Wie heißen Sie?« fragte er leise.

»Albert Neffe, königliche Hoheit«, sagte eine farblose Stimme. Das Wort königliche Hoheit machte Georg sonderbar hochgehn. Er gab dem alten Manne die Hand und sagte, unfähig, laut zu sprechen:

»Gut, Albert. Sie sind ein alter Mann. Ich verlange nicht viel. Sie erfahren meine Gewohnheiten von Egon. Ich pflege alles allein zu tun. Heut können Sie mir helfen. Also hurtig!«

Er lächelte. Als der Kammerdiener ihm den Rücken drehte, fragte er ihm nach: »Wie alt sind Sie?«

Der Alte drehte sich und stand still, Georg sah seine weißen Strümpfe und hörte ihn sagen: »Königliche Hoheit, zweiundfünfzig.«

»Na, da sind Sie ja noch ein ganz junger Mann!« Der Diener lächelte gütig, aber dabei ward eine Zahnlücke im linken Mundwinkel sichtbar, und im Augenblick erschien hinter dem ersten, faltig vornehmen ein ganz anderes Gesicht, das heimlich kümmerliche eines gewöhnlichen alten Mannes. – Er verschwand im Schlafzimmer.

Merkwürdig, dachte Georg, was es für Menschen giebt! Der sah erst aus, als ob er die Livree auch nachts nicht auszöge, auch nicht im Traum. Er war ja nur Gesicht, alles Übrige waren Leib und Beine, ausgestopft und nur – Stütze. Sowas lebt auch. Tante Henriettes Mann sieht aufs Haar so aus wie er, – und eigentlich ists auch kein Gesicht mehr, es sind nur – – Er fand nicht, was es war, verlor Zusammenhang und Gedanken. Das macht die Gewohnheit, sagte er mit jäher Erkenntnis, ja die Gewohnheit … Er fuhr heftig zusammen. Dann richtete er sich auf und ging schnell, aufrecht und ganz blind ins Schlafzimmer.


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